Tourtagebuch – Selim Özdogan

  • Das ist hier ist genau das, was der Titel sagt, ein Tour - Tagebuch, die gedruckte Wiedergabe höchstpersönlicher Eindrücke eines Autors von seinen Lesungen und einigen Schreibwerkstätten innerhalb eines Jahres. Das Jahr ist das vergangene, 2005, die erste Lesung findet am 22. Januar statt, einem Samstag, und endet am 10. Dezember, zufälligerweise wiederum ein Samstag. Es geht kreuz und quer durch Deutschland, meist im Zug. Von Lindau bis Spiekeroog, von Dortmund bis Dresden, hin und her und wieder zurück, Großstädte, kleine Städte und Städtchen. Es gibt Reisen in die Niederlande und nach Wien, nach Tschechien, in die Schweiz, eine Woche sogar nach Tel Aviv. Berichtet wird über mehr als hundert Lesungen, einmal zwanzig in einem Monat, ein anderes Mal vier oder gar nur eine. Gelesen wird in Buchhandlungen, Hörsälen, im Goethe-Institut, in Klassenzimmern, Cafés, in der Lounge des Savoy in Berlin ebenso wie im Freizeitraum eines Gewerkschaftshauses. Anlässe sind Buchmessen, persönliche Einladungen, Marketing für den neuen Roman, Literaturfestivals, Lese-Events. Dazwischen Schreibwerkstätten mit SchülerInnen, einmal Regie bei der Aufnahme des Hörbuchs von Es ist so einsam im Sattel... .


    Die Spannbreite von Luxusklasse bis hinunter zum Heißgetränk-Automaten gilt auch für die jeweilige Unterkunft, für die Personen, denen man begegnet, die Gespräche und vor allem für die Reaktionen des Tagebuchschreibers. Sie schwanken unaufhörlich zwischen Freude und Mißtrauen, Schüchternheit und Eitelkeit, Arroganz und Herzlichkeit, Irritation und endloser Geduld. Der erste Eindruck entscheidet. Es ist die erste Sekunde, die zählt bei Begegnungen, sagen uns die Psychologen schon lange und so ist es. Schließlich ist ein Tagebuch ein persönliches Dokument.
    Nicht selten aber wird gezeigt, daß die Psychologen nicht unbedingt recht haben müssen, die zweite Hälfte eines Abends kann ein ganz anderes Bild bieten. Positiv-negativ, herzlich-kühl, die Gefühle sind ebenso unablässig unterwegs wie der Körper des Autors.


    Kann man so etwas lesen? Kann man durchaus. Alles auf einmal, gar in einem Rutsch, das geht nicht. Zu schnell verschwimmen die Eindrücke, die Orte, die Worte. Immerhin ruft das genau die Wirkung hervor, die das Tourleben auf den Autor hatte. Spätestens ab dem Sommer muß er immer öfter erleben, daß er nicht mehr weiß, welche Stadt es ist, in der er morgens aufwacht.
    Ein Satz wie: Als der Wecker klingelte, wußte ich nicht, in welche Richtung ich mich drehen mußte, um ihn abzustellen, hat dann trotz seiner Einfachheit etwas sehr Beunruhigendes.


    Stabilität und Kontinuität vermittelt die Musik, die den reisenden Autor per CD und später iPod begleitet, Bands wie Gun Club, Happy Mondays und Black Rebel Motorcycle Club. Whatever Happened To My Rock ’n Roll, wieder und wieder. Aber auch Reggae und Überraschendes wie Johnny Cash.
    Das gilt auch für die Bücher, die er unterwegs liest. Milena Moser und Wilhelm Genazino, Kaminer, Heiner Link und Stefan Zweig, Siri Huvstedt, Rich Schwab, Autobiographien, Romane, Erzählungen. Auch hier die Urteile spontan, extrem, ungeschminkt. Der einzige Maßstab: die eigene Vorstellung von dem, was ‚Literatur’ ist. Der Autor weiß es selber, er nennt seinen Geschmack selbst ‚eingeschränkt’.


    Dazu die Beschäftigung mit Themen, den selbstgewählten wie Schreiben und Alkohol bei den großen amerikanischen Autoren, die Ausbildung zum Yoga-Lehrer, die Freunde oder die aufgezwungenen, wie Migrantentum, EU-Beitritt der Türkei, Islam. Zum Türken kann man gemacht werden, eine Einsicht eigener Art für einen zeitgenössischen deutschen Schriftsteller.


