Krieg!
Rabenschwarze Dunkelheit! In die Finsternis springt ein Bild. Die Augen des Betrachters blinzeln irritiert ob dessen Grellheit und aktivieren den Tränenfluß zum Schutz ihrer Empfindlichkeit.
Sein Ohr vernimmt gedämpfte, undefinierbare Geräusche. Er konzentriert sich auf das Bild. Es zeigt sich ihm aus der Vogelperspektive. Ein schmales. Langgezogenes Rechteck breitet sich vor ihm aus umgrenzt von hohen Mauern die düstere Schatten werfen.
Eine Symphonie in Grau bietet sich ihm dar. Mausgrauer Zement bedeckt den Boden. Ein helles, fröhliches Grau kleidet die Mauern deren einziges Bestreben zu sein scheint das azurne Blau des Himmels zu erreichen, die Stratosphäre zu durchstoßen, in die noch unerforschten, unberührten Weiten des Weltalls vorzustoßen um einen zweiten Planeten Erde aufzustöbern deren Bewohner sie zu umfangen und einzuschließen ihr Ziel und einziger Zweck wäre.
Der freundliche, gefällige Anstrich täuscht. Er dient der Bösartigkeit als Tarnanzug. Ahnungslos stolpern ihre Opfer in die, von ihr, gestellte Falle und ergeben sich der Hoffnungslosigkeit und dem Wahnsinn sobald sie sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation bewußt werden.
Das Leid der Gequälten nährt ihren Sadismus und stärkt die Quelle ihrer Kraft. Ihr Haupt umkränzen unzählige Reihen bleigrauen Stacheldrahtes dessen Dornen spitz, messerscharf geschliffen, glänzend poliert wie tausende Miniskalpelle drohend die gleißende Sonne reflektieren und Myriaden von Lichtblitze aussenden.
Der erste Vorhof zur Hölle? Dantes Inferno? Ein Vorgeschmack unserer Zukunft? Ein Bote der apokalyptischen Reiter?
Dem Beschauer gruselt´s. Ihm ist´s als vollführten Heerscharen von Ameisen Kriegstänze auf seinem Körper dessen verängstigte Reaktion in der Ausschüttung von Streßhormonen sowie konstantem Zähnegeklapper besteht.
Er klappt die Lider über seine Augäpfel, taucht ein in samtiges Schwarz, läßt sich von ihm einhüllen, versucht sich zu sammeln. Lange verharrt er in dieser Pose. Etwas sickert in sein Bewußtsein, reißt ihn aus seiner Meditation.
Er definiert es und erkennt es als das Geräusch von vorhin. Es hat seine Gedämpftheit abgestreift und sich zum Crescendo aufgebläht. Er horcht hinein in diesen infernalischen Lärm. Er erkennt das schrille Kreischen der Flugzeugmotoren, unterscheidet den Einschlag und das Explodieren der Bomben vom Granatfeuer, hört Maschinengewehre bellfern, vernimmt den Klang von Schnellfeuerwaffen, von Pistolen und vor allem das markerschütternde, nervenzerreißende, fast schon unmenschliche Gebrüll der Verwundeten und Sterbenden.
Vor seinem geistigen Auge zerfetzen Körper, Gliedmaßen wirbeln umher und um jeden Hingestreckten, egal ob Mann, Frau, Kind, Greis bilden sich Seen von strömenden Blut.
Er fühlt seinen Lebenssaft in seinen Adern erkalten und sich zu Eisklumpen formen die sich mühsam vorwärtsschleppen, endlich sein Herz erreichen, sein überfordertes Hirn, seine bebenden Lippen. Gewaltsam reißt er die Lider von den Augen und starrt – auf eine großzügig angelegte, steil ansteigende Treppenflucht.
Nervös schnellen die Neutronen durch seine grauen Zellen die sich weigern die Harmlosigkeit des Gesehenen zu akzeptieren da sie doch meinten dem namenlosen Grauen, dem Szenarium des Krieges ausgesetzt zu werden und sich eilig, wenn auch unzureichend, dafür gewappnet hatten.
Eine ungewisse Zeitspanne verstreicht. Er steht und starrt. Verständnislos. Der Lärm der immer näherrückenden Kämpfe umbrandet ihn und droht sein Trommelfell zu sprengen. Plötzlich jagen seine Pulse, sein Herz hämmert schmerzhaft gegen seine Rippen; - „Krieg!“ -, KRIEG!!! – pocht es in seinen Schläfen, zittert es in seinen Beinen! Er hat begriffen, hat endlich begriffen.
