Wir müssen über Kevin reden - Lionel Shriver

  • Wir müssen über Kevin reden - Lionel Shriver


    (Originaltitel: We need to talk about Kevin)


    Klappentext:
    Evas Sohn Kevin hat eine furchtbare Gewalttat begangen: In der Schule hat er mehrere Menschen getötet. Von allen verurteilt und von jetzt an auf sich gestellt findet Eva den Mut, sich in aller Offenheit quälenden Fragen auszusetzen: Hätte sie ihre Ehe retten können? Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Hätte sie das Unglück verhindern können?


    Zur Autorin:
    Lionel Shriver lebt als Schriftstellerin und Journalistin in London und New York. Sie arbeitet u.a. für The Wall Street Journal und The Economist. Für diesen Roman bekam sie den Orange Prize, einen der wichtigstens internationalen Literaturpreise.


    Bin vorhin im Bus damit fertig geworden und leide noch nachhaltig an den Folgen eines wirklich guten Buches - ich kann kein neues anfangen, weil ich darüber nachdenken muss. Es ist eines dieser Bücher, die dich gefangen nehmen und ich habe erst realisiert, dass es jetzt zu Ende ist, als ich keine Seiten mehr umblättern konnte. Das Ganze ist aus der Sicht von Kevins Mutter geschrieben, die Briefe an seinen Vater und ihren Mann Franklin schreibt, indem sie vor allem die Frage nach dem "Warum" aufarbeitet. Erschreckend ehrlich zeichnet die Autorin das Portrait einer wohlhabenden, amerikanischen Familie, ein "gutes Haus", wie man sagen würde und durchleuchtet als Eva Khatchadourian deren ganzes Leben, angefangen bei der Schwangerschaft mit Kevin bis hin zu seinem achzehnten Lebensjahr. Der Roman beginnt ein wenig schleppend, der Leser wird in das Leben dieser fremden Frau hinein geworfen und mit ihren Gedankengängen vertraut gemacht, ohne eine Beziehung zu ihr aufgebaut zu haben. Es wird viel auf die USA eingegangen, auf die Haltung und Umgangsformen der Gesellschaft, ein Faden, der sich bis zum Ende hindurch zieht. Aber schon nach ein paar Seiten verfliegt das "Langatmige". Man wird in dieses Leben hinein gezogen, versucht die Menschen zu verstehen, dahinter zu kommen, warum sie auf diese und jene Art und Weise agieren und reagieren. Man denkt mit. Die Personen in diesem Buch werden nicht in Engel und Teufel eingeteilt und der Leser wird beinahe gezwungen, sich ein eigenes Bild von ihnen zu machen. Auch wenn die Gedanken und Handlung Evas manchmal schwer nachvollziehbar waren, so habe ich doch gemerkt, dass ich mich bemühte zu verstehen und zum Ende kommt man nicht umhin, Bewunderung zu empfinden. Es ist kein Betroffenheitsbuch. Es ist keine Geschichte, die Mitleid erregt. Sie ist erschreckend und letzten Endes wahrscheinlich zu wahr, um schön zu sein.


    Ich bin sehr beeindruckt :-)

  • Danke fuer deine so positive Rezension! Das Buch wurde mir letztens schon von einer Bekannten empfohlen. Und ich hab es mir in der Buecherei vormerken lassen. Ich glaub ich werd es baldigst aktualisieren, denn ich brauche dringenst ein wirklich gutes Buch. Ich hab dies Jahr noch kein echtes Highlight gefunden ...

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Nach der Lektüre dieses Buches stehen mir die Tränen in den Augen. Selten hat mich etwas so mitgenommen wie diese Geschichte der Verzweiflung, dieses Scheitern von Beziehungen, dieses Sezieren der Sinnlosigkeit.
    Als Mutter von 4 Kindern hat mich die Frage "Warum?" interessiert, die, wie ich mir ohnehin vorher schon dachte, nicht beantwortet wird, vielmehr wird sehr gut herausgearbeitet, dass sie nicht beantwortet werden kann.


    Ich habe fast durchgehend mitgelitten, vieles war mir sogar vertraut, meine Gefühle für die handelnden Personen haben ständig gewechselt. Der Schluss war allerdings für mich fast nicht erträglich (oder eher das vorletzte Kapitel), das hat einiges an meinem Verständnis für die Mutter, das ja sonst voll und ganz da war, gelöscht.