    Für mich war das Lesen eine Reise durch eine weitgehend fremde Welt. Die Musik, die meisten Buchtitel ebenso fremdartig wie die Beschäftigung mit Porno oder die Verehrung von Henry Miller. Dazwischen aber immer wieder kleine Sätze über das Schreiben und das Leben, über Wahrheit, Realität, das Wort, die völlig vertraut klangen. Eine Fülle von Anregungen, die nicht selten heftigen Widerspruch meinerseits hervorgerufen haben, nur um zwei Sätze weiter ebenso heftig Zustimmung auszulösen. Viel Witz dabei, aber auch ein Gutteil Traurigkeit. Faszinierend. Originell, lohnend.
    Ein ganz eigener Kosmos, den man da betritt, nicht ganz gefahrlos, allerdings.
    Take it or leave it, ist die Haltung des Autors dazu und ich für mein Teil kann damit gut leben.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Ich gebe zu, ich klicke deine Rezis schon allein deshalb an, weil sie sicher mitunter lesenswerter sind, als die vorgestellten Bücher. :grin Dieses hier scheint sehr ambivalente Einblicke zu garantieren, dennoch wird es wohl des Preises wegen den Weg in mein Bücherregal so schnell nicht finden. Vielleicht fehlt auch mangels eigener Eindrücke das Bedürfnis, ein Tagebuch zu lesen. Tagebücher waren noch nie mein Ding, weder eigene (hat's nie gegeben), und erst recht nicht fremde. Eine Ausnahme allerdings bestätigt auch hier die Regel: das von Anne Frank, das habe ich gelesen. ;-)

  • Idgie


    ja, ich finde es auch teuer.
    Es ist nun aber so, daß ich ein halbes Regal voller Tagebücher, Autobiographien und Briefausgaben von Schriftstellerinnen und Schriftstellern besitze. Ich beschäftige mich viel mit so etwas.
    Natürlich muß ich auswählen, aus finanziellen wie aus Platzgründen.
    Bei Selims Buch kam dazu, daß mich die Erfahrung gelehrt hat, daß es in all seinen Büchern Dinge gibt, die mir wichtig sind. Wir beide haben tatsächlich nicht sehr viele Berührungspunkte, es ist aber so, daß sich selbst im Antagonismus eher Türen öffnen als verschließen.
    Das ist an sich ein Wert, für den ich bedenkenlos und jederzeit beträchtlich mehr als 17 Euro gebe.


    Übrigens besitze ich zwei Exemplare. 'Meins' möchte ich zur Zeit nicht weggeben, weil ich noch darin herumwandere, andererseits hat sich da eine etwas verblüffende Nachfrage bezüglich des Ausleihens dieses, hm, ambivalenten Werks gezeigt.
    Ganz verständlich bei dem Preis.


    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Trotz dieser Rezi werde ich mir dieses Machwerk aus bekannten Gründen nicht mehr ins Haus holen... meine restlichen Özdogan Bücher haben übrigens einen kuschelig warmen Platz im Keller gefunden. :grin


    @ Tom
    Dito und ich hatte immerhin zwei mal die Möglichkeit mich von der Arroganz und dem niedrigen EQ des Autors zu überzeugen. :grin

  • Hossa! Der Typ ruft ja drastische Reaktionen hervor. Vielleicht sollte man die Bücher mit Warnaufdruck versehen. Ich will hier jetzt aber keineswegs eine Diskussion über Lesereisen an sich und den Autor speziell lostreten. Das wäre dann wohl doch zuviel des Guten. :grin

  • Idgie keine Angst, gewisse Verhaltensweisen und Schriftstücke sind einfach indiskutabel....


    (womit ich jetzt schon wieder mehr Zeilen an diesen Herrn verloren habe, als ich wollte.)


    *schweigt ab jetzt und geht noch ein paar Bücher anzünden* :grin

  • Zitat

    Original von Idgie
    Ich gebe zu, ich klicke deine Rezis schon allein deshalb an, weil sie sicher mitunter lesenswerter sind, als die vorgestellten Bücher.


    :write
    Das geht mir auch so!


    Die Rezi allein macht schon Lust auf die Lektüre dieses Buches, aber die Kommentare von Tom und BJ erst recht. :grin

  • Zitat

    Original von Babyjane
    Trotz dieser Rezi werde ich mir dieses Machwerk aus bekannten Gründen nicht mehr ins Haus holen... meine restlichen Özdogan Bücher haben übrigens einen kuschelig warmen Platz im Keller gefunden. :grin


    @ Tom
    Dito und ich hatte immerhin zwei mal die Möglichkeit mich von der Arroganz und dem niedrigen EQ des Autors zu überzeugen. :grin



    @ Jane


    Mir sind die Gründe unbekannt, und ich bin neugierig, weshalb deine Özdogan-Bücher in den Keller umgezogen sind?