KRIEG! – Wieso? Warum? Wann begann er? WER begann ihn?
KRIEG! – Weswegen? Und ich bin hier, mitten im Geschehen? Wie kam ich hierher und wo bin ich?
Im Zeitlupentempo dreht er sich um die eigene Achse und seine Augen huschen über Grautöne. Grauer Zementboden, graue höhnisch auf ihn herablächelnde Mauern mit Kronen aus unheilverkündendem Stacheldraht. Er war Gefangener des grauen Rechtecks!
Zaghaft vollendet er die Drehung und die Stufen geraten abermals in sein Blickfeld. Erst jetzt bemerkt er, daß sie Bestandteil dieser Komposition in grau sind und in eben dieser Farbe, nur in einer sehr dunklen Schattierung unterbrochen von einigen unregelmäßigen, silbrig schimmernden Flecken, prangen.
Sein rechtes Bein bewegt sich und setzt den Fuß auf die erste Treppe. Sein linkes folgt gehorsam nach. Wie ein Automat arbeitet er sich empor. Ohne Regung, ohne Gefühl, wie von Fäden gezogen, Schritt für Schritt.
Ohne Vorahnung endet die Treppenpyramide und er stößt mit seiner Nase an eine rauhe – b r a u n e -, grob gezimmerte Türe. Verblüfft hält er inne und saugt gierig den frischen, harzigen Duft des Holzes ein.
Dann siegt seine Neugierde. Mit einem Fuß stößt er die Türe auf die, gehalten durch lederne Angeln, sachte aufschwingt. Behutsam betritt er den Raum und spürt rauhe Balken unter den Sohlen, schummeriges Licht umfängt ihn welches durch eine winzige Öffnung im Dach sickert.
Er sieht sich um. Auch hier dominiert das Rechteck. Nur in weitaus dezimierter Form, jedoch ebenfalls langgezogen und schmal. Sargähnlich, schoß es ihm durch den Kopf, ein Sarg für eine Großfamilie.
Da gewahrt er zu seiner Rechten einen gebrechlichen, doppeltürigen Schrank der noch verblichene Reste bäuerlicher Malerei erkennen läßt und bei näherem Betrachten offenbart, daß er bereits Generationen von Holzwürmern als Nahrungsquelle diente.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen zwingt ihn noch genauer hinzusehen und aus der Dämmerung des Zimmers kristallisiert sich die Form und der Umfang einer zweimännerfäustegroßen Spinne die sprungbereit in einer düsteren Ecke des Schrankes lauert.
Ekel steigt in ihm hoch und doch beobachtet er sie fasziniert. Sie regt sich nicht. Sitzt da wie ausgestopft. Wie ein schlechter Scherz. Seine Anspannung läßt nach.
Er wendet seinen Kopf nach links und meint in einen Spiegel zu sehen, das selbe hinfällige Skelett eines Schrankes mit einer Mutation des Monstrums zu seiner Rechten.
Wirr wirbeln seine Gedanken. Sie fahren Karussell und Achterbahn in dem Bestreben sich zu formieren. Schwindel erfaßt ihn.
Da dringen ächzende Laute an sein Ohr. Klingt wie ein metallener Lattenrost, denkt er und tatsächlich heben sich die Umrisse eines Bettes an der Rückseite dieser begehbaren Holzkiste ab. Darauf sitzt eine schemenhafte Gestalt.
Freude durchzuckt ihn. Ein Mensch, ein Gefährte; er ist nicht mehr alleine in dieser in Chaos versinkenden Welt. Er beginnt zu stammeln. zu reden, zu rufen.
Doch das Getöse der Kriegsmaschinerie verschlingt jeden Laut. Er fixiert die Gestalt. Winkte sie ihm nicht zu? Er ist sich nicht sicher und so beschließt er sich ihr zu nähern.
Noch im Ansatz des Versuches weiter in den Raum vorzudringen, schnellen die riesigen Achtfüßler, wie von straffen Bogensehnen abgeschossen, von ihren Plätzen und landen, wie von einem Laserstrahl geleitet punktgenau auf seinen Halsschlagadern.
Der Schreck parallelisiert ihn. Er spürt wie sich ihre Zähne durch sein Fleisch bohren und vermeint das Fließen des Giftes zu fühlen das sie ihm injizieren. Sein Herz pumpt eifrig und verteilt es präzise in seinem Inneren.
