Das schwarze Kleid - Kurzgeschichte

  • Moin!
    Die Idee zu dieser Kurzgeschichte kam mir ganz spontan heute morgen bei meiner morgendlichen Tasse Kaffee, ich dachte noch rund eine Stunde darüber nach und machte mir eifrig Notizen und schließlich hab ich sie einfach mal niedergeschrieben. Eine meiner ersten vollständigen Kurzgeschichten, wenn man es überhaupt so bezeichnen kann. Bin eigentlich einigermaßen zufrieden und ich hoffe das es jemand liest und eine kurze Bewertung schreibt, wäre wirklich nett, denn ich würde mich natürlich gerne verbessern =)



    Das schwarze Kleid


    Jake hasste dieses helle Grün. Es verfolgte ihn seit Jahren, in denen er immer wieder durch diese langen Gänge wanderte, eingeengt von diesem Farbton an Wand und Decke, nur alle paar Meter von einem schwarzen Türrahmen unterbrochen, in dem aber wiederum eine Tür in grün hängt. Dieses Grün wie Erbrochenes, wie das Erbrochene seiner Tochter, wenn sie zu viel Milch getrunken hatte. Das hätte er sich jedenfalls vorstellen können.
    Sein Zimmer war nicht sonderlich geräumig, nicht klein und nicht groß und glücklicherweise nicht grün. Für ihn war es eine Zelle, natürlich nicht nur für ihn, denn als Zelle war es ja auch gedacht, als man ihn vor drei Jahren zu lebenslangem Aufenthalt in einer Psychiatrie verurteilte, zu einem neuen, vom Staat geförderten, Projekt zur Behandlung geisteskranker Mörder. Bett, Tisch, Stuhl, Spiegel und eine, durch einen roten Vorhang abgetrennte, Toilette. Bilder hatte er keine, sie waren ihm nicht gestattet. Jake vermutete, dass er vergessen sollte, wie seine Tochter aussieht und seine Frau.
    Mittlerweile war er aber auf dem Gang und bewegte sich nach vorne zum Besucherraum. Wieder das Grün. Wie eine Barriere, die ihn davon abhalten will, den anscheinend endlos langen Gang zu durchqueren. Immerhin war es für ihn die einzige Gelegenheit sein Zimmer zu verlassen, abgesehen von den Therapie-Sitzungen natürlich.
    Als er an einer offenen Tür vorbeilief, erhaschte Jake kurz einen Blick auf sein Äußeres, im Spiegel des Insassen, der aber keinen Spiegel benötigte, so wie er mit Medikamenten versetzt auf seinem Bett lag. Jake sah furchtbar aus. Früher war er ein ansehnlicher Mann gewesen, erfolgreich, Rechtsanwalt, mit viel Geld und wenig zu tun, weil er sich zu viele Anwaltsgehilfen leisten konnte. Jetzt aber sind seine kurzen schwarzen Haare zerzaust, sein Gesicht aufgedunsen vom Schweiß, Augensäcke wie Geschwülste und ein unrasiertes Kinn. Nur die markante Form des Gesichts ließ noch etwas vom alten guten Aussehen durchsickern. Ja, früher sah er gut aus, verdammt gut, und seine Tochter sieht heute bestimmt auch gut aus, auch wenn er es nicht weiß und seine Frau sah gut aus und wie er nun bemerkte, sieht sie immer noch gut aus.
    Direkt vor einem weiteren der schwarzen Türrahmen war Jake stehen geblieben. Schon ein paar Augenblicke zuvor, hatte er gewusst, dass sie heute wieder gekommen war. Der durchdringende Geruch nach Limette, der Geruch ihres Mojito-Zigarillos, drang schon bis auf den Gang hinaus und für einen kurzen Moment meinte Jake, dass die Farbe der Wände und der Decke langsam erträglicher wurde.
    Nach wenigen Sekunden erwachte er wieder aus seiner Starre, schaute sich noch mal auf den Gang und merkte, dass ihm bei diesem Grün schon wieder schlecht wurde. Schnell trat er in den Besucherraum ein und er erkannte sie sofort. Dicke Rauchschwaden schwebten über einem kleinen runden Holztisch, der im hinteren linken Bereich an einem der vergitterten und milchigen Fenster stand. Trotz dem schwachen Gegenlicht erkannte er deutlich eine Frau im schwarzen Kleid, darüber ein langer Stoffmantel, wie sie auf einem der roten Plastikstühle saß, gerade so auf dem Rand, dass sie nicht herunterfiel. Ihre schwarzen Stöckelschuhe wippten durch die Bewegung ihres Oberschenkels, ebenso ihr Busen und ihre Zigarette wippte leicht durch nervöse oder angespannte Bewegungen, so sah es jedenfalls aus. Für Jake schien in diesem Moment alles an dieser Frau zu wippen und wie magisch zog es seinen ganzen Körper dorthin, bis plötzlich eine flache Hand vor ihm auftauchte, gefolgt von der schmächtigen Statur eines Wärters. Erst jetzt fand Jake wieder Beachtung für die Umwelt und merkte nun, wie alle Augenpaare der vielen Besucher und Patienten, oder eher Inhaftierten, auf ihm ruhten und ihn schaulustig musterten.