    Das mit der Arroganz und dem niedrigen EQ dacht ich beim Schmökern in der "Schmied"-Leserunde auch schon... :gruebel

  • Ich bekomme morgen das Tourtagebuch von der Buchhändlerin meines Vertrauens. Der Preis ist definitiv zu hoch, aber ich buche es unter "Fachliteratur" ab. Was einem bei Lesungen passieren kann ist schließlich für jeden Autor interessant :grin Und schlechter als das Stuckrad-Barre Machwerk wird es wohl kaum sein.


    Bisher kenne ich von Selim nur das Buch "Ein Spiel, das die Götter sich leisten", das ich sehr mag (bis auf den Schluss, der m. E. eher schwächer geriet). Ob der Autor nun ein liebenswerter Mensch ist - keine Ahnung, es ist mir aber letztlich auch nicht so wichtig, wenn es um die Bücher geht. Ich muss ja nicht mit ihm befreundet sein. Mein Eindruck nach dem Fred und dem einen Buch ist, dass da jemand etwas zu sagen hat. Sehr eigen, manchmal unbequem, und vielleicht gerade deshalb eine Bereicherung.


    :wave
    Marcel

  • Hallo, Friderike.


    Zitat

    Die Rezi allein macht schon Lust auf die Lektüre dieses Buches, aber die Kommentare von Tom und BJ erst recht.


    Ich habe das "Tourtagebuch" nicht gelesen, insofern sollte ein irgendwie gearteter Kommentar von mir kein Aspekt bei der Entscheidung für oder gegen die Lektüre sein. Aber ich kenne einige Romane und Anthologien von Özdogan, die kann ich durch die Bank sehr empfehlen. Am besten sind "Die Tochter des Schmieds" und "Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist". Die Kurzgeschichtensammlungen haben ihre Höhen und Tiefen, in der Hauptsache aber Höhen.


    Ich habe bei der gemeinsamen Lesung in Lindau nur wenige Worte mit ihm gewechselt, meine Kommentare im Rahmen der "Tochter"-Leserunde sind im Archiv verfügbar. Mein Eindruck ist einfach, daß Özdogan ein Mensch ist, der extrem selektiv im Umgang mit anderen ist, und es fällt mir überaus schwer, das einzuordnen, zumal es in diesem Zusammenhang um Beurteilungen geht, die ich selbst so schnell niemals fällen würde. Bei diesem - offenbar sehr persönlichen - "Tourtagebuch" bekomme ich deshalb das Gefühl, einen Menschen näher kennenzulernen, der das umgekehrt überhaupt nicht will. Und da übe ich dann lieber Verzicht.

  • Zitat

    Original von Rosenstolz


    Es war manchmal schwer vorstellbar, dass dies derselbe Mensch ist, der dieses wundervolle Buch geschrieben hat.


    Richtig, denn in seinem Roman beweist er ja sehr großes Einfühlungsvermögen.


    Naja, mir persönlich hat er nichts getan, und ich glaube, ich werde noch mehr von ihm lesen. Bin jetzt neugierig geworden - gerade weil es immer heißt, der "Schmied" wäre so anders als seine übrigen Bücher.

  • Hallo Tom,


    danke für Deine zusätzlichen Erläuterungen zum obigen Kurz-Statement.


    Ich habe gerade die Homepage vom Autor angeschaut.


    Neben einigen dubiosen Links finden sich dort auch Gästebuch-Kommentierungen vom Autor, die Eure Einschätzung von Hr. Özdogan durchaus untermauern.


    Eigentlich paßt so ein persönliches Tourtagebuch m. E. nicht zum Image eines Autors, der z. B. aus seiner Biographie ein kleines Geheimnis macht.


