Die Kinder der Finsternis - Wolf von Niebelschütz

  • „Ein Märchen aus dem 12. Jahrhundert, erzählt von einem Erzähler des 20. Jahrhunderts“, so beschrieb der Autor seinen wuchtigen Roman, der in der fiktiven südfranzösischen Landmark Kelgurien spielt. Kelguriens Orte und Landschaften lassen sich leicht in der Provence wiederfinden, indes ist die Landkarte ganz anders zusammengesetzt, so ist Kelgurien Teil des Deutschen Kaiserreichs und erlebt den politischen Machtkampf zwischen Papst und Kaiser, mit Interdikt und Gegenpäpsten mit.
    Es ist ein wortgewaltiger Roman, weswegen jetzt eine längere Leseprobe folgt. Wer den Stil nicht mag, sollte sich am Buch nicht versuchen, es wird sonst sehr anstrengend, der Fülle der Namen und Ereignisse in diesen Satzstrudeln zu folgen ...


    Textprobe (der Hirte ist übrigens die Hauptperson des Romans):
    Drüben im Mittagsglast, der Mautner bemerkte es zwischen zwei Säcken, belebte sich der Auslauf des Zederngebirges; eine Herde stieg zu Tal. Das wunderte ihn, es war nicht die Zeit für Herden, überdies wusste er, dass der Schäferkönig sich nie die Furt teilte, schon gar nicht mit Wagen, deren schwieriger Durchgang die Tiere verstörte. Es schien ein einzelner Hirt zu sein; wie wollte der durch so reißendes Wasser? Nun, vielleicht ging er nach Lorda; der dortige Bischof liebte es, seine Auwiesen zu düngen.
    Auch am Nordufer wunderte man sich. Zu Haufen standen die Fuhrleute beisammen, teils vor dem Wirtshaus, um zu schwatzen, teils vor der Kapelle, um die Absolution zu erhalten; nie wagte man sich in die Furt ohne Beichte; schwimmen konnten sie zwar alle, aber schon mancher war trotzdem ertrunken. Die Herden lagerten in einem Kiefernwäldchen; der Hirt verließ sie. „Gut gezogen, die Hunde. Äh, der Pfaffe macht Mittag. Hochwürden, könnten wir nicht noch beichten?“ - „Liebe Söhne, der Tag ist lang, ihr dürftet bis morgen mindestens hier sein.“ Der Hirt, ein Töpfchen Öl in der Hand, kam aus dem Wirtshaus. „Hochwürden, kann ich noch beichten?“ - „Heute kaum, morgen vielleicht, es sind fünfzehn vor dir.“ Er segnete mit flüchtiger Ungeduld, bestieg den Esel und trabte ins ferne Ongor.
    „Das ist ja“, sagte ein Fuhrmann, „der Seelenstier mit seiner Seelenkuh. Stellt euch vor, die Bauern haben ihm ein Mädchen gewählt, damit ihre Weiber verschont werden.“ - „Wie die Herrlichkeit, so die Geistlichkeit. Dafür beschlief der Baron eine Braut.“ - „Auf Bitten des hochzeitenden Paars immerhin, es ist sein Recht, das edle Blut breitet sich aus, und dem Ort werden die Zehnten erlassen. Was erlässt der Pfaff? Unsere Sünden. Und die seinen.“ - „Das meinst du. In Ortaffa ist ein Pfaffe gesteinigt worden mitsamt seiner Buhlschaft. Mein Bischof hat es gebilligt. Ei, was eine Sammlung Waffen!“
    Im Schatten des Daches, der Herde gegenüber, saß der Hirt auf dem Wollfilz, breitete seine Dolche, sein Krummschwert, seine Gerätschaften aus und begann sie zu putzen. Die Fuhrleute umringten ihn; man erzählte sich vielerlei Neuigkeit. „Das neueste ist: die Häuser Cormons und Ortaffa haben sich geeinigt - ein Vertrag mit achtundzwanzig Siegeln! Ortaffa! Da geht der Böse um: alle Söhne, alle Töchter gestorben; und in Cormons geht der Gute um: alle fünf Söhne auf einen Tag ins Kloster; ich habe sie gekannt - blühende, edle Menschen! Was bleibt? In Ortaffa ein Kegel von der spanischen Hexe, vorehelich, Dom Otho. Wird adoptiert. In Cormons ein Sohn ersten Bettes der Markgräfin, ehelich, Dom Carl. Wird adoptiert. Und von des Herrn Rodero Blut ein schönes, junges, armes Wesen, Judith heißt sie. Ein Wesen aus dem Märchen. Man kauft es aus dem Verlöbnis aus und prügelt es dem ortaffanischen Kebssohn ins Brautbett, dem Alchimisten - da ist er in der Furt.“ - „Der Graf auch?“ - „Graf auch. Sind ja seine Waren. Der handelt jüdischer als der Jud.“ „Wie darf Er so von Seinem Herrn sprechen?“ - „Ich bin bischöflich.“ - „Dann will ich dir einmal etwas über deinen Bischof sagen. Dein Bischof von Rodi, wenn er ein Kerl wäre, hätte die Hexe Barbosa, wenn sie Hexe wäre, in der Hand zerquetscht, statt von ihr Stiftungen zu nehmen! Austreiben den Teufel! Auspeitschen!“ - „Ich“, rief der Gegner, „peitsche dir ein!“
    „Friedlich“, sagte der Hirt, stand auf und trennte sie, indem seine Arme sie links und rechts an die Hauswand schoben. - „Ein Mensch wie Goliath“, bemerkte der Ortaffaner. - Der Bischöfliche streckte die Hand hin. „Wer ist stärker?“ Er wusste es, als er unten saß. - Der Hirt setzte sich wieder.


