Plötzlich tief im Wald – Amos Oz

  • Originaltitel: Pit´ om be-omek ha-ja´ar. Agadda
    Erschienen 2005.


    Kurzbeschreibung (von Amazon)
    Ein Dorf, umschlossen von Bergen und dunklen Wäldern, am Ende der Welt: Eine seltsame Stille und Traurigkeit liegt über ihm, ein Bannfluch. Einmal war es ein Dorf wie andere auch – dann aber verschwanden auf mysteriöse Weise in einer Winternacht vor vielen Jahren alle Tiere, zahme wie wilde, und nie wieder zeigte sich dort auch nur ein Vogel am Horizont. Die Erwachsenen, die sich noch daran erinnern, hüllen sich in Schweigen. Sobald es dunkel wird, schließen sich alle Menschen in ihre Häuser ein, und nur eines wissen die Kinder: Nie, unter gar keinen Umständen, dürfen sie den umgebenden Wald betreten. Doch eines Tages brechen ein Mädchen und ein Junge die stillschweigende Übereinkunft aller Dorfbewohner: Maja und Mati entschließen sich zu ergründen, was einst geschah, und begeben sich in den Wald, in den unheimlichen Herrschaftsbereich des gefürchteten Bergteufels Nehi. Amos Oz’ Märchen für Kinder und Erwachsene führt uns in eine Welt, die der unseren zugleich enthoben und nahe ist, erzählt mit poetischer Dichte von einer Gemeinschaft im Schatten einer verschwiegenen Geschichte, die erst durch den Mut zweier Kinder sich enthüllt: Plötzlich tief im Wald.


    Meine Meinung:
    Nach seinem Roman in Versform „Allein das Meer“ und seinen autobiografischen Meisterwerk „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ überrascht Israel wohl bedeutendster Amos Oz wieder mit einem lyrischen und atmosphärisch dichten Prosatext mit der Gattungsbezeichnung Ein Märchen.
    Sicherlich kein Märchen für kleine Kinder. Dazu ist der Text zu düster und unheilsschwanger.
    Da Amos Oz Werk nun einmal politisch vorbelastet ist, sehe ich auch hier Bezüge zur aktuellen Situation Israels.
    Ein Dorf, das sich in Angst und Schuldbewusstsein abschottet, nachdem alle Tiere das Dorf verlassen haben, kann ich auch als Analogie zum Mauerbau Israels und als eine Warnung vor den Folgen von Isolation verstehen.


    Dennoch zeichnet der Humanist Amos Oz seine Protagonisten liebevoll.
    Da sind der Junge Nimi, der wiehernd für ein Fohlen gehalten wird,
    der alte Fischer Almon, der jetzt als Ackerbauer lebt und ein Gedankenbuch führt,
    Solina, die ihren lahmen Mann, der an der Vergissmeindoch-Krankheit leidet, in einem alten Kinderwagen durch das Dorf schiebt und
    Danir, dem fröhlichen Dachdecker den alle Mädchen lieben.


    Oz Hoffnungen liegen jedoch auf den Kindern Maja und Mati, die wenn sie sich überwinden können, eine optimistischer Zukunft versprechen.


    Unvermeidbar ist es für mich auch, den Fischer Almon für einen selbstironischen Alter Ego des Autors zu halten. Laut Oz ein alter, fast blinder und geschwätziger Mann, der unaufhörlich mit seiner hässlichen Vogelscheuche streitet. Und der doch trotz seines Pessimismus als einziger an die Rückkehr der Tiere glaubt und mit ihnen an eine hoffnungsvolle Zukunft.


    Das Buch vermittelt eine Sehnsucht nach Gleichheit unter allen Menschen und richtet sich gegen Intoleranz. Da Amos Oz jedoch nicht realitätsfern ist, verpackt er es in Form eines Märchens.
    2004 veröffentlichte Amos Oz seine Vorlesungen der Tübinger Poetik-Dozentur unter dem Titel „Wie man Fanatiker kuriert“.
    Mit „Plötzlich tief im Wald“ gibt er erneut eine Antwort: Durch Lesen dieses Buches.


    Zum Autor:
    Amos Oz, geboren 1939 in Jerusalem ist Schriftsteller und Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung Peace Now.


    Werke:
    • Plötzlich tief im Wald
    • Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. (Roman)
    • Wie man Fanatiker kuriert. (Tübinger Poetik-Dozentur 2002)
    • Allein das Meer. (Roman)
    • Ein anderer Ort. (Roman)
    • Sumchi. Eine wahre Geschichte über Liebe und Abenteuer.
    • Das Schweigen des Himmels.
    • So fangen die Geschichten an.
    • Dem Tod entgegen.
    • Herr Levi. (Erzählung)
    • Nenn die Nacht nicht Nacht. (Roman)
    • Die Hügel des Libanon. (Politische Essays)
    • Sehnsucht. (Erzählungen)
    • Der Berg des bösen Rates.
    • Der dritte Zustand. (Roman)
    • Bericht zur Lage des Staates Israel.
    • Eine Frau erkennen. (Roman)
    • Black Box. (Roman)
    • Mein Michael. (Roman)
    • Der perfekte Frieden. (Roman)
    • Keiner bleibt allein (Roman)
    • Im Lande Israel.
    Amos Oz ist unter anderem Preisträger des Israel-Preises, des Goethe-Preises und dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels.