    Wie an einer Stelle so schön beschrieben wird: der Trick ist, sich mit dem was dargestellt wird, zu identifizieren, sich hineinzuversetzen, und das ist mir bestens gelungen.



    Geschrieben ist das Buch sehr gut und flüssig, teilweise richtig "schön" und philosophisch. Mir haben die amerikanischen Schilderungen gefallen und meinen Horizont vielleicht ein bißchen erweitert, mehr jedenfalls, als ich es einem Michael Moore zutraue.


    Und ich nehme heute meine Kinder ein wenig fester in den Arm.

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Zitat

    Original von Lotta
    ...letzten Endes wahrscheinlich zu wahr, um schön zu sein.


    Hallo Lotta,


    vielen Dank für diese wunderbare Rezension.
    Der zitierte Ausschnitt gefällt mir am besten.
    Ich werde es auf jeden Fall lesen.


    :wave

  • Gerade eben habe ich das Buch fertiggelesen und wie so oft, schau ich hier bei den Eulen nach, wenn mich ein Buch bewegt und aufgewühlt hat.


    Ich habe der Rezession von Lotta nichts hinzuzufügen, die war Klasse. aber eins möchte ich Euch doch erzählen:


    Mein Mann wartete schon gespannt auf das Buch und ich wollte es ihm heute noch nicht geben. Ich hatte das Gefühl, dass ich, mit dem Wissen der letzten beiden Kapitel (oder der letzten beiden Briefe) das Buch SOFORT noch einmal lesen muss......um mich besser zurechtzufinden, oder ich weiß gar nicht genau warum!


    Was mir besonders gefallen hat, dass in diesem Buch das Thema nicht reisserisch oder verständnisvoll oder verabscheuend beschrieben wurde, sondern man hatte das Gefühl.....ja, das gibt es wirklich. Ich meine jetzt nicht, dass Kinder Massaker anrichten, sondern ich meine *Kevin*.


    Interessant war auch, dass die unterschiedlichen Sichtweisen von Vater und Mutter auf Personen und Ereignisse das Buch *spannend* machten, nicht die Zuschaustellung eines Massenmörders.


    Das einzige, was ich vollkommen anders empfand als Lotta war folgendes:


    *Auch wenn die Gedanken und Handlung Evas manchmal schwer nachvollziehbar waren, so habe ich doch gemerkt, dass ich mich bemühte zu verstehen und zum Ende kommt man nicht umhin, Bewunderung zu empfinden.*


    Da habe ich nachgeschaut und Lottas das Alter gesehen, da war mir alles klar! Denn für mich waren Evas Handlungen durchaus nachvollziehbar, aber ich habe drei Kinder großgezogen und das wird den Unterschied ausmachen!

    Wer das Ziel nicht kennt, wird den Weg nicht finden.

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  • Liebe Bea, freue mich, dass dir das Buch ebenso gefallen hat... und für dich war wirklich alles nachvollziehbar?


  • Ja, es war alles nachvollziehbar!


    Ich habe drei Kinder großgezogen und viele andere aufwachsen sehen. Es gibt solche Kinder, wenn ich sowohl Kevin, als auch seine Mutter schon als sehr extrem empfunden habe.
    In meinem Freundeskreis gibt es ein solches Mädchen und je älter sie wurde, desto weniger hatte die Mutter Zugang zu ihr. Es war, als ob dieses Mädchen ( sie hatte insgesamt 4 Kinder) nicht in die Familie gehört hätte, als ob sie ein Alien wäre. Meine Freundin liebt ihr Kind sehr und litt sehr darunter.


    Mir ist es immer eher so gegangen, wie in dem Satz, der vorangestellt wurde: Kinder brauchen dann unsere Liebe am dringensten, wenn sie sie am wenigsten verdienen.
    D.h. ich liebte immer das Sorgenkind ein wenig mehr, oder besser gesagt *anders* als die Geschwister.


    Das heißt ja nicht, dass mir Eva sehr sympatisch war, aber der Vater als Gegenpol, der war doch genauso schlimm.


    Ich würde Dir mal *das fünfte Kind* von Doris Lessing empfehlen. Ich dachte schon bei der Geburt von Kevin an dieses Buch.