Schleichend entfaltet es seine Wirkung. Eine todbringende Lähmung beginnt die Funktionalität seiner Organe einzuschränken. Wie eine gelenklose Gliederpuppe sinkt er in sich zusammen und kracht auf den rohbehauenen Balkenboden.
Seine Muskeln erhärten unter der Einwirkung des Giftes und sein Korpus begradigt sich wie auf einem mittelalterlichen Streckgerät. Seine Lungen vermögen nicht mehr ausreichend Luft aufzunehmen und sein Atem strömt nur mehr stoßweise aus dem weit geöffnetem Mund.
Gleich ist es aus mit mir. Gleich, gleich, gleich....! Er fügt sich seinem Schicksal. Er ist bereit hinüberzugleiten. Wohin? Irgendwohin.
Etwas reißt ihn aus seiner Lethargie. Die Gestalt vom Bett. Sie beugt sich über ihn. Bringt ihr Gesicht nahe an das seine. Sie berühren sich fast. Die Gestalt spricht, nein, schreit mit ihm. Was, um des lieben Himmels Willen schreit sie ?
Sein benebeltes Hirn formt die Worte die durch die dicke Schicht Watte dringen die seine Stirn umgibt. „Mutti“, „Mutti“, „Mutti“......“Mutti“? Er konzentriert sich auf den verschwommenen Fleck vor sich. Endlich zerreißt der Schleier vor seinen Augen und diese erfassen das angsterfüllte, verzweifelte Gesicht seines Sohnes.
Mein Gott, oh mein Gott, meines Sohnes? Dann bin ich kein Mann? Kein unbekannter Fremder? Dann bin ich eine Frau! Dann bin ich ICH! Elisabeth! Oh Gott, warum läßt du mich so jung sterben?
Ich muß kämpfen, ankämpfen gegen das heimtückische Gift. Ich muß diese Substanz in mir eliminieren! Ich muß leben! Ich möchte leben!
Es gelingt mir nicht. Mein Leben flieht, rascher als mir lieb ist. Warme Tropfen klatschen auf meine Wangen. Die Tränen meines heißgeliebten Kindes!
Ich möchte zu ihm sprechen, ihn trösten, ihm meine Liebe und meinen Segen mit auf seinen Weg geben. Doch meine Lippen entringt sich kein Laut. Mein Leib gehorcht mir nicht mehr. Jeder stolpernde Atemzug, mühsam den erschlaffenden Lungen abgerungen, bringt ihn dem Verfall näher. Das Ende ist greifbar.
Und da ist ER! Meine brechenden Augen erhaschen IHN! Seine rechte Knochenhand faßt nach meiner, seine linke hält das Stundenglas durch dessen Öffnung die letzten Sandkörner rieseln. Der Vorhang fällt. Es ist vorbei.
Und doch leide ich unsäglich. Eine namenlose Angst droht mich zu verschlingen. Ihr pechschwarzer Höllenschlund saugt mich genüßlich an. Ihre klebrigen Fangarme umfassen mich unerbittlich um mich behutsam meiner totalen Vernichtung zuzuführen. Sie weidet sich an meinem Zittern, Beben, Zappeln, bleckt eine furchterregende Reihe Kauwerkzeuge und sabbert dem saftigen Happen entgegen..
Mich schauderts. Der grausige Anblick mobilisiert meine letzten Reserven. Aufbäumend schlage, trete, kratze, beiße, boxe ich in und gegen diese widerwärtige Fratze; gewinne allmählich die Oberhand, befreie mich aus der todbringenden Umarmung und................erwache!
Kalter Schweiß bedeckt mich vom Scheitel bis zur Sohle, durchnäßt mein Nachtgewand und befeuchtet meine Liegestatt. Unaufhaltsam quellen Tränenströme aus meinen Augenwinkeln, fluten meine Ohren, versickern im Kopfkissen. Schauer jagen in hochgepeitschten Wellen über mich hinweg, lassen mich erzittern, überziehen mich mit permanenter Gänsehaut.
Ganz, ganz langsam realisiere ich die Zeichen des L e b e n s !
In meine Erschöpfung schleicht sich ein Verstehen : Du bist noch einmal davongekommen! Das Ewige gewährt Dir noch eine Chance Deinen Platz in dieser unvergleichlichen Schöpfung zu finden!
Erleichterung, Ruhe, Glückseligkeit keimen auf, erblühen zu einer kostbaren, zerbrechlichen Schönheit!
Mein Bewußtsein gebiert die Erkenntnis : I c h l e b e n o c h !!! ICH LEBE NOCH!!!!