  • Ein Dorf am Ende der Welt. Stille, Schweigen, beredetes Schweigen.
    Kein einziger Laut eines nicht menschlichen Wesens dringt durch diese Stille. Keinen Vogel sieht man kreisen, keine Kuh wiederkäuen; man hört kein Pferd wiehern, keinen Hund bellen. Auf dem Feld sieht man keinen Ochsen vor dem Pflug, keine milchgebende Kuh im Stall; nicht einmal Ameisen oder anderes Ungeziefer kreucht und fleucht durch Ställe, Scheunen und Haushalte.
    In diesem Dorf lebt kein einziges Tier. Nur die Menschen, die sich ihrem Schicksal ergeben haben und darüber schweigen, wie es dazu kam. Sie erzählen nicht, und wenn sie es wollen, werden sie zum Schweigen gebracht. Dass diese Lebewesen existieren, wissen die Kinder nur die Lehrerin Emanuela, die ihnen Tierlaute beibringt oder aber vom (ehemaligen) Fischer Almon, der gut und gerne und mit viel Traurigkeit von seinem getreuen Hund Sito erzählt, der zusammen mit allen anderen Tieren in einer Novembernacht verschwand.
    Nur Mati und Maya, sie haben ein Geheimnis. Sie haben einen Fisch gesehen. Vielleicht nur ein Sonnenstrahl, der sich auf dem Fluss spiegelte? Was auch immer zutrifft, sie beide zieht es in den Wald, um das Schweigen der Dorfbewohner zu brechen, um herauszufinden, warum selbst Reisende diesen Ort meiden, warum die Tiere einfach so verschwanden.


    Dieses Buch ist eine Reise. Eine Reise, von Vergangenheit zur Gegenwart in die Zukunft, die von diesen beiden Kindern getragen wird. Erinnern und Vergessen sind ihre ständigen Begleiter. Die Bewohner des Dorfes verweigern sich beharrlich die Wahrheit zu sagen, ja, überhaupt darüber zu sprechen. Sie verweigern sich der Realität bzw. irgendeiner Form der Aufarbeitung von Traumata aus der Vergangenheit. Veränderungen sind ihnen zuwider, sie leben ihr Leben, sie sterben, wissend oder unwissend. Amos Oz hat diese Verdrängungsmechanismen in diesem Märchen gut herausgearbeitet in einer leichten, sehr direkten und verständlichen Sprache. Schnörkellos, ohne viel zu beschreiben agieren seine Figuren, die er leider nur unzureichend beschreibt. Maya und Mati werden auf den ca. hundert Seiten eher als emotionslose, denn als emotionale, liebende, hassende Figuren dargestellt.


    Das Geheimnis, und die damit verbundene Botschaft, die letztendlich hinter dieser Geschichte stehen, werden in mehreren Szenen beleuchtet, ohne wertend zu sein, ohne zu verurteilen. Und doch mit einem Unterton, der immer wieder fragt: „Warum ist es so gelaufen? Wäre es anders verlaufen, wenn…“ usw. Umso unverständlicher ist das letzte Kapitel dieses Werkes. Ist das Märchen bisher ohne den erhobenen Zeigefinger durch eindringliche Bilder zur Botschaft gekommen, wird sie dem Leser noch einmal recht schulmeisterlich auf dem Weg gegeben (Man solle keine anderen Menschen hänseln, weil er anders ist..), in dem man den Zeigefinger hebt und, ich übertreibe, sagt: „Lieber Kinder, macht das nicht…“, was im übrigen vollkommen unnötig ist bzw. war.


    Und doch, trotz dieser Schönheitsfehler, war dies ein interessantes, sehr nachdenklich machendes Büchlein, was mich noch sehr lange nach der Lektüre verfolgt hat.


    Was bleibt?
    Ein Märchen, eine Parabel, mit einer guten, verständlichen Botschaft, die in einer geradlinigen, direkten, schnörkellosen Sprache vermittelt wird. Einziger Fehler: Ein Leser braucht keinen Schulmeister, keinen Moralprediger, um die Nachricht dieses Werkes zu verstehen, will sagen: Das letzte Kapitel ist vollkommen deplatziert und somit unnötig.

    Nicht nur der Mensch sollte manches Buch,
    auch Bücher sollten manchen Menschen öffnen.
    (Martin Gerhard Reisenberg, *1949)