Manon Lescaut – Antoine-François Prévost d’Exile, gen. Abbé Prévost

  • Manon Lescaut geistert immer noch durch die Listen der sogenannten Weltliteratur. Warum?
    Es ist ein Roman über die Liebe. Nur über Liebe, die blinde Liebe, die wilde, alleinseligmachende, ausschließliche, nichts Anderes anerkennen wollende und damit letztlich tödliche Liebe. Die Liebe, die die Welt verschlingt.
    Der Roman erschien zuerst 1731, damals noch als siebter Band einer Reihe von ‚Erinnerungen eines vornehmen Mannes’ (Mémoires d’un homme de qualité). In Frankreich wurde er sofort verboten, das war aber fast normal, denn dort herrschte eine rigide Zensur und die Bücher, die bei Erscheinen nicht umgehend auf dem Index landeten, waren schon fast schlecht angesehen. Er wurde dann wie üblich in Holland weitergedruckt und breitete sich aus. 1753 gab der Verfasser, der seinerseits ein recht buntes Leben hatte (Abbé Prévost ), eine leicht bearbeitete Version heraus, etwas moralisierter, behaupten die Literaturlexika. Ich kann es nicht sagen, ich kenne die ursprüngliche Fassung nicht.
    Der Originaltitel lautet: Histoire de Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut und so heißt der Roman auch heute wieder. Im kulturellen Gedächtnis geblieben aber ist als Titel der Name Manons, der Protagonistin, obwohl die Geschichte vom Chevalier erzählt wird und Manon niemals direkt zu Wort kommt.
    Die Geschichte hat eigentlich zwei Erzähler. Der erste ist der fiktive Verfasser der Mémoires, der uns gleich mit einem dramatischen Erlebnis mitten ins Geschehen führt. Unterwegs auf einer Reise trifft er auf Soldaten, die zwölf aneinandergekettete Frauen und Mädchen nach Le Havre schaffen, von wo aus sie nach Amerika verschifft werden sollen, Verbrecherinnen also, die in die Kolonien abgeschoben werden. Unter ihnen fällt eine ganz besonders durch ihre Schönheit auf. In der Nähe der Frauen hält sich ein höchst unglücklich aussehender junger Mann auf. Unser erster Erzähler spricht ihn an und erfährt von ihm, der eben der Chevalier des Grieux ist, die näheren Einzelheiten.
    Der Chevalier traf, als er gerade 17 war, ein sehr junges Mädchen auf dem Weg ins Kloster, in das es von ihren Eltern geschickt wurde. Die beiden verlieben sich auf der Stelle und brennen durch nach Paris. Das Glück ist umfassend, währt aber nicht lange, Geldnot drückt. Manon beginnt ein Verhältnis mit dem reichen Nachbarn, der Chevalier wird, noch ehe er begreift, was da passiert, von seiner Familie aufgespürt und nach Hause geschleppt. Letzteres ist wörtlich zu nehmen, die Sitten waren damals etwas rauher. Er bereut ein wenig und verspricht, daß er sich von nun an seiner Karriere und dem Studium widmen wird.
    Das Schicksal will es anders, es führt ihm nicht lange danach Manon wieder über den Weg. Sie ist inzwischen Geliebte eines anderen Herrn, aber kaum, daß die beiden sich sehen, flammt die alte Liebe wieder auf. Hier beginnt ein Muster, das sich wiederholen wird. Sie tun sich zusammen, der Chevalier gibt jede anständige Beschäftigung auf und versucht sich als Glücksspieler, um zu Geld zu kommen. Sie versuchen auch, dem reichen Liebhaber Geld zu stehlen, werden erwischt, Manon kommt ins Arbeitshaus. Es kommt zu einer dramatischen Befreiung, zur Trennung, zum erneuten Treffen, zum nächsten geplanten Verbrechen, zur erneuten Verhaftung. Diese zweite Verhaftung ist der Grund für die Abschiebung in die Kolonien, nach Louisiana. Der Chevalier begleitet Manon. Er kann ohne sie einfach nicht leben.
    Doch auch in der neuen Welt ist ihnen kein Glück beschieden. Wegen Manon duelliert sich des Grieux. Im Glauben, seinen Gegner getötet zu haben, flieht er mit Manon. Sie stirbt auf der Flucht. Der Chevalier wird gefunden, rehabilitiert – sein Gegner ist nicht tot – und nach Frankreich zurückgeschickt. Er bedauert seine Fehler, niemals aber seine Liebe zu Manon.


    Das ist alles sehr gefühlig und voller Händeringen und Tränen erzählt, wir befinden uns schließlich im Zeitalter der Empfindsamkeit. Da der Autor ausgesprochen gut erzählen kann und sein Französisch im Griff hat, kann man es aber selbst heute noch hingehen lassen. Die Güte der Sprache zeigt sich auch in den Übersetzungen.


    Wie nun soll man dieses Buch verstehen?
    Man kann es im Kontext der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lesen, eine moralische Geschichte von einem jungen Mann, der sein Leben – Familie, Freunde, Karriere – wegwirft um der Liebe willen. Der sich gegen die Vernunft entschiedet. Der dem selbstzerstörerischen Wahn einer neuen Generation verfällt, die die moralischen Maßstäbe der Eltern nicht mehr respektiert.
    Man kann es lesen als die Geschichte eines jungen Mannes, den die Leidenschaft in die Arme einer weltlich gesinnten Verführerin treibt, die ihm den Ruin bringt. Adam in den Fängen der ewig verführerischen Eva. Man kann es lesen als Parabel über die Macht der Liebe, die so groß ist, daß nur der Tod Erlösung sein kann. Man kann es lesen als Geschichte des fundamentalen Nichtverstehens zwischen den Geschlechtern, von des Grieux, der eben blind ist vor Liebe und nicht erkennen kann, welchen Zwängen Manon ausgesetzt ist, unfähig zu begreifen, daß Liebe allein den Tisch nicht deckt.
    Man kann es auch ganz modern lesen, als die Geschichte der Besessenheit eines Mannes, der eine junge Frau, die erkennt, daß sie einander nicht guttun, nie in Ruhe lassen kann. Gleich, zu wem sie flüchtet, gleich, wie sie ihr Leben einrichtet, er taucht immer wieder auf und macht seinen Anspruch geltend. Sie kämpft gegen diese Liebe an, muß sich aber immer wieder ergeben.
    Ist er ihr Opfer? Oder sie das seine? Wer tötet wen? Wer hat das bessere Teil erwählt, Manon im Tod oder der ewig unglückliche Chevalier im weiteren Leben?
    Daß der kleine Roman die LeserInnen seit Generationen beschäftigt, zeigen nicht nur die regelmäßigen Neuauflagen, ganz gleich, wie laut die Sittenwächter aufschrien, sondern auch die nicht wenigen Bearbeitungen für die Bühne, als Schauspiel, Ballett und Opern. Dumas’ Kameliendame ist schließlich auch nichts als eine jüngere Interpretation des Ganzen.
    Auch wenn es nicht ganz leicht zu lesen und zu verstehen ist, hat diese Geschichte eine gewisse Faszination und bildet keine schlechte Diskussionsgrundlage für die Frage: was eigentlich bedeutet Liebe für Menschen?
    Könnte ich mir etwas wünschen, dann wollte ich allerdings, daß bei der Beantwortung der Frage zuerst Manon zu Wort kommt. Endlich zu Wort kommt.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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