Die toten Seelen - Nikolaj Gogol

  • Zum Inhalt:


    Pawel Iwanowitsch Tschitschikow hat sich eine etwas seltsame Methode ausgedacht, um an Geld zu kommen: er bereist reiche, russische Gutshöfe und kauft diejenigen leibeigenen Bauern der Gutsbesitzer auf, die eigentlich bereits verstorben sind, namentlich aber noch in den Listen geführt werden müssen bis zur nächsten Revision.


    Die aufgekauften toten Seelen benutzt Tschitschikow dann als Pfandobjekte bei Kreditinstituten.


    Was sehr amüsant beginnt (die Umschreibungen und der Sarkasmus Gogols sind ein Genuss, manchmal treibt er’s bis auf die Spitze) entpuppt sich schnell als eine bitterböse Gesellschaftssatire über das Land Russland und auch wir Deutschen werden gerne mal aufs Korn genommen. Als das Buch erschien erzeugte es große Empörung – es scheint den (schmerzenden) Nerv der damaligen russischen Gesellschaft genau getroffen zu haben.


    Die Gutsbesitzer rabiat, derb, unmoralisch, verfressen – es wird fast nur gefressen in dem Buch :grin - und teilweise noch korrupter als Tschitschikow, sobald sie das Geschäft wittern.


    Und so reist Tschitschikow durch das Land und wir begleiten ihn, Gogol schmückt die Beschreibungen der Gutshäuser, der Landschaften bis ins Detail aus, man kann sich alles gut bildlich vorstellen.


    Die Charakterzeichnungen sind so treffend und auf den Punkt gebracht, so „liebevoll sarkastisch“, dass es sehr viel Spaß macht, das Buch zu lesen. Ich hab teilweise lauthals losgelacht. Der zweite Teil des Buches besteht leider nur noch fragmentarisch. Gogol hat diesen Teil nach Beendigung teilweise zerstört.


    Zum Autor:


    Nikolaj W. Gogol wurde 1809 in der Ukraine geboren, er starb 1852 in Moskau. Er war kurze Zeit im Staatsdienst (Innenministerium), danach Lehrer an einer höheren Mädchenschule. 1831 lernt er Puschkin kennen. Gogol unternahm viele Reisen, litt später immer wieder an einem „Nervenfieber“. Weitere Werke sind „Die Nase“, „Die Heirat“, “Der Mantel“


    Meine Meinung:


    Ich mag sehr diesen russischen Sarkasmus, die Art, wie die Charaktere beschrieben werden, die Derbheit, dass alles so überspitzt umschrieben wird: Hier wird geflucht, dass sich die Balken biegen, da werden Kopfnüsse verteilt, hier Schnaps getrunken bis zum Umfallen, da ein ganzes Wildschwein als Vorspeise verdrückt :lache Alles so überzogen, mit soviel Selbstironie, das find ich bewundernswert :anbet


    Der erste Teil war genial, liest sich fast in einem Rutsch. Irgendwann waren es mir dann jedoch zu viele Wiederholungen (immer wieder neue Gutsbesitzer, irgendwann gewöhnte ich mich sogar an die vielen Pfeilspitzen im Text). Den zweiten Teil empfand ich als konfus...es fehlen große Passagen.


    Die Geschichte um die toten Seelen ist der Aufhänger. Gogol schrieb eigentlich jedoch einen Roman über unmoralisches Gewinnstreben und Korruption, selbst die toten Seelen sind nicht sicher vor Geschäftemachereien und Ausbeutungen :lache Hier wird einem ganzen Land der Spiegel vorgehalten.
    Das Zitat von Thomas Mann umschreibt das perfekt: „Gogol hat dem großen Puschkin aus seinem Roman vorgelesen, und Puschkin hat sich geschüttelt vor Lachen, bis er plötzlich traurig wurde.“


    Wer sich für gesellschaftskritische Literatur interessiert, dem sei dieses Buch empfohlen. Gogol war Vorbild für Dostojewski, Tolstoi und viele andere russ. Literaten.