    Der Wärter fuchtelte energisch mit seiner erhobenen Hand. Sogar bei einer so ruckartigen Bewegung stellte sich keine Falte auf seiner matt glänzenden und straffen Uniform. Sogar seine Mütze hatte er auf, was Jake verriet, dass es noch ein Jungspund war. Die erfahrenen Wärter setzen sie eigentlich nie auf, außer zu besonderen Anlässen. Sein Blick war ängstlich, als er mit einer piepsigen Stimme sagte: „Für sie ist heute kein Besuch angemeldet, Mr. Jameson.“
    Zuerst war Jake nur überrascht, dass dieser Junge seinen Namen kannte. Er musste wohl alle Akten durchforstet und auswendig gelernt haben. Scheint die Karriereleiter schneller hochklettern zu wollen, als aufzustellen.
    Jake hatte gar keine Zeit, sich über die Aussage des Wärters zu wundern. Anscheinend ist heute Tag der auftauchenden Hände, dachte sich Jake ärgerlich, als plötzlich eine knochige Hand auf der Schulter seines Gegenübers auftauchte. Diese Hand kannte er. Fast täglich sah er sie, einen goldenen Kugelschreiber mit persönlicher Widmung umklammernd, Notizen auf ein Klemmbrett schreiben.
    „Ist schon in Ordnung, Max“, sagte die tiefe, brummige Stimme von Dr. Thirlby, Jakes Arzt und Nemesis. Er hasste es, wie dieser Kerl immer so unendlich verstehend nickt, selbst wenn Jake nur Mist erzählt. Jake hasste Ärzte und fand es ungerecht, dass sie fast ebenso viel verdienen wie ehrenvolle Rechtsanwälte.
    Der junge Wärter namens Max, wie er nun wusste, schaute Thirlby nur verdutzt an, erntete ein deutliches Nicken, nahm die Hand runter und machte widerwillig Platz.
    Na endlich, der Junge scheint die Akten wohl doch nicht so gründlich studiert zu haben, dachte Jake zufrieden. Er versuchte, Thirlby ein dankbares Nicken zu vermitteln, aber ihm gelang nur eine verzerrte Fratze. Das erkannte er jedenfalls in den spiegelnden Brillengläsern des Arztes.
    Wieder setzte er sich in Bewegung, wobei er nicht bemerkte, wie Thirlby sich auf einen Stuhl an die Wand links von ihm setzte. Nach ein paar ausholenden Schritten stand er direkt vor dem leeren Tisch, dessen schmierige Oberfläche Jake kurz blendete. Trotzdem sah er, dass Patricia weder aufschaute noch eine Miene verzog, nur einen weiteren tiefen Zug nahm, um den duftenden Rauch nach wenigen verstrichenen Sekunden wieder herauszulassen. Wie sie da so erwartend dasaß, mit kaltem Blick, würden zu ihr eher blonde Haare passen. Das dachte Jake schon eher, deswegen war er auch so froh, dass sie immer noch lange, wellige dunkelbraune Haare hatte, die sie wie immer offen trug.
    Jeden Samstag kommt sie hierher, setzt sich an einen Tisch, der nie derselbe ist. Immer im schwarzen Kleid, mit einem Mojito-Zigarillo zwischen den Fingern. Sie sieht nie so aus, als würde sie jemanden bestimmten erwarten. Eher wie eine verwöhnte Ehefrau, die sich einen neuen Lamborghini zum Hochzeitstag verspricht, und genau das war sie auch.
    Jake vergaß Thirlby, Max, seine mickrige Zelle und sogar den Gang, den Dschungel aus Grün. Lächelnd setzte er sich hin, ganz nah an den Tisch. Der rote Plastikstuhl gab heftig nach, quietschte, drücke unangenehm gegen die Oberschenkel. Spontan frage er sich, ob Patricia sich deswegen so knapp an den Rand gesessen hat oder weil sie Angst vor Schmutz hatte. Vermutlich beides, dachte Jake und faltete seine Hände auf dem Tisch. Gierig starrte er sie an, doch erst als sie einen weiteren Zug genommen hatte, schaute sie ihn an. Ihr Blick war zwar immer noch kalt, aber Jake erkannte an ihrem Blick wenigstens ein wenig Bedauern und Sorge. Vielleicht. Doch das gab ihm schon den Mut, ein Gespräch anzufangen. Es war jede Woche wieder eine Kunst und Hindernis zugleich.

