Imre Kertész - Roman eines Schicksallosen

  • Ich kann jetzt nicht genau beurteilen, ob das Buch bei den "Klassikern" seinen richtigen Platz hat. Es ist 1975 erstmals erschienen, zählt aber für mich aufgrund seiner Bedeutung durchaus schon als "Klassiker".


    Inhalt:


    Budapest, 1943/44. Gyurka, ein 14-jähriger jüdischer Schüler - seine Eltern sind geschieden, er lebt bei seinem Vater und seiner Stiefmutter - bekommt heute schulfrei, denn sein Vater wird ins Arbeitslager einberufen. Die Familie kommt noch einmal zusammen, es wird Abschied genommen.
    Kurz darauf wird Gyurka, auf dem Weg zum Arbeitsdienst in die Waffenfabrik zusammen mit anderen Jugendlichen und Erwachsenen aus den Autobus geholt und im Zug nach Auschwitz transportiert. Nach kurzem Aufenthalt dort geht es weiter nach Birkenau und nach Zeitz. Es folgt die Schilderung der unbeschreiblichen Missstände und Zustände in den Konzentrationslagern. Aufgrund einer schweren Beinverletzung kommt er zurück nach Birkenau, was letztendlich auch seine Rettung bedeutet.


    Imre Kertész (Quellen: Klappentext, wikipedia):


    Geb. am 9. November 1929 in Budapest.


    Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde Kertész 1944 über Auschwitz in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Seine Erfahrungen dort beschrieb er in dem autobiografischen Buch "Roman eines Schicksallosen", im ungarischen Original "Sorstalanság". Der Roman wurde 2005 vom ungarischen Regisseur Lajos Koltai verfilmt.


    Nach Kriegsende folgte eine journalistische Tätigkeit bei der Tageszeitung "Világosság", die bald umbenannt und zum Parteiorgan der Kommunisten wurde. Nach seiner Entlassung bestritt Kertész seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller und schrieb Musicals und Unterhaltungsstücke für das Theater, um die Entstehung seines autobiografischen "Roman eines Schicksallosen" zu finanzieren.


    Für sein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet, wurde Imre Kertész 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.


    Werke: (Auszug)


    Mensch ohne Schicksal 1990, ISBN 3352003416 (später: Roman eines Schicksallosen,[/i] 1996)
    Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 1990
    Galeerentagebuch, 1993
    Eine Geschichte. Zwei Geschichten, 1994
    Ich - ein anderer, 1998
    Die englische Flagge. Erzählungen, 1999
    Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. Essays, 1999
    Fiasko, 2000


    Meine Meinung
    Es fällt mir sehr schwer, für dieses Buch eine Rezension zu erstellen, die dem Buch angemessenist.


    Das Erschütternde an diesem Buch ist für mich der Stil. Aus der Sicht eines 15-jährigen mitsamt seiner Naivität, seinem unermesslichen Optimismus und seinem absoluten Urvertrauen, das ihn letztendlich am Leben erhält, werden die Zustände im Konzentrationslager auf fast, "unbeschwerte" Weise, beschrieben.
    Für den Jungen ist die lange Zugfahrt nach Auschwitz der Anfang eines großen Abenteuers. Er versucht für alles und für jeden eine rationale Erklärung zu finden, rechtfertigt sämtliche Vorkommnisse und redet sich ein, dies alles sei "normal". Und gerade die Tatsache, dass man als Leser sozusagen einen "Vorsprung" hat, genau weiß, was mit ihm passiert und wohin dies alles führt, macht das Buch so unfassbar. Ein bisschen hat es mich - zu Beginn an den Film "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni erinnert. Imre Kertész selbst nimmt in einem Interview zu seinem Roman diesen Film zur Diskussion.


    Gyurka wundert sich bei der Ankunft im KZ über die vielen Häftlinge, von denen sie empfangen wurden.

    Zitat

    Jetzt zum erstenmal - vielleicht, weil ich zum erstenmal dafür Zeit hatte - begannen sie mich etwas mehr zu interessieren, und ich hätte gerne ihre Vergehen gekannt.


    Schritt für Schritt werden die Zustände unfassbarer, unvorstellbarer, der Leser verliert den Boden unter den Füßen. Schritt für Schritt verfallen Körper und Psyche der Gefangenen.
    Besonders erschütternd war für mich seine Rückkehr in seine Heimat, wo er begreift, dass niemand etwas begriffen hat.


    Zitat

    Nichts ist so unmöglich, daß man es nicht auf ganz natürliche Weise durchleben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert, wie eine unvermeidliche Falle, das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, daß dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den "Greueln": obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse."


    Absolut lesenswert!!

  • Absolut lesenswert, jawoll!!! Bei mir ist es zwar schon ein paar Jährchen her, daß ich ihn gelesen hab, aber ich war sehr berührt und beeindruckt!

