Die Analphabetin - Agota Kristof

  • Handlung:
    Agota Kristof erzählt eindrücklich in elf kurzen prägnanten Kapiteln die Geschichte ihrer Herkunft. Die frühe und vorerst wohlbehütete, wenn auch bescheidene Kindheit im Kreis ihres Elternhauses in Ungarn, der Vater ein Dorfschullehrer mit mäßigem Einkommen, ihr Heranwachsen während und nach dem Zweiten Weltkrieg, als von einem Tag auf den andern in den Schulen nur noch russisch gesprochen und gedacht werden musste, die Verhaftung des Vaters, ihre "Kasernierung" in einem staatlichen Internat, der Tod Stalins, anlässlich dessen die Zöglinge angehalten wurden, über den verstorbenen "Großen Freund der Werktätigen" zu schreiben, ihre Flucht im November 1956, als sie ihrem jungen Ehemann zusammen mit einer Handvoll Flüchtlingen ins Ungewisse folgte, schließlich die Ankunft in der Schweiz und damit für sie, wenn auch in Sicherheit, so doch in einer kulturellen Wüste, weil der Sprache nicht mächtig. Zur Analphabetin geworden, musste sie, die doch mit vier Jahren bereits lesen konnte, mit ihren Kindern erneut lesen und schreiben und die für sie neue französische Sprache erlernen.



    Zur Autorin:
    Agota Kristof wuchs in dem ungarischen Dorf Czikvánd auf und kam mit 14 Jahren ins Internat. 1956, nach der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes, floh sie zusammen mit ihrem Mann, der bis zu ihrem Abitur ihr Geschichtslehrer war, und ihrer viermonatigen Tochter in die Schweiz. Kristof fand Arbeit in einer Uhrenfabrik und erlernte die französische Sprache, in der sie seit den 1970er-Jahren ihre Bücher und Hörspiele schreibt. Nach fünf Jahren im Exil verließ sie ihren Mann, gab ihre Arbeit in der Uhrenfabrik auf und besuchte Sommerkurse in Französisch an der Universität Neuchâtel. Agota Kristofs Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden. Heute lebt sie in Neuchâtel


    Weitere Bücher: Das große Heft, Der Beweis, Die dritte Lüge, Gestern



    Meine Meinung:
    Das Buch ist sehr schmal (75 Seiten), und groß gedruckt. Trotzdem schafft es die Autorin mit wenigen Worten große Sprachbilder von klarer, eisiger Schönheit zu erzeugen, die trotz Kargheit und Kälte nicht unberührt lassen.
    Die autobiographisch geprägte Erzählung behandelt die Themen karge Kindheit im Dorf, verlorene und ärmliche Jugendjahre im Internat während des Stalinismus, Flucht aus Ungarn über Österreich in die Schweiz, Sprache, Sprach- und Heimatverlust und das geistige Überleben durch Schreiben.
    Das Kristof diese autobiographischen Ecksteine ihres Lebens mit minimalistischen Aufwand zusammenfassen kann, macht ihre Größe aus, die sie z.B. mit Tomas Tranströmer und seiner Autobiographie "Die Erinnerungen sehen mich" teilt. Dazu brauchen andere Autoren dicke Bücher von über 500 Seiten und drücken doch noch weniger aus.
    Kristof Text ist eine Trauer über den Verlust der Vergangenheit, sei sie auch noch so hart. Mit ihren überraschenden und gegen die Erwartung gesetzten Schlussfolgerungen, gewonnen aus ihren Erfahrungen, bricht Kristof eine voreingenommene Lesehaltung auf und vermittelt so eine überraschende Erkenntnisse.
    Besonders die Abschnitte über Literatur am Beispiel Thomas Bernhard, ihren ersten Theaterstücken und Romanen sind für am literarischen Entstehungsprozess Interessierte sehr eindruckvoll. Es ist möglich aus Kristof´s Büchern Trost zu gewinnen, seien sie auch noch so deprimierend und hart geschildert. Das galt schon für ihre Romane Das große Heft und Gestern, aber noch vielmehr für "Die Analphabetin".

  • Hallo Palomar,


    Deine Buchbeschreibung ist sehr schön und trifft es auf den Punkt.
    Ich war von diesem Buch tief beeindruckt.


    Liebe Grüsse Lesesucht

    Man sieht nur mit dem Herzen gut,....
    [SIZE=7] A. de Saint-Exupéry[/SIZE]



    Aktuelles Buch:

  • Ich war von den Amazon-Rezensionen teilweise abgeschreckt, aber nach deiner Beschreibung setze ich es nun doch auf meine Wunschliste. Ihr Schreibstil scheint etwas Besonderes zu sein!

  • Auf 75 Seiten erzählt die 1935 in Ungarn geborene Autorin Agota Kristof ihr Leben. Wie üblich schreibt sie in wortkargen Sätzen, Sätze die aber ungeheuer eindringlich sind. Wo andere viele Worte und Buchstaben vergeuden, da gelingt es Agota Kristof mit ganz wenigen Worten das Wesentliche zu sagen. Beeindruckend ist dabei die Tiefe ihrer Erzählungen. Auch diese autobiographische Erzählung lässt den Leser nicht schnell aus ihrem Bann.