    ~MKistner.de
    Es gibt Leute, die sich über den Weltuntergang trösten würden, wenn sie ihn nur vorhergesagt hätten. (Hebbel)

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  • „Hey“, sagte er ruhig und ohrfeigte sich innerlich. Das war die schlechteste Eröffnung seit Wochen. Im Schach wäre er jetzt schon raus.
    „Hey“, antwortete aber sogar sie und plötzlich war Jake wieder einigermaßen zufrieden mit sich. Ein weiterer Zug. Wieder Rauchschwaden und Limettengeruch. „Wie geht es dir?“
    Jake lachte verlegen. In diesem erdrückend schwülen Raum klang es fast schon hysterisch. „Ganz gut, abgesehen von der Stimmung hier drin. Ich habe wirklich die Vermutung, dass Ärzte und Wärter hier eher die Patienten sind.“ Noch ein lachen, dieses Mal definitiv hysterisch. „Und dann diese ganzen Medikamente, die sie mir geben. Na ja, du weißt schon, damit ich nicht wieder in alte Suchtmuster zurückfalle, haben jedenfalls die Ärzte gesagt. Wegen dem Heroin und dem Kokain. Die machen mich fertig und kraftlos, aber meistens liege ich eh nur rum und denke über Gott und die Welt nach und über dich, meine alte Kanzlei, sogar über Daniel und...“
    „Christine hat nach dir gefragt“, unterbrach Patricia ihn abrupt. „Hat nach ihrem Vater gefragt. Ich glaube, es war das erste Mal, dass sie dieses Wort benutzt hat. Vater.“
    Jakes Lächeln verschwand und seine Hände verspannten sich. Sie musste es natürlich wieder ansprechen. Alles hatte er für seine Familie getan, schwer gearbeitet, um viel Geld zu verdienen, damit seine Frau und sein Kind wiederum das Leben bekommen, das sie verdienen. Doch er muss es sich anhören, zu oft, dass er ein schlechter Vater war. Kein schlechter Ehemann, immerhin gab es zum Hochzeitstag einen neuen Lamborghini. Aber Vater war er anscheinend nie und es hatte ihn nicht einmal gestört, wie er sich eingestehen musste. Erst jetzt, wo Christine unerreichbar war, sehnte er sich nach ihr. Wie früher auf dem College. Schon immer wollte er das, was er nicht bekommen konnte. Aber Patricia hatte er bekommen. Geködert mit der Aussicht auf einen tollen Mann mit Geld, aber das war es wert. Jake war nie unzufrieden mit seiner Ehe. Wo es harkte, da half ein Schuss Heroin nach und meistens eine kecke Blondine aus der Rechtsabteilung irgendwelcher Kosmetikfirmen, für die er ein Gott war.
    Erst in diesem Moment kamen Jake so viele Erinnerungen, für die er sich schämte. Seine Affären, die eigentlich nur aus einer Nacht bestanden und daher kaum als Affären zu betiteln sind, gekoppelt mit dem Heroinkonsum. Diese ganzen Erinnerungen, die er verdrängte, die nun aber wieder hervorsprudeln beim Anblick von Patricia und wieder sah er sie im Gerichtsaal, der gleiche Ausdruck. Nicht eine Regung, als Jake von seinen Affären erzählen musste, die meisten an Bars aufgetrieben, auf so viel Heroin wie die härtesten Junkies unter den Brücken des Central Parks. Immer mehr Erinnerungen, keine Namen, die konnte er nie länger behalten, Gesichter, Brüste, mehr Brüste als Gesichter.
    Ein Gesicht jedoch mischte sich immer und immer wieder unter diesen wütenden Sturm an Erinnerungen. Sie hatte blonde Haare und fällt damit eigentlich nicht oft auf, aber ihr Gesicht hatte er gesehen, als sie starb. Das hebt sie von den anderen ab. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Ihr Kinn, ihre Ohren, ihre Nase, alles verschwommen, aber ihre Augen kannte er noch gut, zu gut. So lebendig und plötzlich leer, tot, starrten ihn diese Augen an, als sie unter ihm lag und er die Hände um ihren Hals gelegt hatte. Nicht mal einen Orgasmus hatte er ihr gegönnt. Sich selbst schon, aber die Wärme seines Spermas spürte sie schon nicht mehr. Tote Augen unter ihm, so anders als die lebendigen Augen, die er im Lighthouse kennen gelernt hat. Sie lehnte an einem Hocker an der Bar im schwarzen Kleid.
