Es gibt ein paar wirklich beschissene Jobs auf diesem Planeten, aber "Supporting Act" bei einem Depeche Mode-Konzert gehört zu den allerschlimmsten. Bei der "Exciter"-Tour vor vier Jahren spielte Fat Gadget auf, und jeder halbwegs gebildete Mensch weiß natürlich, daß das die Band war, die dereinst eine junge Combo namens Depeche Mode als Vorgruppe auftreten ließ. Trotzdem klatschte niemand. Dieses Mal hatte Goldfrapp die Arschkarte. Vor DM zu spielen, das bedeutet mit 100%iger Sicherheit, ausgebuht zu werden. Leute zu hören, die "More Gore!" rufen. Und ihre Konzertkarten hochhalten, als Hinweis darauf, wen man gefälligst sehen und hören will.
Immerhin zeigte das Thermometer am 12. Juli gegen 19.00 Uhr noch über dreißig Grad an. Die 22.000 Menschen, die sich im schönsten Veranstaltungsort der Welt, der Berliner Waldbühne, zu einem von drei ausverkauften Konzerten eingefunden hatten, blinzelten aus ihren Bierstand-Warteschlangen in die ganz gemächlich gen Horizont sinkende Sonne. Man schwitzte. Menschen mit schwarzen T-Shirts sahen aus, als würden sie Batik tragen; weiße Schweißrandfraktale zogen sich über die Kleidung. Tja, und dann kam, recht pünktlich sogar, Goldfrapp auf die Bühne. Ich mag die Band eigentlich, "Supernature" ist ein ziemlich funkiges Tanzalbum, "Ooh la la" kann man getrost auch vor Nichtkennern auflegen. Allerdings war Alison Goldfrapp irgendwie heiser, und außerdem jumpelte sie auf dem abgetrennten, schmalen vorderen Bereich der Bühne herum, als käme sie gerade vom Joggen. Das wirkte ein bißchen teilnahmslos, außerdem war es deutlich zu leise. Immerhin: Das Publikum war so entspannt und gutwillig, daß es fast eine Zugabe gegeben hätte. Aber nur fast. Zumindest diese Sensation blieb also aus.
Wir waren etwas zu spät gekommen. In der Waldbühne sieht und hört man zwar von jedem Platz aus hervorragend, aber in der Waldbühne steht man auf der Wiese, fertig. Wobei - Wiese. Viel war da nicht mehr. Jedenfalls waren die unteren beiden Ringe bereits abgesperrt, als wir eintrafen (was nicht meine Schuld war, um das mal festzuhalten), und so setzten wir uns möglichst weit an den Rand eines Ringes, um den Moment abzuwarten, wenn die Ordnerwächterwärter ein wenig weniger aufmerksam sind, sogleich eine Hockwende über die niedrige Hecke zu machen und uns die heißbegehrten Stempel abzuholen, die den Publikanten als Frühkommer und wiesenbereichsberechtigt ausweisen. Glücklicherweise setzte nach dem Opening Act reger Kloverkehr ein. Das ist in der Waldbühne ein bißchen kompilziert, denn die Klos sind am oberen Rand der Schüssel, und die Schüssel ist scheiße steil. Schwitzende, batikbet-shirtete Menschen drängten an der Hecke vorbei, japsten, als würden sie den Eiger ersteigen, und dann kam der Moment. Wir hockwendeten. Schwups, standen wir auf der Wiese, in Greifnähe zur Bühnenverlängerung, die mitten hinein reichte. Da waren dann auch unsere Freunde. Wir umarmten uns, verteilten den Schweiß aufeinander.
Der Bühnenaufbau wurde entkleidet. Wer Depeche Mode bei "Rock am Ring" auf MTV gesehen hat, kennt ihn. Eine große Kugel, so eine Art UFO, daneben drei Keyboard-Plätze in der Form von ... Wasauchimmer. Vielleicht UFO-Steuerpulten. Dahinter drei Videowände, schräg aufgehängt, ebensolche rechts und links der Bühne.
Währenddessen rauschten mehrere La-Ola-Wellen durchs Publikum, das es sich auch nicht nehmen ließ, die Songs mitzuklatschen und zu -singen, die von Konserve kamen. Wir linsten nach ambulanten Bierverkäufern, konnten aber keinen ausmachen - normalerweise traben die Jungs mit den geschulterten 30-Liter-Fässern in Hundertschaften durch das Rund. Flugshurtig wurde ein Bierbeauftragter gewählt. Der arme Mensch mußte bis zum Schüsselrand hoch, wo Milliarden Mensch nach Bier anstanden. Er hat heute noch mein Mitgefühl.
20.17. Das Licht blieb an, die Sonne abschalten, das schaffen selbst Gahan, Gore und Fletcher nicht. Es geht los mit "A Pain That I'm Used To", und dann. Ja, dann.
Ein Freund von mir macht Merchandising bei DM-Konzerten, er hat die komplette Tour bis jetzt begleitet, sieht die Band noch in Lyon, Lissabon, San Sebastian usw. Er ist ein verdammter Megafan, aber er stand bei diesem Konzert neben mir und hat geweint. Das war wirklich unglaublich.
Ich meine, okay. Sie haben vier Songs vom aktuellen Album gespielt, darunter das fantastische "John the Relevator" und, natürlich, "Precious" - und ansonsten fast alles, das man erwarten kann, von "Behind the Wheel" über "Enjoy the Silence", "Stripped", "Personal Jesus", "Just Can't Get Enough" bis hin - ich kriege immer noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke - "Never Let Me Down Again" als letzte Zugabe (wie immer). Aber wie. Brillante Lichtshow, exzellenter Sound, ein entspannter, zum Schluß in nur noch knapp auf Hüfthöhe hängender Hose singender Dave Gahan. Und dieses Publikum.
Man steht auf der Wiese, weil man von der Wiese aus nach oben sehen kann. Ich habe in der Waldbühne schon alle möglichen Bands gesehen, exzellente Langweiler wie die Eagles oder ZZ Top, als sie noch wirklich cool waren und ein Feuerwerk abbrannten. Und zweimal Queen. Obwohl ich kein Queen-Fan bin, waren das bisher die Konzerte mit der besten Stimmung.
Bis zum vergangenen Mittwoch. Zweiundzwanzigtausend Armpaare, die sich synchron bei "Never Let Me Down Again" hin- und herbewegen. Diesen Anblick vergißt man nicht.
Fantastisch.