Ein Menschenleben

  • Seine ersten Erinnerungen reichen weit zurück. Am ersten Schultag war es so bitterkalt, daß er unter seinen kurzen Schulhosen dicke, kratzige Wollstrümpfe tragen musste und eines dieser unsäglichen Leibchen, die seine Oma immer strickte.


    Er war ein Einzelkind, was er immer bedauerte – auch wenn dies bedeutete, daß er sowohl die Gunst als auch die Geschenke seiner Eltern und Großeltern mit niemandem teilen musste.


    Schon bald lernte er sie kennen... Margarethe, seine einzige, seine ganz große Liebe. Sie ging mit ihm zur Schule und sie war das schönste Mädchen, das er kannte. Ihr dunkles Haar war stets in dicken Zöpfen um den Kopf gewunden und er verprügelte alle Jungs, die sie auf dem Nachhauseweg ärgerten.


    Für sie würde er alles tun. Für sie wäre er sogar gestorben. Glücklicherweise erwiderte sie seine Gefühle. Was für ein Glückspilz er doch war. Und so kam es, daß sie eines schönen Tages heirateten.


    Sie kamen beide aus bescheidenen Verhältnissen und irgend etwas fehlte stets. Aber sie hatten wenigstens sich und ihre Liebe und so waren sie eigentlich immer glücklich und zufrieden. Als sich das erste Kind anmeldete, ein Junge, dachte er, sein Glück könnte kaum größer sein...


    So verstrichen die Jahre. Inzwischen hatten sie sieben wohlgeratene Kinder, die alle einen braven Weg einschlugen, so schien es.


    Dann kamen dunkle Jahre auf sie zu. Das 1000-jährige Reich warf ihre Schatten auch auf sie.
    Er war kein tapferer Mann, aber listig schaffte er es, sich und seine Familie so gut es ging, von den braunen Machenschaften fern zu halten.


    Er war eigentlich schon fast zu alt für den Krieg. Darüber war er sehr froh, konnte er sich doch in seiner Heimatstadt nützlich machen und seine große Familie beschützen. Aber seine ältesten Söhne mussten sehr bald fort und er hatte jeden Tag große Angst um sie.


    Doch eines Tages, der Krieg dauerte schon ein paar Jahre – und bis auf ein paar zerbrochene Fenster hatten sie glücklicherweise keinen größeren Schaden genommen – kam auch für ihn der Marschbefehl. Die Lage war ernst geworden in Russland und nun brauchten sie jeden Mann. Für den 1. Weltkrieg war er glücklicherweise noch zu jung gewesen, aber nun hatten sie ihn doch noch drangekriegt.


    Aber er hatte Glück gehabt. Im Gegensatz zu zweien seiner Söhne hatte er sogar die Schlacht um das eingekesselte Stalingrad überlebt, wenngleich ihn auch der harte Winter zwei seiner Zehen gekostet hatte, die ihm abgefroren waren.


    Welch geringer Preis im Gegensatz zum Verlust seiner Söhne. Wie oft hatte er sich damals gewünscht, er wäre statt ihrer gestorben.


    In dieser Zeit hatte er große Angst um seine geliebte Frau, die er schutzlos in der Stadt zurück lassen musste. Aber sie schlug sich wacker, seine Gretel. Der schönste Moment seines Lebens war es, als er sie nach einer abenteuerlichen Flucht durch Russland und Polen zuhause endlich wieder in seine Arme schliessen konnte.


    Diese Erlebnisse schmiedeten die beiden nur noch enger zusammen und sie genossen jeden Tag nur noch mehr. Nach dem Krieg stellte sich in den Wirtschaftswunderjahren langsam bescheidener Wohlstand bei ihnen ein, so daß sie sich sogar ein Auto leisten konnten. Man stelle sich vor: ein Auto! Gustav freute sich nach all diesen Jahren immer noch darüber, wie groß ihre Augen waren, als er damit vor ihrem Zuhause vorfuhr. War das eine Überraschung gewesen!


    Und ihr erster Urlaub.... sie fuhren nach Italien – nur sie beide. Die Kinder waren ja inzwischen aus dem Haus und lebten ihr eigenes Leben, auch wenn sie sich alle oft und gerne gegenseitig besuchten.


    Sie genossen ihre Zeit.... jede Minute. Auch nach 50 Jahren Zusammensein hielten sie noch Händchen und noch immer gab er ihr jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Kuss auf den Mund.


    Streit hatte es zuweilen auch gegeben. Wahre Gewitterwolken entluden sich. Aber noch vor dem Schlafengehen waren sie wieder gut miteinander.


    Der schwärzeste Tag seines Lebens war der gewesen, an dem er seine Margarethe, die Liebe seines Lebens, zu Grabe tragen musste. Der Tod kam blitzschnell und traf ihn völlig unvorbereitet. Sie sassen im Garten und blinzelten in die Sonne, als er merkte, daß ihre Hand in seiner plötzlich schlaff war.


    Sekundentod, sagte der Arzt. Ein plötzlicher Herzschlag. Eigentlich ein schöner Tod, dachte er bei sich – aber so früh. Er hätte ihr immer noch so viel zu sagen und zu geben behabt.


    Er trauerte lange um sie und hielt ihr Andenken stets in Ehren. Aber seine Kinder waren ihm auch in dieser Zeit eine Stütze. Und so fand er langsam zu seiner alten Lebensfreude zurück.


    Insgesamt sieben Kinder hatte sie ihm geschenkt. Davon lebten heute nur noch drei. Aber seine Kinder hatten ihm 15 Enkel geschenkt und inzwischen sogar schon 7 Urenkel. Er war ein stolzer Mann und ein glücklicher noch dazu.


    Zufrieden lag er im Bett und dachte an sein erfülltes Leben zurück. Es war nicht immer einfach gewesen und Geld war auch nie da. Aber dafür hatten sie einander gehabt. Damals wie heute hielt die Familie fest zusammen und keiner konnte je Zwietracht zwischen ihnen säen. Ja, er war ein glücklicher Mann.


    Und morgen würde er seinen 100. Geburtstag feiern. Alle würden sie ihm kommen und mit ihm feiern. Die Familie, die Freunde – die leider langsam auch immer weniger wurden – die Nachbarn und sogar der Bürgermeister würde kommen. Morgen war sein großer Tag.


    Glücklich versank er in den Schlaf.


    Er wusste es noch nicht.... aber er würde den morgigen Tag nicht mehr erleben. Er würde nicht mehr aus dem Schlaf erwachen.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)