    Jake zuckte zusammen. Sie in der Bar und sie tot unter ihm. Mehr Erinnerungen hatte er keine, sie waren alle gut verstaut. Mittlerweile wusste er gar nicht mehr, wieso er diesen Mord begangen hatte. Heroin und Kokain, zu genüge, machten ihn zu einem unberechenbaren Menschen in dieser Nacht. Das wusste er noch. Mehr nicht.
    „Ich habe ihr gesagt, du wurdest mittlerweile nach Kanada verlegt. Nun spricht sie schon von einem Vater, nachher will sie doch noch besuchen, das kommt nicht in Frage. Vielleicht hätte ich ihr sagen sollen, dass du tot bist“, sagte Patricia und holte Jake damit wieder in die Gegenwart zurück.
    Für kurze Zeit schockte ihn dieser Vorschlag, doch dann erinnerte er sich wieder, wer vor ihm sitzt und vor allem, wo. „Manchmal bin ich mir auch nicht sicher, ob ich noch...“
    „Oh bitte, JJ. Hör auf mit diesem selbstmitleidigen...“, sagte sie, unterbrochen von Jakes wütendem Schlag mit der Faust auf den Tisch. Wieder verzog sie keine Mine. Ein weiterer Zug.
    „Nenn mich nicht JJ“, befahl er, doch merkte sofort, dass er sowieso nicht in der Position war, irgendetwas zu verlangen. Immerhin wollte er es dabei belassen, dass sie ihn besuchen kommt. Er hasste es, wie die Pest. Dieser Spitznahme kam von seiner Mutter und er hatte es schon immer verabscheut, wie ein Kind beim Kosenamen gerufen zu werden.
    „Sonst was? Kommst du samstags nicht mehr in dieses stickige Dreckszimmer, um mich zu empfangen?“, sagte Patricia mehr neutral als zornig und wieder schwebte der Rauch in die Höhe und verzog sich zu entstellten Kringeln. Jake meinte sein ganzes Leben in diesem Rauch zu erkennen. Im Nachhinein jedenfalls.
    Er sackte zusammen und senkte den Blick auf seine Hände, wie ein Hund, der sich dafür schämt, die schicken Schuhe zerkaut zu haben.
    „Früher hättest du noch einen guten Konter gebracht. Selbst deine legendäre Rhetorik versagt. Im Gerichtsaal hast du jede Jury überzeugen können. Aber hier schaffst du es nicht. Das ist erbärmlich“, sagte Patricia, dieses Mal lies sie Emotionen durchsickern. Sie war offensichtlich amüsiert. Noch ein Zug an ihrem Zigarillo, bevor sie mit Genuss und der ersten Mimik, einem deutlichen Grinsen, hinzusetzte: „JJ.“
    Wieder schlug Jake mit der Faust auf den Tisch, diesmal jedoch mit beiden, und blickte sie voll Wut an. Kein Wort brachte er heraus. Patricias Grinsen raubte ihm jegliche Courage. Er stand schlagartig auf, der rote Stuhl kippte nach hinten und schlug polternd auf dem Boden auf. Ein letzter Blick auf seine Frau, dann machte Jake kehrt und verlies mit lauten Schritten und einem angeknacksten Ehrgefühl den Raum. Er bemerkte nicht die gierigen Blicke hinter sich und tauchte wieder ein, in den Dschungel aus grün.
    Dr. Thurlby stand langsam auf, machte ein paar Schritte nach vorne und hob mit einem leichten Zucken im Gesicht den umgestürzten Stuhl auf, stellte ihn hin und setzte sich. Das Klemmbrett, auf welchem er das eben Gesehene und Gehörte protokollierte, legte er behutsam auf den Tisch, dazu den gold schimmernden Kugelschreiber. Neben sich hörte er kurze, kleine Schritte. Thurlby drehte sich um und schaute zu Max, dem neuen Wärter, hinauf, dabei waren sie fast auf Augenhöhe.
    „Was war das gerade eben, Doktor?“, fragte Max mit schockiertem Gesichtsausdruck, der auf seine Unerfahrenheit zurückzuführen war. Er nahm sich den anderen Stuhl und setzte sich ebenfalls an den verschmierten Tisch. Die Sonne verwandelte den freien Raum unter seiner Mütze in eine Sauna. Er erlaubte sich selbst, sie abzunehmen.