    Aber wie gesagt, ich kann Deine Meinung dazu voll verstehen. Man idealisiert im jugendlichen Alter noch mehr, als später, wenn man etwas abgeklärter ist.


    lg Bea

  • Im großen und ganzen schliesse ich mich Bea an, nur befinde ich mich selber noch mitten im Erziehungsprozeß. Sehr vieles kenne ich von mir und meinen beiden älteren Kindern (die eindeutig "schwieriger" sind als die zwei jüngeren), nur biegt bei uns die Geschichte dann auch immer wieder anders ab.


    Aber dass man wehrlosen Kleinkindern gegenüber nicht nur hehre Gefühle hegen kann, muss sich wohl jeder Elternteil irgendwann mal eingestehen.


    Ich musste übrigens auch manchmal an das "Fünfte Kind" denken!

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Zitat

    Original von Bea


    Das heißt ja nicht, dass mir Eva sehr sympatisch war, aber der Vater als Gegenpol, der war doch genauso schlimm.


    Da stimme ich dir natürlich zu...


    Zitat

    Ich würde Dir mal *das fünfte Kind* von Doris Lessing empfehlen. Ich dachte schon bei der Geburt von Kevin an dieses Buch.


    *notier* :write Danke für den Tipp!


    Mag sein, dass ich "idealisiere", und trotzdem.. ich rede ja nicht nur von den Gefühlen,von denen ich ja tatsächlich keine Ahnung habe, außer dem, was meiner Fantasie entspringt, sondern auch von z.B. Selbstbeherrschung.. ich sage ja nicht,dass man sich entscheiden kann, zu lieben, aber wie man als erwachsener Mensch mit dem, was man denkt und fühlt umgeht, besonders "wehrlosen" Kindern gegenüber, das fand ich bei Eva schwer nachvollziehbar.


    Liebe Grüße
    Lotta :wave

  • Erstaunliche Erkenntnisse, die du da hast: *man kann sich nicht für die Liebe entscheiden*, das ist wirklich wahr!
    Und ein Kind, das dich dauernd ablehnt....das ist schwierig. Mutterliebe und auch Kindesliebe werden einem nicht in die Wiege gelegt.


    Wobei ich aber einschränke: so extrem, wie in diesem Buch, wird es wohl sehr selten ablaufen. Aber das ist die dichterische Freiheit. Und Eva relativiert ja auch ganz am Ende des Buch sehr.


    Macht Spass sich mit Dir zu unterhalten, bist du echt erst 1990 geboren, also 16 Jahre alt?


    Hut ab! lg Bea

    Wer das Ziel nicht kennt, wird den Weg nicht finden.

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  • So sehe ich das auch, deswegen gefällt mir das Buch aus besonders zum Ende hin, man findet sich hinein. Auch das finde ich an der Schreibe bewundernswert, wie realitätsnah es dennoch scheint!


    Ja,ich bin 1990 geboren und 16 Jahre alt.. Dankeschön:-)


    LG
    Lotta

  • Ich habe gerade mit dem Buch angefangen und bin noch nicht sehr weit. Ist das ganze Buch denn in solch einer 'Briefform' geschrieben wie das erste Kapitel?

    "Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig."

    - Ernst Reinhold Hauschka

    Zitat

  • Zitat

    Original von Morgana
    Ich habe gerade mit dem Buch angefangen und bin noch nicht sehr weit. Ist das ganze Buch denn in solch einer 'Briefform' geschrieben wie das erste Kapitel?


    Ja, ist es :-) Aber zum Ende hin wird es "flüssiger" bzw. ich hab mich besser hinein gefunden..

  • Ich habe heute morgen auch mit diesem Buch begonnen.


    Die ersten Seiten waren für mich sehr anstrengend, weil mir die Sätze viel zu lang waren. Ich mußte teilweise zwei- oder dreimal lesen, um hinter den Sinn zu kommen.


    Langsam habe ich mich aber an den Stil gewöhnt. Er gefällt mir.


    Das Buch scheint mir vor allem eines zu sein: Ehrlich.


    Es wird nicht versucht zu kaschieren oder etwas besser darzustellen.


    Der natürliche Egoismus der Mutter, die sich nicht sicher war, ob sie wirklich ein Kind wollte, sich dann aber aus einem Sammelsurium von (Schein-)Gründen dafür entschied, wird absolut authentisch beschrieben.


    Gerade der Anfang des Buches trifft mein derzeitiges Lebensgefühl. Mit meinen heute 30 Jahren kann ich dieses Abwägen nach allen Richtungen gut nachvollziehen.


    :wave

  • Ich bin fertig.