    Ich überlege noch, ob ich es lese. Vielleicht warte ich auch noch das Statement von Marcel ab, was hoffentlich hier zu lesen sein wird. :-)


    :wave

  • @ Waldfee
    das erläuter ich dir gerne beim Eulentreffen, hier habe ich aber wie schon geschrieben, bereits mehr Worte verloren als Mensch und Buch wert sind. :-]


    Ansonsten wirf doch mal einen Blick in den Bereich Termine, da findet sich zum einen eine Beschreibung der Lesung in Köln, sowie eine Beschreibung des Lindauer Lit.-Schmauses.... :grin

  • Zitat

    Original von Friderike
    Ich überlege noch, ob ich es lese. Vielleicht warte ich auch noch das Statement von Marcel ab, was hoffentlich hier zu lesen sein wird. :-)
    :wave


    Hallo Friderike,


    Vor einem Statement würde ich mich gerne drücken :-)
    Das Genre "Tagebuch" ist sehr zwiespältig, und meist erscheinen sie ja auch erst, nachdem benannte Personen verstorben sind. Bei Anais Nin kann man gut das Ringen um die Veröffentlichung nachvollziehen.


    Mit Maxim Biller, Alban Nikolai Herbst und den Weblogs hat sich aber einiges verändert. Die Welt wird zum Big Brother-Container.
    Ich bin jetzt auf Seite 100, und deshalb kann ich einen ersten "unscharfen" Eindruck geben: Ich lese es gern, und wahrscheinlich auch in einem Rutsch, weil es Themen berührt, die mich beschäftigen. Dabei ist es unerheblich, was ich vom Menschen Özdogan, dem allgemeinen Unterhaltungswert des Buches, der literarischen Qualität oder seinen Ansichten halte. Was ich feststellen kann: er hat Ansichten, eine klare Vorstellung davon, was Literatur ist. Und das macht es für mich lesenswert und lohnend.


    :wave
    Marcel

  • Zitat

    Original von Babyjane
    @ Waldfee
    das erläuter ich dir gerne beim Eulentreffen, hier habe ich aber wie schon geschrieben, bereits mehr Worte verloren als Mensch und Buch wert sind. :-]


    Ansonsten wirf doch mal einen Blick in den Bereich Termine, da findet sich zum einen eine Beschreibung der Lesung in Köln, sowie eine Beschreibung des Lindauer Lit.-Schmauses.... :grin



    Danke Jane,


    da ich ja nicht nach Berlin fahren kann, werde ich mal unter Termine nachlesen... :-)

  • Ich habe es dann doch gelesen und lange überlegt, ob ich eine Rezension dazu schreibe. Das werde ich nicht tun. Sondern das hier:


    Gegendarstellung
    Samstag, 26. November 2005


    Die sechs CDs, die seit Menschengedenken im Wechsler stecken, ertrage ich nicht mehr, also höre ich Bayern 3. Klar, das ist übelster Mainstream, aber hey, nicht alles, was viele Menschen mögen, muß deshalb schlecht sein. Ab und zu klopfe ich mit den Fingern den Takt auf dem Lenkrad mit, aber meistens bin ich mit meinen Gedanken woanders. Meine zweite Lesung im Insel-Hotel Lindau steht an, später am Abend, und ich werde abwechselnd mit Selim Özdogan vortragen. Dessen Texte mag ich nicht nur überaus gerne, er ist zudem Verlagskollege. Ich habe Özdogan noch nie getroffen, und ich freue mich darauf. Gleichzeitig bin ich unsicher, habe fast ein bißchen Schiß. Immerhin hat der Mann nicht nur dreimal so viele Veröffentlichungen wie ich auf dem Buckel, er liest auch noch sehr viel häufiger als ich. Die Mannschaft eines Regionalligavereins mag sich so fühlen, wenn sie beim DFB-Pokal auf Bayern München trifft. Oder wenigstens Schalke. Klar, es geht überhaupt nicht um Sieger, sondern um Miteinander. Aber das ist ja auch nur ein Vergleich.


    Auf einer Tankstelle hole ich mir ein paar BiFis, die sofort nach dem Öffnen der Packung das Wageninnere mit ihrem seltsamen, für manche widerwärtigen Geruch füllen, aber ich bin nicht hungrig genug für mehr - und außerdem aufgeregt, was mir immer auf den Magen schlägt. Mein zweiter Roman ist gerade frisch auf dem Markt, und dieser Zeit wohnt eine seltsam verzögerte Wahrnehmung inne. Gleichzeitig bin ich immer auf der Hut, als Blender entlarvt zu werden. Ich kann es einfach noch nicht glauben, Schriftsteller zu sein. Daß meine Texte, die mir so viel bedeuten, auch für andere von Bedeutung sein können, das will mir nach wie vor nicht so richtig in den Kopf. Irgendeine Filterfunktion meines zerebralen Cortex' fängt diese Nachricht ab. Erfolgreich.


