'Ulysses' - 06 Hades - Friedhof

  • Auf der Fahrt im Wagen zur Beerdigung von Patrick Dignam sitzen Martin Cunningham, Mr. Power, Stephens Vater Simon Dedalus und Bloom zusammen. Alles Freunde von Patrick Dignam.
    Ich habe lange gebraucht, zu verstehen, dass es sich um das Begräbnis von Patrick Dignam, eines Freundes der Hauptpersonen handelt. Zuerst dachte ich immer, es wäre ein Verwandter.


    Dann fahren sie an Stephen vorbei, wobei Simon sich gleich über Buck Mulligan aufregt. Er ist eine schlechte Gesellschaft für Stephen.
    Auch die Tante Sally und ihre Familie kommt bei Simon schlecht weg: Feine Sippschaft.


    Das Vater-Sohn-Motiv spielt hier eine Rolle.
    Simon Dedalus ist ein interessanter Nebencharakter.


    Mir gefällt Stephens ironische Charakterisierung der Attribute seines Vaters, die er in Joyce ersten Roman macht:
    Zitat: - Medizinstudent, Ruderer, Tenor, Amateur-Schauspieler, brüllender Politiker, kleiner Hausbesitzer, kleiner Aktionär, Trinker, guter Kerl, Geschichtenerzähler, Sekretär von jemand, irgendwas in einer Brennerei, Steuereinnehmer, Bankrotteur und augenblicklich Verherrlicher seiner eigenen Vergangenheit.(aus: Ein Portrait des Künstlers als junger Mann)


    Auch Bloom hatte anscheinend mal einen Sohn. (Wenn der kleine Rudy am Leben geblieben wäre). Beklemmend!

  • Puuuh, was für ein düsteres Kapitel! Was für ein makabrer Humor (ich musste trotzdem grinsen *räusper*).


    Was hat es mit Reuben auf sich und warum sagt Martin Cunningham, dass sie alle schon bei ihm gewesen seien, jedenfalls, mit einem Blick auf Bloom, fast alle?


    magali Ich meine mich zu erinnern, dass du gesagt (äh geschrieben) hast, dass Bloom Jude ist. Kann das sein? Es kommt mir nun gar nicht so vor.


    Blooms Vater hat sich also mit Gift das Leben genommen. Das ist gut gemacht wie das der Leser erst zusammen mit Mr Power erfährt.


    Es ist sehr beeindruckend, bei Blooms Gedanken dabei zu sein. Makaber-witzig, aber auch ergreifend und traurig, er nennt seine toten Eltern "Papa" und "Mama". Es geht ihm und damit auch dem Leser schon nahe irgendwie. Sehr drückende Atmosphäre.


    Und mit John Henry Melton kann es Mr Bloom wohl gar nicht. Da spürt man richtig den Hass auf beiden Seiten. Wollten beide die gleiche Frau und Bloom hat sie gekriegt, so scheint es mir.


    Womit ich ein bisschen Probleme habe, sind die ganzen Personennamen. Aber, das muss doch auch Joyce wissen, es ist einfach unmöglich sich zu jedem Namen die Situation zu merken, in der er aufgetaucht ist. Und alles nebenher aufschreiben geht doch auch nicht. :gruebel Naja,
    auf gehts in die nächste Runde!

  • Du verschlingst das Buch ja!
    :lache


    Bloom: Blum
    typisch jüdischer Name. Jeder gute irische Katholik erkennt das sofort.
    Leopold: Östereich-Ungarn, ebenso wie dieser Metzger Dlugo-Dingens.


    Dazu Nachdenken und Anspielungen auf Palästina und die damalige Erstbesiedelung (er liest doch so ein Magazin beim Metzger), Namen wie Moses Montefiore, erste hebräische Einsprengsel (es kommen noch einige), Reflexionen über Jaffa, Orangen etc.
    Bruch des Speisegebots btw. mit dem Kauf von Schweinenieren ;-) bzw. Gang zum nicht-koscheren Metzger.


    Für Joyce: Spiel mit dem 'ewigen Juden', dem Wandernden
    = Variation des Odysseus-Motivs.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Die Beerdigung meines Vaters ist noch keine zwei Jahre her, deswegen ist mir dieser Teil sehr nahe gegangen.


    Aber an einer Stelle musste ich doch schmunzeln


    "Zuerst die Leiche: dann die Freunde der Leiche."