    Man kann es nicht in einem Rutsch durchlesen, dafür ist es zu intensiv.
    Zudem sind die Gedankengänge durch diesen Brief-Stil teilweise sehr sprunghaft: Vom hundersten ins tausendste, von dort zurück auf das zehnte. Aber es ist absolut authentisch und echt geschrieben.


    Ich konnte die Mutter über weite Strecken gut verstehen. Die Ohnmacht, mit der sie den vielzähligen gemeinen Attacken ihres Kindes ausgesetzt war. Die mangelnde Unterstützung, die ihr durch ihren Mann gewährt wurde.


    Das habe ich nicht verstanden: Wieso sie ihren Mann nicht stärker in die Verantwortung gezogen hat, wieso sie seine unbegrenzte Naivität Kevin gegenüber nicht schonungslos entlarvt hat. Aber wahrscheinlich hatte sie keine Chance, da sein Standpunkt zementiert war.



    Es gibt zu diesem Buch unendlich viel zu sagen. Einiges ist schon gesagt worden. Den großen Rest erfährt man durch selbst lesen, was zu empfehlen ist. :-)


    :wave

  • Meine Meinung:


    Kevin Khatchadourian ist 15, als er in der Turnhalle seiner Schule mehrere Mitschüler, Lehrer und einen Angestellten aus der Cafeteria tötet. Er wird gefasst und verurteilt. Das Buch erzählt seine Geschichte in Form von Briefen, die seine Mutter, Eva, an seinen Vater, Franklin, schreibt...


    Es ist ein heftiges Buch, welches ich nur häppchenweise vertragen habe. Immer wieder musste ich es auf Seite legen und etwas Abstand gewinnen. Anfangs etwas zäh und schleppend erzählt es gnadenlos ehrlich von Evas Leben und ihren Gedankengängen, wie es dazu kam, dass Kevin geboren wurde bis hin zu den Morden in der Turnhalle. Diese gnadenlose Ehrlichkeit, mit der Eva von ihren 'negativen' Gefühlen zu ihrem Sohn hin erzählt, ist sehr erschreckend. Ich habe oft zwischen Verständnis und Abneigung geschwankt. Abneigung gegen sie, Abneigung gegen ihren Sohn und die Art, wie beide miteinander umgegangen sind. Dieses hat sich bis zum Ende immer weiter gesteigert, um dann, letzten Endes, das Buch mit einer Mischung aus Ekel, Verständnis, Mitgefühl und Verwirrtheit aus der Hand zu legen... Mit Sicherheit ist es kein einfaches Buch. Auf jeden Fall ist es eines, welches sehr zum Nachdenken anregt...

    "Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig."

    - Ernst Reinhold Hauschka

    Zitat

  • Ich habe das Buch soeben ausgelesen, und finde es noch ein wenig schwierig, die richtigen Worte zu finden.


    Ein sehr erschreckendes Buch, aufrichtig und schonungslos erzählt, zum Ende hin teilweise sogar schwer erträglich, was nichts mit der Qualität dieses Buches zu tun hat, sondern mit dem Inhalt. Ein Buch, das einen nicht so schnell loslässt. Eigentlich mag ich Briefromane nicht wirklich, weil ich nicht das Gefühl habe, das man die ganze Geschichte geliefert bekommt. Kevins Mutter arbeitet in diesen Briefen wirklich die ganze Geschichte auf, selbstkritisch und auch sozialkritisch. Ein Buch, das, wenn auch nicht leicht zu verdauen, sicherlich eines meiner Highlights dieses Jahres wird. Absolut empfehlenswert!

  • Ich habe gestern mit dem Buch angefangen, und bin jetzt ca. auf Seite 60. Irgendwie hab ich beim lesen die ganze Zeit ein beklemmendes Gefühl, die Thematik ist ja derzeit (leider) ständig in den Medien.


    Sagt mal, antwortet Ihr Ex Mann auch mal- oder schreibt sie das ganze Buch durch die Briefe?


    Das Buch ist nicht leicht verdauliche Kost, manche Sätze lese ich 2-3x bis ich ihn verdaut habe. Trotzdem weiß ich jetzt schon, daß es für mich ein Highlight des Jahres sein wird.

    LG Katja :wave


    "Die reinste Form des Wahnsinns ist es ,
    alles beim alten zu lassen .
    Und gleichzeitig zu hoffen , das sich etwas ändert."-Albert Einstein ."


    :lesend "FÜNF "- Ursula Poznanski