Klassiker lesen, heißt es immer. Hier haben wir einen, der allen Anforderungen entspricht. Er ist alt, vor fast 200 Jahren, 1809, erschienen, er stammt vom Dichter der Dichter, noch dazu aus dessen reifen Jahren (Goethe war Ende 50, als er diesen Roman schrieb) und er ist in Sprache, Aufbau, Handlung und Charakterschilderung ein Paradebeispiel für die sogenannte Klassik in der deutschen Literaturgeschichte. Was fehlt noch? Ach, ja, er ist höchst knifflig und nicht leicht zugänglich. Klassischer geht es wohl nicht.
Das Knifflige beginnt schon beim Titel. Verwandtschaft und Wahl haben wir da und denken an Menschen. Sollen wir tatsächlich, aber das Wort selbst stammt aus der Chemie und bezeichnet das, was heute unter dem Begriff ‚Affinität’ verstanden wird. Es geht, grob gesprochen, um chemische Elemente, die eng miteinander verbunden sind, sich unter veränderten Bedingungen aber anderen Elementen anschließen, obwohl sie zunächst untrennbar erschienen. Dieser Grundgedanke, der im vierten Kapitel der ersten Bands ausführlich dargelegt wird, hat dem Roman hin und wieder die Bezeichnung ‚Chemisches Experiment’ eingebracht.
Das ist es aber nicht. Der Autor bemüht sich zwar, nicht parteiisch zu sein und somit den Standpunkt eines objektiven, wissenschaftlichen Beobachters und Berichterstatters einzunehmen, er selbst hat aber zugleich in hohem Maß einen menschlich-moralisch Standpunkt und ist damit alles andere als unabhängig.
Die ganze Geschichte ist eine eingehende Studie menschlichen Verhaltens. Es ist ein Roman über die Liebe und die Möglichkeiten, diese unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen in Bindungen bzw. Verbindungen umzusetzen.
Die Geschichte beginnt mit dem Ehepaar Eduard und Charlotte, adelig, vornehm, vermögend. Sie haben sich schon in früher Jugend gekannt, sich ineinander verliebt, aber zunächst aus Rücksicht auf die Wünsche ihrer Eltern aufeinander verzichtet und andere, in beiden Fällen ältere Partner geheiratet, des Geldes und des gesellschaftlichen Aufstiegs wegen. Nach ca. 10 Jahren waren beide verwitwet und konnten endlich ihre Liebesehe schließen. Nun leben sie auf Eduards Schloß in seliger Zweisamkeit, lesen, musizieren, verwalten das Gut und legen den Garten und umgebenden Park an. In diese Idylle kommt der Brief eines Freundes von Eduard, des Hauptmanns, – seinen Nachnamen erfahren wir nie –, der sich in schwierigen Lebensumständen befindet. Eduard lädt ihn ein. Eine Zeitlang lebt man ruhig zu dritt, musizierend, planend, gestaltend, Charlotte allerdings ein wenig distanziert von Eduard, der sich eng an seinen Freund angeschlossen hat. Den Ausgleich schafft einige Wochen später eine Nichte Charlottes, Ottilie, ein junges Mädchen, die in ihrem Pensionat nicht ganz glücklich lebt und ihrerseits von Charlotte eingeladen wird.
Wieder verändert sich der Personenkreis und in ihm die Menschen, am deutlichsten zunächst Eduard. Er verliebt sich Hals über Kopf in Ottilie, doch dann verändern sich auch die andern, denn Charlotte und der Hauptmann fühlen sich zueinander hingezogen.
Die Schilderung der Veränderung, die neu entfachte Leidenschaft, das Glück, das Unglück, das Angenommenwerden und Verstoßensein, der Schmerz, der umfassende Egoismus von Liebe bis in letzte Gemeinheit und Niedertracht ist Gegenstand des ersten Teils. Es wird sehr genau, sehr eindrücklich, ungemein verständnisvoll und erschreckend echt beschrieben. Trotz der für uns heute sehr schwierigen Sprache, - reines Deutsch, kaum ein Fremdwort, kein Wort französisch, kein lateinisches Zitat, Deutsch, wie es deutscher nicht sein kann – sind diese Beschreibungen diejenigen, die man auch über die Distanz von 200 Jahren nicht nur gut verstehen, sondern noch fühlen kann.