    „Das war Jake Jameson, aber das wissen sie sicherlich. Ich habe gehört, dass sie sich umfassend über die Patienten informiert haben, soweit dies möglich war.“ Max nickte, damit Thurlby weiterredete. „Mr. Jameson ist seit drei Jahren bei mir in Therapie. Er wird hier vermutlich nie wieder herauskommen, deswegen werde ich auch noch eine Weile das Vergnügen haben, keine Fortschritte feststellen zu können.“
    „Davon habe ich auch gelesen. Er wurde wegen Mordes verurteilt“, sagte Max.
    „Richtig, wegen dem Mord an seiner Frau“, sagte Thurlby, während er seine Brille abnahm und sie mit dem weißen Hemd putzte.
    „An seiner Frau? Das stand aber nicht in seiner Akte. Wieso wurde er dann nicht in ein staatliches Gefängnis geschickt?“, fragte Max interessiert. Langsam, aber stetig, rutschte er auf dem Stuhl weiter nach vorne.
    „Weil Mr. Jameson fest davon überzeugt ist, dass er seine Frau nicht umgebracht hat, sondern eine gewisse Julia Bay, die er angeblich in der gleichen Nacht noch kennen gelernt hat, jedoch hieß seine Mutter Julia und ihr Mädchenname war Bay. Er war völlig verstört, nicht einmal das merkte er. Das Opfer wurde jedenfalls ohne Zweifel als Patricia Jameson identifiziert. Mr. Jameson hatte sie während dem Sex erwürgt. Wie genau es dazu kam, ist unbekannt. Bei einer Blutuntersuchung fand man Stoffe, die auf sehr hohen Heroin- und Kokain-Konsum schließen lassen. In der gemeinsamen Wohnung wurden die Drogen dann gefunden.“ Thurlby seufzte und setzte seine Brille wieder auf. „Das Schlimmste ist aber, dass der Mord von der Tochter gemeldet worden war, sie hatte es beobachtet und die Polizei gerufen.“
    „Mein Gott“, sagte Max und machte eine kurze Pause, um aus dem Fenster zu sehen. „Wieso hat er es getan? Unabhängig davon, wer das Opfer war oder für wen Jameson es hielt.“
    „Bei der Vernehmung nach dem Mord, als er noch nicht wieder klar bei Verstand war, gab Mr. Jameson an, seine Frau, oder eben Julia Bay, habe ihn ‚JJ’ genannt, ein Kosename. Ich glaub allerdings nicht, dass das alles ist. Er hat offensichtlich nie gemerkt, dass er seine Frau ermordet hat und auch nicht, dass er in dieser Nacht mit ihr geschlafen hat. Seine Abhängigkeit, sein Stress im Beruf, seine gestörte Beziehung zu seiner Tochter und vor allem zu seiner Frau, riefen ihn ihm wohl so eine große Verwirrung hervor, dass er die Frau ermordete, die weder Julia Bay, noch Patricia Jameson zu sein scheint.“
    „Und mit wem hat er sich gerade eben unterhalten?“, fragte Max, nachdem er sich wieder gefangen hat. Seine Mütze hatte er mittlerweile vor lauter Anspannung zerknautscht.
    Dr. Thurlby stand ruhig auf, nahm das Klemmbrett unter den Arm und verstaute den Kugelschreiber in seiner Brusttasche. Er hob den roten Plastikstuhl an und stellte ihn wieder an den Tisch. Dann hielt er inne und schaute Max an, mit einem Blick, der fast schon an unterdrückte Verzweiflung grenzt. „Ich weiß es selbst nicht. Entweder war es Patricia Jameson. Oder Julia Bay. Ich weiß es nicht...“ Mit diesen Worten lief er davon, bog in den grünen Gang ein und verschwand.
    Max rang ein wenig um Fassung, gewann jedoch schließlich den Kampf, atmete tief durch, strich seine Mütze glatt und setzte sie sich wieder auf. Er warf einen letzten Blick auf den Platz, wo vor ein paar Minuten noch Jake Jameson saß. Dann stand er mit einem Seufzer auf und schaute auf die Uhr.
    Noch zwei Minuten, dann müssten alle Besucher gehen.

