Montgomery – Sibylle Lewitscharoff

  • Sibylle Lewitscharoff wurde 1954 in Stuttgart geboren, bekam Ende der 90er Jahre ein dreimonatiges Stipendium für die Casa di Goethe in Rom und liebt Filme. Addiert man diese drei Faktoren, dann kommt Montgomery heraus.
    Fast. Denn ein Faktor fehlt, und das ist das überbordende Temperament der Autorin im Umgang mit Sprache und mit ihren Figuren.
    Montgomery ist Montgomery Cassini-Stahl, Abkömmling einer Tochter aus reichem Stuttgarter Haus und eines italienischen Fotografen. Das Leben in Stuttgart, eine bedrückende Kindheit im Haus des übermächtigen Großvaters, stets im Schatten des kranken Bruders, das Außenseiterdasein selbst in der Schule, hält er nur bis in die späte Pubertät aus, dann flüchtet er zum Onkel nach Rom. Dort findet er durch Zufall nach Cinecittà und damit seinen Beruf. Er wird Filmproduzent. Als berühmten und einflußreichen Mann, kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag, trifft ihn ein ehemaliger Klassenkamerad zufällig nachts in Rom. ‚Blechle’ nennt dieser ihn, mit dem alten Spitznamen der Schulzeit, denn Cassini-Stahl heißt einer nicht in Stuttgart und schon gar nicht Montgomery, nach dem berühmten Gegner Rommels. Ein Affront schon unter den Erstkläßlern des Jahrgangs ’49 und eine stete Erinnerung der Autorin daran, daß Vergangenes und Gegenwärtiges eng verbunden sind.
    Wenn auch nicht immer so, wie man zunächst denkt. Der auffällige Vorname wurde der Hauptfigur nämlich nach dem Schauspieler Montgomery Clift gegeben, von seinem Vater, dem Fotografen Cassini, der noch vor seinem jüngsten Sohn aus Stuttgart und damit für immer aus dem Leben der Familie Stahl verschwand.
    Neugier und ein gerüttelt Maß an Schuldbewußtsein wecken in dem Schulfreund den Wunsch, ‚Blechle’ nach all den Jahren näher kennenzulernen. Er braucht eine Woche, bis er sich dazu durchringt, dem Wunsch nachzugeben. Eine Woche für eine ehrliche (?) menschliche Regung. Doch es ist zu spät, Cassini ist tot, ein Herzinfarkt, mitten in Rom.
    Das Treffen ist nur die Rahmenhandlung, der Hauptteil des Romans schildert die letzten sieben Tage Montgomerys aus dessen Sicht. Seinen Alltag, durchorganisiert und verwaltet von Haushälterin, Sekretärin, Chauffeur, allein der Rücksichtnahme auf seine Empfindsamkeiten geweiht. Der Schatten der Familie, die Erinnerung an den Bruder, der als Kind bei einem ungeklärten Unfall ums Leben kam, die täglichen Telefonate mit der alten Mutter in Stuttgart. Sein neues Projekt, die Verfilmung von Feuchtwangers Roman Jud Süß, das sein Vermächtnis und zugleich seine Abrechnung mit seinem dumpfen bürgerlichen Hintergrund werden soll. Denn der tödliche Umgang mit dem Anderen ist kein Produkt der jüngeren Geschichte. Es ist erfrischend, daß hier einmal in der neuesten deutschen Literatur der Bogen weit zurück geschlagen wird, über jene 12 Jahre zwischen 1933 bis 1945 hinaus, auf denen der Blick sonst festgebannt bleibt.
    Zugleich wird deutlich, daß Montgomery bei aller Schwächlichkeit und Empfindlichkeit durchaus derjenige ist, der sein Leben kontrolliert und seine Angestellten wie seine Projekte fest im Griff hat. Er ist, schmal und magenleidend wie er daherkommt, ein großer Mann. Persönliche Größe ist auch ein Thema in diesem Roman. Selbst der Schulfreund sucht und findet sie in seinem ‚Blechle’ und wenn er sie ihm nur dadurch verleiht, daß er ihm den Tod des kranken Bruders anlastet. Eine falsche Anschuldigung, falsch, wie vieles im Leben.
    Das alles wird lebendig, bildhaft und liebevoll erzählt, in einer Sprache, die auf mich geradezu hypnotisch wirkt. Film, Leben, Wort und Bild verbinden sich. Rom, Stuttgart, Geschichte und Gegenwart, Größe und Beschränktheit. In das Spannungsfeld der letzteren fällt auch die Liebe.
    Es ist vielschichtig, geheimnisvoll, lebens - lustvoll. Es ist ein Buch, das trotz der anschaulichen Figuren vor allem auf Atmosphäre baut, ein Buch wie die Filme von Fellini. Amarcord oder noch besser La dolce vita. Man schaut und schaut, schwimmt in einer Flut von Bildern. Alles scheint greifbar und gleitet einem im nächsten Augenblick durch die Finger. Man versteht und zugleich weiß man, daß man zu wenig versteht. Man wird auf sanfte Weise gleichermaßen beunruhigt und zufriedengestellt.
    Wirklich originelle Lektüre.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Die gebundene Ausgabe, die ich besitze, ist 2003 erschienen, inwzischen gibt es Montgomery auch als Taschenbuch

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • ja, Ines,
    offenbar so sehr, daß man die Schreibfehler überliest.


    Ich werde das nie lernen!
    :bonk
    <schäm>


    Ich sag's ja!!! :bonk

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()