    Jedoch ist es nichts für jemanden, der eine morbide Horrorgeschichte à la Graf Dracula erwartet, auch wenn der Titel das vielleicht propagiert.

  • Mina,
    was mir auf die Schnelle einfällt sind
    einmal das anonyme
    Die Nachtwachen des Bonaventura


    und Heinrich Manns Untertan



    Danke für die Vorstellung. Irgendwie verrückt das Ding. Schade, daß es ein Fragment geblieben ist.


    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • hallo magali, vielen Dank für die Tips :wave


    von den "Nachtwachen des Bonaventura" hab ich auch schonmal gehört. Fand ich auch ganz interessant. Ist glaub ich mitlerweile vergriffen, wenn ich mich recht erinnere (?). Aber ich werd auf die Suche gehen. Jetz bin ich neugierig geworden :-]

  • hi, Mina,


    Nachtwachen lohnt sich, es sind aufeinanderfolgende 'Geschichten', also Beschreibungen der Begegnungen während der Runden eines Nachtwächters.
    Es ist streckenweise mehr als satirisch, fast schon existenzialistisch-nihilistisch.
    Vielleicht erwischst du irgendwo noch eines von der neueren Manesse-Ausgabe.
    Ich besitze ein ziemliches altes, Insel-Verlag. Ich kaufe sehr viel antiquarisch, weil ich alte Bücher am liebsten mag.
    :wave
    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Die Toten Seelen war auch für mich ein wichtiges Buch.
    Als ich allerdings versuchte, Jahre später in einer Neuübersetzung zu lesen, konnte ich nichts mehr damit anfangen.
    Die Sprache ist der Schlüssel des Buches.
    ich mochte auch "Die Nase" und "Der Mantel" von Gogol.

  • Ich finde, die "Toten Seelen" sind ein gutes Hilfsmittel, um die Entwicklung nach der Oktoberrevolution nachvollziehen zu können. Ein Volk, das so lange Zeit so unvorstellbar geknechtet wurde wird eben mit den früheren Machthabern und ihren Stiefelleckern nicht gerade zimperlich umgehen.

    "Hebt eure Prinzipien für die wenigen Augenblicke im Leben auf, in denen es auf Prinzipien ankommt. Für das meiste genügt ein wenig Barmherzigkeit."
    (Albert Camus)

  • Sehr schöne Rezension Mina, der ich mir eigentlich nur vollends anschließen kann. Nachdem Gogol bei Dostojewski und Bulgakov immer wieder auftaucht, habe ich es dann auch endlich einmal gelesen. Schade, das er sein Werk nicht vollenden konnte, nichtsdestotrotz ein großer Streich.

    Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
    - Wittgenstein -

  • @ Voland
    Ich habe irgendwo das Zitat gelesen: "Wir sind alle aus Gogols Mantel gekrochen." Ich weiß nur leider nicht mehr, welcher russische SChriftsteller das gesagt hat.
    Ich fand die Erzählungen von Gogol, die ich bisher gelesen habe, fantastisch, konnte aber mit den "Toten Seelen" leider nichts anfangen. Vielleicht sollte ich Herrn Palomars Vorschlag beherzigen und eine andere Übersetzung versuchen. Gibt es da von Euch Vorschläge, welche ich versuchen sollte?


    Ich habe so meine Zweifel an Twiärsdriever Deutung, dass man durch Gogol die Entwicklung nach der Revolution verstehen könnte. Ich denke, da könnte man genauso (u. a.) das teleologische Geschichtsdenken im Kommunismus nennen. Wenn Menschen glauben zu wissen, was die Wahrheit ist und wie das Paradies (auf Erden oder im Himmel) zu erreichen ist, wird es häufig gefährlich. Und die Grausamkeiten während der stalinistischen Zeit waren um ein vielfaches höher und tödlicher als unter dem zaristischen Regime.