Die Situation, die Vorgaben von Konventionen und Notwendigkeiten, die Gefühlslagen werden zudem an weiteren Paaren durchgespielt wie auch, das ist zeitbedingt, über das Thema der Natur am Beispiel der Parkanlage. Es wird viel gesprochen und reflektiert, während man da plant und anlegt, über Männer und Frauen und die Liebe. Während man sich unterhält und fühlt, geht man auf den Wegen durch den Park, auf alten und neuen, hinauf und hinunter, der eine oder andere erweist sich dabei als Sackgasse. Man verirrt sich, miteinander, ineinander. Es ist ein Roman der Wege und Irrwege, real wie symbolisch.
Schließlich kommt es im ersten Teil noch zum Höhepunkt. Einmal eine Liebesnacht zwischen Charlotte und Eduard, während der beide nur an die eigentlich Geliebten, Ottilie und den Hauptmann, denken – eine der schönsten und traurigsten Szenen. Zuletzt Eduards Wunsch nach Scheidung. Charlotte weigert sich, umso mehr, als sie von ihm ein Kind erwartet. Sie verzichtet auf den Hauptmann, dieser geht. Auch Eduard geht fort, ohne Ottilie will er nicht sein, mit ihr zu leben ist nicht möglich.
Wer ein wenig zu kurz kommt im ersten Teil ist Ottilie, ein seltsames Kind. Sie ist am schwersten zu fassen für uns Heutige. Sie ist passiv, nur reagierend, geht ganz in ihrer Umwelt und vor allem in Eduard auf. Ihr ist der zweite Teil des Romans gewidmet. Der ist aber auch der fremdartigste für uns. Hier wird nicht mehr nur im engen Rahmen über Beziehungen diskutiert, hier werden die Beziehungen erweitert in die Welt hinaus. Mehr Personen treten auf, es geht um Kunst, um Erziehungsprinzipien, um den Menschen in der Welt. Hier ist Goethe nun noch mehr in seinem Element, hier finden wir, unter der Maske von Ottilies Tagebuch, vieles, was wir aus seinen Maximen und Reflexionen kennen. Hier zeigt er sich aber auch in seiner ganzen Kunst der Menschenbeobachtung, klarsichtig, intelligent und zuweilen erstaunlich boshaft.
Doch auch die Handlung geht weiter, denn tatsächlich ist alles kunstvoll aufeinander bezogen. Alles hängt zusammen, die Natur mit den Menschen, der Kunst, der Liebe und diese wiederum mit der Natur.
Eduard bleibt sehr lange fort, Ottilie, die unverändert nur ihn liebt, schlägt verschiedene Heiratsanträge aus. Charlottes Kind wird geboren, ein Sohn, in dem alle seltsamerweise sowohl den Hauptmann als auch Ottilie erkennen. Für moderne LeserInnen mag das eine Spur überspannt erscheinen, im Roman wirkt es unheimlich genug. Ottilie wird zur eigentlichen Betreuerin des Kinds.
Schließlich entschließt sich Eduard, nicht gerade der gefestigste Charakter, zurückzukehren, die Scheidung durchzusetzen und Ottilie zu heiraten. Der Hauptmann, nun zum Major aufgestiegen, taucht wieder auf und vermittelt. Charlotte willigt ein. Ottilie, von Eduard persönlich von der guten Wendung der Dinge unterrichtet, ist so durcheinander vor Glück, daß sie am Teich einen Bootsunfall verursacht, bei dem das Kind ertrinkt. Ottilie gibt sich allein die Schuld daran. Sie versucht, durch den Verzicht auf Eduard Sühne zu leisten, sie spricht und ißt nicht mehr. Schließlich stirbt sie an diesem Verzicht.
Was hier recht kitschig nach Liebestod klingt, ist in Wahrheit ein faszinierend aufgebautes und erzähltes Psychogramm einer Anorektikerin. Ottilies Leben und ihr Tod ist Krankheit und Folge von ‚falscher’ Liebe in einem, die eigentliche Grundlage für viele Diskussionen bis heute, was denn nun richtige Liebe ist, oder was ‚richtig’ ist, wenn es um Liebe geht.
Der Roman endet mit Eduards Tod, eine unbestimmte, aber sicher nicht sehr lange Zeit nach Ottilies Ende. Charlotte bleibt allein.
Es ist ein sehr, sehr schwieriges Buch, vielschichtig, vertrackt, altmodisch in vielen Anschauungen und zugleich zeitlos in anderen. Vor allem aber ist es wunderschön.