    Jetzt kommt der übersichtliche Teil mit den vielen, vielen Absätzen :-]

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Auch Bloom hatte anscheinend mal einen Sohn. (Wenn der kleine Rudy am Leben geblieben wäre). Beklemmend!


    So wie ich das verstanden habe, ist er bei oder kurz nach der Geburt gestorben (siehe S. 89, Absatz nach dem Brief).


    Aber dieser Abschnitt gefällt mir auch, Bloom überlegt wie es wäre, einen Sohn zu haben. Wobei mir immer noch nicht ganz klar ist, wieso Väter (zumindest in der Literatur) da scheinbar immer einen Unterschied machen. Ist es nicht das gleiche Gefühl, einen Sohn oder eine Tochter zu haben?


    Außerdem erfährt man in diesem Kapitel, dass Blooms Vater Suizid begangen hat (durch Gift) und dass Bloom selbst beruflich Annoncen akquiriert. Laut John Henry Menton war Blooms Frau ja eine echte Granate früher und Bloom kann ihr nicht das Wasser reichen. Nach meinen bisherigen Eindrücken, kann sich Mentons Bewunderung allerdings ausschließlich auf die Schönheit von Molly beziehen, denn besonders angenehm finde ich sie nicht.


    Die gemeinsame Fahrt zum Friedhof, die Beerdigung, hier konnte ich gut folgen und ich mochte Blooms Gedankengänge, vor allem ab S. 149 war es ein echter Lesegenuss. Ich glaube mittlerweile, das Geheimnis liegt wirklich in der Zeit, die man sich nimmt und auf die man sich einlassen muss. Na mal abwarten, ob es damit auch weiterhin funktioniert ;-)

  • Ich habe nicht aufgegeben, bin nur im Nachtdienst und hatte keine Zeit zu lesen.
    Morgen geht es in den Urlaub :-].


    Ich stoße dann später wieder zu Euch :wave

  • So, ich hab mich dann auch bis hier vorgekämpft und ganz ehrlich es hat ein wenig gedauert, bis ich gerafft habe, daß man in der Kutsche hinter dem Sarg herfährt. Ich dachte man wäre einfach noch auf dem Weg zum Friedhof, bzw. vom Friedhof wieder zurück.
    Außerdem viel es mir schwer herauszufinden, wie viele Männer da tatsächlich in der Kutsche sitzen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, da sitzen viel mehr Menschen.


    Bloom ist Jude, das war für mich aber total klar, irgendwo schrieb er doch, daß er mit Glauben nix am Hut hat und die Menschen mit gelocktem Barthaar und nicht wegdenkbarem Hut ihm suspekt sind. Wie immer wenn ich was suche, finde ich es nicht... :cry


    Bartlocken -> jüdisch
    Kopf immer bedeckt -> jüdisch
    (ich glaub sogar, das wird nur im strengen Zionismus nur so streng gehandhabt, bin aber nicht sicher)

  • So, hier bin ich wieder und mit guten Neuigkeiten.
    Ich habe mir die Mühe gemacht, und die ersten Kapitel nocheinmal gelesen, diesmal mit Bleistift in der Hand, und ja, es hat geklappt. Ich bin drin. Ich steige hinter den Humor eines gewissen J. Joyce und ich muss sagen: er gefällt mir. Soviel Sarkasmus, Ironie, Witz. Ich habe das Gefühl, Joyce, bzw. Deadalus und Bloom sprechen alles aus (sprechen im Sinne von: man kann ihre Gedanken lesen), was man sonst selbst denkt, egal in welcher Situation, sich aber entweder sofort verbietet zu denken oder es zumindest nie im Leben aussprechen würde. Herzerfrischend. :-]


    Und jetzt zum Kapitel: ich fand es weder düster noch beklemmend, es war für mich nur eine Episode im Buch und man war von den vorherigen Kapiteln ja durchaus darauf vorbereitet. Ich habe endlich auch entdeckt, das es überall von Hüten wimmelt, natürlich habe ich aufgrund eurer Hinweise dannach gesucht. Vielen Dank.


    Ich mag die verqueren Bezeichnungen Joyces: LaßtabvomBösen für Kirche (?) [S. 121]. Und ich mag den bissigen, mitunter schwarzen Humor: Ein Mann der trauernd am Grab steht und nicht sehr betrübt wirkt und Blooms Folgerung ... Schwiegerverwandtschaft vielleicht. [S. 124]. Die Anmahnung ernsterer Gesichter. [S. 129] (= für mich einer der Gründe, keine Beklemmung zu fühlen sondern trotz des Themas herzlichst zu grinsen). Oder die Beschreibung des Hospiz und der lapidare Zusatz: ... Leichenhalle gleich handlich unten drunter. [S. 132]. Ein erleichterter Leichenwagen. [S. 134] und vieles mehr.


    Fazit: eigentlich ein humoriges Kapitel eines Schriftstellers, dem nichts heilig ist, schon gar nicht die Beerdigung eines sich rechtschaffend zu Tode saufenden Mannes. Ich glaube aber, dass er den Selbstmord des Vaters von Bloom wesentlich neutraler erwähnte, oder?


    Es macht Spaß, wenn es auch Zeit braucht.


    Liesbett

  • Jeanne : nein, 1-5. War aber auch dringend nötig und nicht unlustig. :-) Danke.


    Und zur Religion: ich habe den Stadtpunkt, dass man, wenn man einer Religion formal entsagt, dieser nicht mehr angehört, so, wie Übertretende einer neuen Religion angehören. Inwieweit das auf Bloom zutrifft, kann ich, wie schon geschrieben, nicht sagen. Vielleicht später einmal, wenn ich die Kapitel das dritte Mal lese. In zehn Jahren vielleicht. :grin


    Aber das Bloom sehr an Religion interessiert ist, entging mir nicht. Ich nehme an, dass alle Menschen in Irland sich mit Religion auseinandersetzen, entweder kritisch oder praktizierend, zumindest in dieser Zeit. Ein Irrtum?


    Liesbett

  • So ich bin dann auch wieder dabei, heute lese ich noch ein wenig Ulysses, ich ertrag den echt nur in kleinen Dosen, sonst werd ich zu nachdenklich und gehe meiner Umgebung mit "beschissen literarischem Mistkackgedenke" (zitatende) auf den Geist....

  • Natürlich und den Hades hab ich jetzt durch.
    Ist ja ganz schön seltsam, seine Gedanken zum Tod.
    Spaßig fand ich das mit der Rutsche. :lache
    Ansonsten beschreibt er den Leichen und Verwesungsvorgang sehr authentisch und greifbar. Hatte ich bisher noch bei keinem Buch. Hat mir gut gefallen, ehrlich. Eklig, aber genau so wie es ist. Wüßte gerne, ob er da auf seine Phantasie zurück gegriffen hat, ober ob er da tatsächlich irgendwie Recherche betrieben hat.
    (Fachfrau mit Leichenschau- und Madengrößevermessungserfahrung hat gesprochen: Hough!)

  • Zitat

    Original von Babyjane
    Wüßte gerne, ob er da auf seine Phantasie zurück gegriffen hat, ober ob er da tatsächlich irgendwie Recherche betrieben hat.


    Ich war das ganze Buch immer wieder überrascht, wie viel Joyce von fast allen weiß. Ziemlich Beeindruckend. :wow


    Ansonsten ist mir die Fahrt zum Friedhof mehr im Gedächtnis geblieben, als die eigentlichen Friedhofsszenen, die habe ich gleich wieder verdrängt. :grin


    Die Idee der Rutsche ist eigentlich ein typisches Beispiel für die verquere Art zu denken, die Bloom innehat. Und mit ihm vermutlich Joyce.

  • Ja, er hat eine leicht verquere Art zu denken andererseits auch wieder nicht.
    Es ist ja nicht eigentlich schräg, was er denkt, er nimmt nur immer wieder Kleinigkeiten und Details aus der Umwelt wahr und spinnt sie weiter, wie auch andere Menschen es tun. Nur spricht man es im Grunde ja nie aus oder reisst sich nach ein paar köstlichen, ja nahezu verbotenen Momenten fest zusammen. Manche Leute haben mit dieser Art zu denken die schönsten Erfindungen hervorgebracht, weil sie sich eben nicht gebremst haben. Ich glaube fast, die meisten Ideen beginnen mit einem ungewöhnlichem Gedanken, einem veränderten Blickwinkel auf die vorhandenen Gegebenheiten.
    Wie anders wäre es, die Gedanken der Menschen um einen herum ausgesprochen zu hören. Mal abgesehen von dem ganzen Wust, der entstehen würde von pausenlos Redenden (also Denkenden) würde man sicher ganz andere Leute schätzen lernen, die man so nur als ruhig oder gar langweilig abstempelt.