  • Habe es in der Übersetzung von Hermann Röhl gelesen, der auch nahezu alles von Tolstoi und Dostojewski übersetzt hat, und mit dem ich bislang sehr zufrieden war, wobei das auch relativ ist, da ich keines der Werke im Original gelesen habe.

    Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
    - Wittgenstein -

  • schöner neuer avatar, voland.



    ich hab die Toten Seelen sehr gerne. Gogol hat ein paar unglaublich schöne darstellungen gefunden; manchmal wirklich sehr ergreifend. im großen betrachtet gibts diese schönheit leider nicht, was die handlung betrifft meine ich - zumindest nicht im ersten teil. es soll ja auch eine satire auf seine gesellschaft sein.


    aber der zweite teil - der ist herausragend. so fragmentarisch er sein mag, es reicht. Terentikows geschichte war so wunderbar traurig und melancholisch zu lesen. der am leben gescheiterte, der in apathie sein dasein auf dem gutshof fristet.


    die andeutungen von Tschitschikows wandel fand ich auch super.


    es ist so verdammt schade, dass Gogol das manuskript für den zweiten teilweise vernichtet hat. und auch dass er so früh sterben müsste. was hätte er nicht noch alles sagen können.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

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  • Das Buch "Die toten Seelen" besteht aus zwei Teilen, von denen der zweite nur bruchstückhaft erhalten ist, da Gogol ihn selbst vernichtet hat.
    In diesem Buch geht es nicht um Vampire oder ähnliches, wie der Titel vermuten lassen könnte. Mit dem Begriff "Seelen" bezeichnete man im russischen Zarenreich die Leibeigenen.


    Tschitschikow ist ein aalglatter, berechnender Bürger, vom dem zunächst nichts weiter bekannt ist, als dass er weder dick noch dünn und weder groß noch klein ist. Mit seinen einnehmenden Manieren macht er sich schnell beliebt. Er reist von Gutshof zu Gutshof und kauft einige Hundert tote Seelen. So lernt er einige Gutsherrn, aber auch städtische Beamte und Bürger der gehobenen Gesellschaft kennen.


    Genau diese alle sehr unterschiedlichen Charaktere dienen Gogol als Spiegelbilder der damaligen russischen Gesellschaft. In einer herrlich überspitzten Art beschreibt er sie wie Karikaturen als oberflächlich, überkanditelt, genusssüchtig, faul, neidisch, korrupt, geizig, falsch, dumm, versoffen.
    Auch der Speiseplan von Fressorgien fehlt nicht: Kohlsuppe, Blätterteigpasteten, Kaviar, Stör, geräucherte Zungen, Hammellende, Truthahn in der Größe eines Kalbs, aber auch Hirn, gefüllter Hammelmagen, Rettich in Honig.


    Dass Gogol mit seiner Gesellschaftssatire anecken würde, war ihm klar. Er beklagt auch in diesem Buch den Lesegeschmack seiner Zeitgenossen, die nicht gern die Wahrheit lesen wollen.


    Im zweiten Teil ändert sich die Stimmung etwas. Tschitschikow trifft hier zum ersten Mal auf vorbildhafte Personen. Ausführliche Landschaftsbeschreibungen lassen so etwas Heimatverbundenheit, aber auch Wehmut und Sorge anklingen. Wohin wird wohl Russland steuern? Kritik am Kapitalismus wird laut. Die Frage nach Milde in der Justiz wird erörtert. Auch Tschitschikow fasst gute Vorsätze. Doch kann er sie umsetzen? Große Zweifel bleiben.


    Interessant fand ich den Hinweis, dass Gogol ein Werk in drei Teilen geplant hat: erster Teil Hölle, zweiter Teil Purgatorium und dritter Teil Paradies. (http://www.zeit.de/1980/17/die-toten-seelen/seite-1)
    Wie hätte wohl der dritte Teil ausgesehen?


    edit:
    Wer ein bisschen mehr wissen will, kann auch hier meine Reise durch das Buch mitverfolgen. Die toten Seelen - Nikolai Gogol