    Wolf von Niebelschütz wurde am 24. Januar 1913 in Berlin geboren. Er studierte Geschichte und Kunstgeschichte, war bis 1940 als Literatur-, Theater- und Kunstkritiker tätig und nach dem Krieg als freier Schriftsteller. Er starb am 22. Juli 1960 in Düsseldorf.


    Mich hat der Roman begeistert, als ich ihn vor gut zwanzig Jahren das erste Mal las. Auch jetzt, da ich nur eine Leseprobe abtippe, überkommt mich große Lust, dieses Feuerwerk der Sätze noch einmal ganz zu lesen.


    :wave
    GleichSamm

    Ein Buch zu öffnen, meint auch zu verreisen.
    Heißt mehr noch: sich auf Neuland vorzuwagen.
    Ob seine Worte brechen oder tragen,
    muss sich beim Lesen Satz für Satz erweisen.

    (Robert Gernhardt)

  • Der blaue Kammerherr, inspiriert durch das Fragment eines Opernlibrettos von Hugo von Hofmannsthal, spielt zur Zeit des Barock in einer fiktiven griechischen Inselwelt. Geschickt mischt Niebelschütz mythologische und literarische Elemente: In opulenter barocker Sprache lässt er neben den Göttern der Antike auch Gestalten wie Othello und Don Giovanni auftreten.


    Das sagt Wikipedia zu diesem Werk. Ich habe es bald nach den Kindern der Finsternis gelesen (weil die so großartig waren), und das konnte nur schiefgehen, denn


    :-(Die Sprache ist ganz anders - ich fands nicht opulent, sondern weitschweifig und geziert.
    :-(Die Handlung schien mir trivial: hier wird kein Reich errichtet, sondern hier werden Liebeshändel und -tändeleien geschildert, und das in schwülstiger Sprache über 4 Bücher hinweg ...


    :pille Gesamteindruck: verschwendete Lebenszeit!


    Wohlgemerkt: Damals war ich 18, noch viel leseunerfahrener ... aus heutiger Sicht möchte ich ergänzen: "Die Kinder der Finsternis" sind der Lebensansatz "carpe diem" - erreiche etwas in der Welt und im Leben, bau etwas auf, schaffe, schaffe, spare, spare, Häusle baue (etc)
    "Der blaue Kammerherr" ist der Entwurf des "Lebe jetzt und sei glücklich", genieße den Augenblick, lebe im Hier und Jetzt, (etc.)
    Und das hat Niebelschütz vor allem sprachlich umgesetzt.
    Während die Sprache der "Kinder der Finsternis" drängt, uns mit Fakten, Namen und Handlungen eindeckt und uns mitreißen will,
    hat die Sprache des "Blauen Kammerherren" alle Zeit der Welt, und beschreibt uns die Schönheit von Welt und Augenblick in weitschweifiger Selbstverliebtheit.


    Das kann ich inzwischen verstandesmäßig erfassen, trotzdem werde ich den "Blauen Kammerherren" nicht mehr anfassen (was einfach ist, er war damals nur geliehen ;-) )
    :wave
    GleichSamm

    Ein Buch zu öffnen, meint auch zu verreisen.
    Heißt mehr noch: sich auf Neuland vorzuwagen.
    Ob seine Worte brechen oder tragen,
    muss sich beim Lesen Satz für Satz erweisen.

    (Robert Gernhardt)

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