    Auf der Brücke zur Insel Lindau kommt etwas wie innere Ruhe auf. Ich erkenne die Häuser wieder, schalte das Navigationssystem ab, ab hier weiß ich den Weg. Vom Parkplatz bis zum Hotel sind noch ein paar Schritte, ich kann den Bodensee olfaktorisch wahrnehmen. Die Luft ist kalt und frisch. Mein Atem riecht wahrscheinlich nach Minisalami.


    Das Wirtsehepaar begrüßt mich wie einen alten Freund, ich höre, daß mein Mit-Vortragender auch schon im Haus ist, gehe auf mein Zimmer und schlafe ein paar nervöse Minuten lang. Die "Simpsons" lenken mich danach davon ab, ständig ziellos in dem Buch zu blättern, aus dem ich vorlesen werde, geübt habe ich wie immer nicht, aber solche Lesereisen sind ja auch keine Vorlesewettbewerbe. Gegen halb sieben gehe ich nach unten, setze mich an die Bar und trinke Kaffee. Meine Autorenfreundin Iris Kammerer ist da und begrüßt mich herzlich, außerdem ist das Autorenpaar Iny Lorentz eingetroffen, deren Bücher zwar nicht ganz meine Welt sind, aber das ist ein bißchen wie mit der Mucke auf Bayern 3. Autoren, die von sich glauben, ihre Bücher wären das einzig Heilbringende, sollten damit aufhören, sie zu veröffentlichen.


    Dann kommt Özdogan. Er wirkt jünger als auf den Fotos, aber irgendwas stimmt nicht, eine latente Ablehnung ist sofort zu spüren. Sein Lächeln wirkt gequält, er redet sparsam, wenn überhaupt. Wir sitzen zwar an einem Tisch, während das Publikum eintrifft und eine Journalistin mit uns spricht, aber spätestens nach ihrer Frage: "Und Sie sind der andere Autor?" - an Özdogan und nicht etwa mich - fällt bei ihm fast hörbar eine Jalousie. Er schottet ab. Fast widerwillig tauschen wir signierte Exemplare unserer letzten Bücher aus. Ich spreche mit den anwesenden Autoren, ob der Aufregung bleibt alles oberflächlich, noch. Ich wäre überhaupt nicht dazu in der Lage, tiefgründig zu werden. Ich habe gleich einen Auftritt, und kein Mensch auf der Welt kann von mir verlangen, davor besonders emphatisch oder schlagfertig zu sein. Normalerweise ziehe ich mich vor Lesungen zurück, aber das geht hier nicht. Die Tuchfühlung mit den Autoren ist bei dieser Veranstaltung Programm.


    Dann lesen wir im Wechsel, zwischen den Gängen des vorzüglichen Menüs, und ich komme mir vor wie der letzte Anfänger. Özdogan ist ein Profi. Großer Gott, diese Modulation, diese Betonung. Man spürt, welche Nähe er zu seinen Texten empfindet, wie sehr sie Bestandteil seines Selbst sind, wenigstens zu sein scheinen. Ich würde viel dafür geben, so lesen zu können, aber andererseits empfinde ich mich auch nicht als Entertainer, sondern als Autor. Bei der zweiten Runde herrscht ein bißchen Unruhe im Publikum, das ganz sicher nicht Özdogan-typisch ist; der Altersdurchschnitt mag bei fünfzig liegen. Özdogan hat dezent provokante Texte aus "Trinkgeld vom Schicksal" ausgewählt; angekündigt war sein aktueller Roman "Die Tochter des Schmieds". Als ein Gast mit einem anderen flüstert, wird mein Mitleser wütend. "Beschimpfe niemals Dein Publikum", denke ich, aber vielleicht ist der Gedanke falsch.


    Nach dem Essen habe ich endlich die Ruhe und Muße, mit meinen Freunden auf eine Art zu sprechen, die nicht von Aufregung beherrscht ist. Özdogan bleibt noch ein paar Höflichkeitsminuten bei uns, dann verzieht er sich. Beim Frühstück sehe ich ihn kurz wieder, er verschwindet schließlich grußlos.


    Auf dem Heimweg laufen die alten CDs im Wechsler, es ist mir egal, denn ich bin mit meinen Gedanken beim gestrigen Abend. Was lief falsch? Ich weiß nicht, ob ein Fehler bei mir zu suchen ist oder ob jemand anderes möglicherweise leichtfertig eine Veranstaltung zugesagt hat, aber das spielt auch keine Rolle. Geschenkt. Ich habe mich sehr vergnügt, meistens jedenfalls, und ich beschließe für mich selbst, mich niemals so wichtig zu nehmen, daß daraus Geringschätzung für andere wird.