Die treue Seele
Zaghaft beugte er sich nach unten, um die Blumen, die er fest mit beiden Händen umschloss, auf das Grab zu legen. Mitten in den weißen Schnee legte er die roten Rosen der Liebe, die er sorgfältig und mit fast peinlicher Hingabe beim Floristen ausgesucht hatte.
Dort ruhte sie nun…. Schon vor ein paar Tagen hatte sie all ihre Kraft verloren. Er dachte an die Zeit mit ihr zurück, während er das Gefühl hatte, dass ihm Tränen über die Wangen laufen…. Er dachte an all die Jahre, in denen er versucht hatte, sie zu schützen. Er dachte an all die Momente, in denen er im Einklang mit ihr war. In denen er sich ohne Worte mit ihr verstand und auch immer wieder den direkten Weg zu ihr fand.
Er dachte an die Zeiten, in denen es reichte, ihr ein heißes Bad mit Lavendelduft zu gönnen, um sie zu verwöhnen. Er dachte an die Momente, in denen er ihr mit einem guten Buch, einer milden Zigarre und einem schönen Glas Rotwein eine Freude machen konnte.
Doch er dachte auch an die Zeit, in der sie verletzt wurde. Es gab nicht viele Menschen in ihrem relativ kurzen Leben, die Rücksicht auf ihre Zerbrechlichkeit genommen hatten.
Einige Menschen hatten ihr gut getan, waren regelrecht Balsam für sie. Doch andere wollten ihr Böses. Sie taten ihr weh, indem sie ihr Liebe verweigerten oder ihr aber erst Liebe gaben um sie ihr dann wieder wegzunehmen. Auch Worte und Gesten verletzten sie oft. Niemand sah, dass sie so ein großer Teil von ihm war, wenn nicht der wichtigste Teil in seinem Leben überhaupt. Ein Teil, von dem er glaubte, nicht ohne ihn leben zu können.
Er hatte sein ganzes Leben lang versucht, sie zu schützen. Hatte versucht, eine Mauer um sie herum zu bauen, die sie vor jeglichen Anschlägen abschirmen sollte. Eine zeitlang hatte er es auch geschafft, nichts mehr an sie ranzulassen. Allerdings kam irgendwann die Zeit, in der ihr auch nichts Gutes mehr zugetan werden konnte.
Im Laufe der Jahre kam dann irgendwann die Zeit, in der er das Gefühl hatte, sie wäre zu Stein geworden. Nichts konnte man ihr mehr antun. Bis er merkte, dass nicht mal er selber sie noch erreichen konnte. Er suchte sie überall, doch dort, wo er sie sonst immer gefunden hatte, war nur noch Leblosigkeit zu finden und er erkannte, dass sie gar nicht mehr lebte. Sie war gestorben, während er auch weiterhin atmen konnte.
Das war vor ein paar Tagen geschehen und seitdem lag sie nun in dem einsamen, verlassenen Grab in der klirrenden Kälte, in der sich nichts mehr regte. Auch wenn er vorhin noch glaubte, Tränen auf seinen Wangen zu spüren, so war da nichts mehr außer der Erinnerung an solche Tränen. Er wandte sich langsam von ihrem Grab ab, um sie zu verlassen. Er entfernte sich schleppend, schwer und träge und sein heißer Atem stieß helle, kleine Wölkchen in die klare Winterluft.
„Warte“…. Er meinte, sich die Stimme nur einzubilden, die hinter ihm erklang. Er hatte in der ganzen Zeit, in der er dort gestanden hatte, niemanden gesehen. Vorsichtig drehte er sich um.
Die Rosen waren beiseite geräumt und er sah ein kleines Loch im Schnee. Verwundert blieb er stehen. „Warte“… noch einmal erklang dieses Wort in der hellsten und glockenklarsten Stimme, die er je gehört hatte. „Komm etwas näher“, sagte die Stimme.
Mit klopfendem Herzen und trockenem Mund setzte er, wie von Geisterhand geführt, einen Fuß vor den anderen, um sich dem Grab wieder zu nähern. Jetzt konnte er in das kleine Loch hineinschauen und eine wohlige Wärme durchflutete seinen Körper, als er ein helles Licht darin erkannte.
Die Stimme fuhr fort: „Schön, dass Du zurückgekommen bist. Sag nichts und hör mir einfach nur zu.
Du hast mich vor ein paar Tagen hier begraben, aber Du hast vergessen, dass ich nicht ohne Dich sterben kann. Solange DU lebst, lebe auch ich. Egal, wie sehr man mich auch verletzt hat und wie sehr sich meine Außenhaut in Stein verwandelte, ich habe doch nie aufgehört, Leben in mir zu haben.