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • [quote]Original von Jersey
    Ich kann jetzt nicht genau beurteilen, ob das Buch bei den "Klassikern" seinen richtigen Platz hat. Es ist 1975 erstmals erschienen, zählt aber für mich aufgrund seiner Bedeutung durchaus schon als "Klassiker".quote]


    Für mich ist es auch ganz klar schon jetzt ein Klassiker aufgrund seiner großen Bedeutung und seiner literaischen Neuerung.

  • eine gelungene Rezension, jersey :wave


    Das Buch ist notiert, ich werde es demnächst lesen.


    Edit: *schwupps* schon passiert: habs mir grade ertauscht :-]

  • Ich habe vom Film ein paar Ausschnitte gesehen, er ist sehr ernüchternd und sehr deprimierend. Ich werde ihn mir auf jeden Fall bei der nächsten Gelegenheit ausborgen und dann hier an dieser Stelle meine Meinung kundtun!


    :-)

  • also, ich habe das Buch gestern beendet.


    Es wird mich vermutlich noch lange Zeit nicht loslassen.


    Ich kann momentan noch nicht mehr dazu schreiben, es hinterlässt Beklemmung. Ein erschütternder Bericht, geschrieben aus der Sicht eines Fünfzehnjährigen.


    Auf jeden Fall kann ich es nur jedem empfehlen. Wenn ich könnte, würde ich mehr als 10 Punkte geben.


    Jersey, ich würde mich freuen, wenn Du dann noch was zum Film schreibst. Ich weiß nicht, ob ich ihn mir anschaun kann. Würde schon gerne...mal sehen...

  • Ich habe das Buch vor einigen Jahren von einer Freundin geschenkt bekommen, die es sich doppelt gekauft hatte. Zuerst hatte ich es einige Zeit auf meinem SUB, doch dann konnte ich es beim Lesen nicht mehr aus der Hand legen. Dieses Buch ist für mich so beklemmend, aber auch sehr gut geschrieben, daß ich es auch schon weiter empfohlen habe. Für mich ein überwältigendes Buch, das man nie vergessen wird.


    ciao Richie

  • Ich habe dieses Buch Anfang des Monats gelesen und es hat mich so bewegt, dass ich nicht gleich eine Meinung schreiben konnte.


    Zwischendurch hatte ich das Gefühl, den Protagonisten schütteln zu müssen, um ihn endlich die Wut spüren zu lassen. Aber nein, immer wieder hat er alles hingenommen, hat alles eingesehen, das müsse halt so sein. Mir fällt es unglaublich schwer seine Naivität und Gelassenheit zu begreifen - aber wahrscheinlich war das genau sein Weg, mit den Grausamkeiten fertig zu werden und zu überleben. Ich merke, dass es mir immer noch schwer fällt, meine recht wiedersprüchlichen Gedanken zu formulieren.


    Ich finde, dieses Buch sollte Pflichtlektüre in allen Schulen werden - es ergibt so viel Diskussionsstoff und ich vermute - weiss es aber nicht - das in dem Buch auch viele Schlüssel stecken, um die Geschehnisse ansatzweise zu begreifen.


    Lesen!

  • "Wenn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich. Wenn es aber die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal. Das heißt also, wir selbst sind das Schicksal."


    Nach dem ich an der Leserunde leider nicht teilnehmen konnte, habe ich aber heute zumindest dann doch den Roman beendet und kann mich den begeisterten Rezensionen hier nur anschließen. Er hat mich sehr tief bewegt und beeindruckt.


    Der Erzähler des Buches - György - wird im Verlauf des Buches in verschiedene Konzentrationslager transportiert. Er ist noch ein Jugendlicher und aus seiner - "jugendlichen" - Perspektive wird dann auch die Geschichte und das Erleben der Konzentrationslager erzählt.


    Zitat

    So habe ich dann gemerkt: selbst in Auschwitz kann man sich offenbar langweilien - vorausgesetzt man gehört zu den Privilegierten. Wir warteten und warteten - und wenn ich es recht bedenke, so warteten wir eigentlich darauf, dass nichts geschähe. Die Langeweile, zusammen mit diesem merkwürdigen Warten: das, ungefähr dieser Eindruck, glaube ich, ja, mag in Wiklichkeit Auschwitz bedeuten - zumindest in meinen Augen.


    Der Ton des Buches ist häufig ein bisschen banal, aber auch sehr berührend und es gibt daneben auch viel schwarzen Humor.


    Ein Roman, den man gelesen haben sollte und ich werde sicherlich noch weitere Bücher von Kertész lesen - das "Galeerentagebuch" steht schon bei mir im SUB. :-)

  • Es wurde hier ja schon alles Wesentliche gesagt: ein ungemein beklemmender Roman, der vor allem zu Beginn mit seinem naiven Erzählton verblüfft. In weiterer Folge wird der Hauptperson langsam klar, was mit ihr geschieht und es werden dem Leser die Schrecknisse der Vernichtungslager quasi zwischen den Zeilen vor Augen geführt.
    Ein sehr bewegendes, wichtiges Buch, dem man nur viele Leser wünschen kann, auch wenn das (leider realistische) Ende traurig und nachdenklich stimmt.