    (c) Martin Kistner

  • Ich finde deine Schreibe toll, bin richtig begeistert Brandmarke. Beide Daumen hoch, nur weiter so. Ich glaube dir nur nicht, dass es eine deiner ersten Kurzgeschichten ist. Aber das ist deine Sache.


    Luc

  • Zitat

    Original von Luc
    Ich finde deine Schreibe toll, bin richtig begeistert Brandmarke. Beide Daumen hoch, nur weiter so. Ich glaube dir nur nicht, dass es eine deiner ersten Kurzgeschichten ist. Aber das ist deine Sache.


    Luc


    Danke für das Lob! Das freut mich wirklich ;)

  • Hmm. Ich finde nicht, dass die Länge ein Problem ist, denn du gehst so spielerisch mit der Sprache um, dass man schon nach dem ersten Satz in der Geschichte drin ist ;-)
    Bin ebenfalls sehr beeindruckt, besonders die erste Hälfte ist klasse - die grünen Türen, die Gefühlswelt des Protagonisten und die Beschreibung der Frau im schwarzen Kleid sind hervorragend gelungen.
    Der zweite Teil hat mich ein wenig verwirrt. Der Arzt sagt, dass die Leiche als Patricia Jameson identifiziert wurde - eindeutig sogar - und doch zieht er am Ende die Möglichkeit in Betracht, dass die Besucherin seine Frau sein könnte? Ich weiß nicht, ist mir da irgendeine tiefere Interpretation entgangen?


    Na wie dem auch sei, tolle Geschichte :-)


    Liebe Grüße
    Lotta


  • Ich schreibe meine Antwort mal als Spoiler, damit eventuelle zukünftige Leser nicht schon die Pointe erfahren ;) Also, wer die Geschichte noch lesen will, Finger weg!



    Und natürlich Danke für das Lob! Bin immer wieder froh, wenn jemandem meine Geschichte gefällt =)

  • Ich lese ja selten all die hier geposteten Geschichten - es sind einfach zu viele. Meist lese ich sie nur an, aber deine "musste" ich zu Ende lesen.


    Dein Schreibstil gefiel mir sofort und auch ich war gleich mitten in der Geschichte. Der Ablauf ist spannend und gut erzählt, die Atmosphäre ist bedrückend und erscheint mir sehr authentisch zu sein.


    Zwei (kleine) Kritikpunkte:

      Die Geschichte enthält für meinen Geschmack viel zuviele Attribute
      Der Schluss ist zu ausführlich. Da wäre weniger mehr

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde


  • Auch an dick mein Dank für die lobenden Worte =)
    Die Kritikpunkte werden direkt notiert. Du hast recht, was Punkt 1 angeht. Ich scheine meistens ein bisschen zu übertreiben, was Länge und Beschreibungen angeht, bei der Kurzgeschichte, die ich zurzeit schreibe, ergeht es mir ähnlich. Punkt 2 hängt wohl mit meinem Schreibstil zusammen, aber ich werde versuchen, mich da zu bessern ;) Danke für die Verbesserungsvorschläge!

  • Ich fand deine Geschicht auch sehr gur. Man kann sich sofort in die Situation hinein versetzen.


    Ich war sehr gefesselt.
    Danke dafür.
    Liebe Grüße, amberle

    . :writeKeep smiling, don't be sad, than sadness is so bad, keep smiling and the sun will shine again.:knuddel1