Solange Blut in Deinen Adern fließt, habe ich genug Nahrung, mit Dir zusammen zu atmen. DU bist derjenige, der mir jeden Tag aufs Neue Leben eingehaucht hat. Und DU bist der einzige, der mich am Leben halten kann. Sobald Du MICH aufgibst, hast Du DICH aufgegeben. Und ich WEISS, dass Du gerne noch weiterleben möchtest.
Denk an die schönen Zeiten, die wir gemeinsam erleben durften. Denk an Deine große Liebe. Auch wenn sie nun nicht mehr bei Dir ist, so musst Du dankbar sein, dass Du sie erleben durftest, denn nicht jeder Mensch hat die Gelegenheit dazu. Und gib die Hoffnung nicht auf, dass Du vielleicht eines Tages noch mal genauso empfinden darfst, wie damals.
Denk an das Lachen der Kinder um Dich herum, wenn Du zu Weihnachten den Weihnachtsmann im Kinderheim spielst. Denk an die großen, glänzenden Kinderaugen, die vor Freude ein paar Tränen verlieren, wenn Du ihnen die Geschenke überreichst. Und denk an die schönen Gedichte, die sie extra für Dich auswendig gelernt haben.
Denk an die alten Menschen, die Du am Wochenende im Altersheim besuchst, damit sie nicht so einsam sind. Denk an ihre Lebensgeschichten, die sie Dir stundenlang erzählen und bei denen Du oft mit ihnen zusammen lachst.
Denk an die Sonne, die im Sommer morgens schon so früh aufgeht und an die Sonnenstrahlen, die Deine Nase kitzeln, wenn sie in Dein Bett hineinscheinen. Denk an den blauen Himmel, den Du so liebst und an die Vögel, die schon in der Früh so vergnügt zwitschern.
Denk an Dein Lieblingsbuch und daran, wie Du es nun schon zum 12. mal gelesen hast. Denk an Deinen Lieblingsfilm, den Du in- und auswendig kannst und in dem Du mittlerweile locker die Hauptrolle übernehmen könntest.
Denk an Deinen Erfolg in Deinem Job. Du hast Dich in all den Jahren hochgearbeitet und hast die Fähigkeit, andere Menschen zu motivieren und Deine Mitarbeiter schätzen Dich als Chef und Kollege.
Denk an Deine kleine schwarze Katze Jerry, die Dir abends um die Beine schleicht und nicht eher damit aufhört, bis Du ihr Lieblingsfresschen ins Töpfchen getan hast. Denk an ihr Schnurren und denk daran, wie glücklich Dich solche Momente machen.
Denk an Deine Lieblingspizza, wie sie dampfend vor Dir stehst und Du es kaum erwarten kannst, den ersten Bissen zu probieren.
Denk an die Bilder, die Du gemalt hast. Auch wenn sie bisher niemand gesehen hat, so hast Du Glück empfunden, als Du sie auf das Papier gezaubert hast.
Denk an die Gedichte, die Du seit Jahren schreibst und mit denen Du anderen Menschen hilfst, ihre eigenen Sorgen zu bekämpfen. Denk an all die vielen Briefe, die Du von den Lesern bekommen hast. Denk an Deine Gabe, eines Tages ein Buch schreiben zu können. Denk an all die Ideen, Gedanken und Gefühle, die in Dir sind und nur darauf warten, rausgelassen zu werden.
Und all das sind Momente, die auch MICH glücklich machen und die dieses Leben so lebenswert machen. Ich KANN und WERDE Dich nicht alleine lassen, denn ich bin der Teil, den Du zum Leben brauchst. Und auch wenn ich schon so oft verletzt wurde, so sterbe ich doch erst dann, wenn Du den letzten Atemzug tust. Also lass mich wieder hinein zu Dir, atme tief durch und lass uns Deinen Lebensweg gemeinsam gehen.“
Der Mann bückte sich, streckte seine Arme aus und in dem Moment, als er das Licht berührte, spürte er eine wohlige Wärme durch seinen Körper ziehen. Die Tränen, die er vorhin nicht weinen konnte, liefen nun in Strömen über seine Wangen. Aber anstatt traurig zu sein, fing er an zu lachen und zu tanzen. Er drehte sich so schnell, dass sein Schal von ihm abfiel, doch er merkte es gar nicht…. Denn er war glücklich… glücklich, sie wiedergefunden zu haben. Nie wieder würde er sie aufgeben, komme was wolle. Denn sie würde es niemals zulassen. Sie… seine treue Seele….
© Andrea Koßmann, Dezember 2004