    Mit großer Intensität lässt sie den Leser an ihrer Kindheit in Ungarn teilhaben, auch ins Internat begleitet der Leser die Autorin und auch die Flucht nach Österreich und später in die Schweiz wird mit wenigen kargen Worten unendlich eindringlich erzählt.


    Agota Kristof erzählt teilweise mit distanzierter Kühle, die aber bei näherem Hinsehen alles andere als kühl ist. Eine Autorin die es wirklich wert ist gelesen zu werden; deren Erzählungen sich durch eine große Offenheit und Ehrlichkeit auszeichnen. Eine Autorin, die absolut nicht enttäuscht. Sehr lesenswert.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Meine Meinung:
    Taschenbuch, insgesam 75 Seiten, unterteilt in elf Kapitelchen (wobei die Verniedlichung einzig ihrer Kürze geschuldet ist), großzügiger, augenfreundlicher Druck.


    Extreme: Behütete Kindheit mit Platz und Gelegenheit für Spiele und Streiche, früh infiziert vom Lesefieber. Als die Kommunisten die Herrschaft in Ungarn übernehmen, wird die Familie zerrissen wie so viele andere auch: der Vater inhaftiert, die Mutter mit dem jüngsten Sohn kämpft ums tägliche Überleben, der ältere Bruder und sie selbst werden in unterschiedlichen Internaten untergebracht. Was man so Internat nennt in Zeiten politischer Diktaturen: Drill, Lieblosigkeit, Hunger und Kälte prägten den Alltag und die Kinder. Flucht mit Mann und Kind nach Österreich, später Ansiedlung in der Schweiz. Erlernen einer neuen Sprache, von der sie sagt, sie habe sie nicht gewählt und beherrsche sie auch nicht.


    Sie, das ist Agota Kristof; eine Meisterin des Wortes scheint sie mir zu sein. Egal, in welcher Sprache, die Übersetzung ins Deutsche zeigt, so glaube ich, ihre Einzigartigkeit. Ihre Genauigkeit, aber auch ihre Kälte. Ihre Fähigkeit zur Reduktion auf das absolut Notwendige, um verstanden zu werden. Mehr ist nicht nötig, so erscheint mir ihre Sprache, die Neugier des Lesers über das Gesagte hinaus befriedigt sie nicht resp. nur in dem Maße, als sie Weniges von sich preiszugeben bereit ist. Und doch versteht man.


    Es sind wenige Momente, in denen sie aus ihrem gewählten Minimalismus heraustritt und einen winzigen Blick auf ihre innere, ihre Gefühlswelt zulässt, beispielsweise als sie ihre Mutter noch einmal sieht, in Ungarn, mehr als eine Umarmung findet keinen Raum mehr. Oder ihre Begeisterung für Thomas Bernhard.


    Manchmal habe ich den Text als schwer auszuhalten empfunden, weil ich das Gefühl hatte, alleingelassen zu werden, meine Interpretation, meine Gefühle beim Lesen fanden keine Entsprechung im Text. Es ist fast schon zu reduziert, zu sehr Nüchternheit und Konzentration. Aber manchmal muss man sich dem wohl aussetzen, schon um der eigenen Bodenhaftung willen.

  • Kurzbewertung vom 3. Februar 2018:


    Dieses kleine Büchlein habe ich ausgesetzt auf den Treppenstufen im Treppenhaus gefunden und mit zu mir ins Warme genommen. Die knapp 75 Seiten in Großdruck lesen sich rasch mal durch.


    Es macht auch inhaltlich einen verhungerten Eindruck und am liebsten würde ich es anfüttern, damit daraus etwas Ansehnliches wird. Aber diese reduzierte Sprache war wohl der Autorin eigen, wie ich aus verschiedenen Rezensionen zu diesem und anderen Werken erfahren habe.


    Irgendwie habe ich den Eindruck, die Autorin war sich nicht sicher, ob sie nun von ihrem spannenden Leben erzählen will oder lieber das Mäntelchen des Vergessens darüber breiten möchte. Vieles wird knapp berichtet oder nur nebenbei erwähnt. Man ahnt, dass da einige dramatische Dinge passiert sein müssen, aber erfährt nicht, wie es tatsächlich genau war und wie es von der aus ihrer ungarischen Heimat geflohenen Lehrerstochter empfunden wurde.


    Trotzdem habe ich mir jetzt den Roman "Gestern" von Agota Kristof bestellt. Mal sehen, ob sie ausführlicher erzählen kann, wenn sie nicht über sich selber schreibt.


    Edit (20. Februar 2018):

    Inzwischen habe ich "Gestern" gelesen. Es steht zwar Roman auf dem Cover und bringt es in der Taschenbuchausgabe wenigstens auf 133 Seiten, aber ich würde es dennoch eher als erweiterte Kurzgeschichte sehen. Das ganze Drama eines gescheiterten Lebens in nüchterne Worte gefasst befriedigt ein mitfühlendes Leserherz kaum.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte