Die ersten beiden Akte hätten wohlmöglich zu Affären gepasst, wären sie nicht zu lang und ginge es, alle drei Akte betrachtet wird das klar, nicht um etwas anderes: das Leben selbst.
I.
Immanuel ging häufig allein aus. Er lebte seit acht Jahren mit einer Frau zusammen, flirtete aber dennoch gern. Im Herzen ist Immanuel unsicher, die Bestätigung seiner sexuellen Attraktivität ist ihm wichtig, das Feedback von außen. Noch wissen, dass man's kann. Immanuel hätte auch mit mehr Frauen geschlafen, hatte aber ein Problem: er fand keine, die ihn an Marie erinnern.
Singles dieser Stadt, ein erfolgreicher Flirt kostet 24,90 (19,95 für ein Notizbuch, 4,95 für einen Druckbleistift). Immanuel machte sich ständig Notizen. Ein chronologisches Protokoll seines Lebens, eine schier endlose Serie von Gedanken und Sätzen, so versuchte er seinem Leben Struktur zu verleihen, zu retten, was noch zu retten war, zwanghaft auf der Suche nach Kohärenz hinter der menschlichen Existenz. Seine Worte zeichneten kurzweiliges Glück und langwierige Nichtigkeit, beteten, hofften, verzweifelten und, als Urform des Wortes, schrieen. Zwischen all den Zeilen, über ihnen und darunter: Melancholie.
Singles dieser Stadt, vergesst die Plage des Anlächelns von Menschen, die nichts zu lachen haben, die Anstrengung sich über unzählige Verrenkungen mühselig auf einem Dancefloor zu profilieren! Setzt euch in einem Club einfach in eine Ecke, wo der Bass angenehm euer Hirn fickt, wo ihr gesehen werdet, ohne unnötig gestört zu werden und nehmt euer tolles Notizbuch.
"Singles dieser Stadt, ein erfolgreicher Flirt kostet 24,90…", schrieb Immanuel und ein Mädchen näherte sich ihm. Sie schlich sich an seine Seite, um neugierig einen Blick über seine Schulter zu werfen. Er drehte charmant sein Notizbuch ein wenig von ihr weg und ihr Haar berührte flüchtig sein Ohr, als sie ihrem Blick hinterher rückte. So konnte er flüchtig ihren Duft wahrnehmen und verhinderte gleichzeitig, dass sie las, dass da nur "Singles dieser Stadt, ein erfolgreicher Flirt kostet 24,90…" stand. Er legte das Notizbuch beiseite und zündete sich eine Zigarette an.
"Hi", flüsterte er.
Immanuel war spät losgegangen. Hochpunkt der Stimmung! Die Zeit hatte das Ihrige getan und auf dem Dancefloor sorgfältig diejenigen, die die Musik lieben, von denjenigen, die die Körper lieben, getrennt. Wer auf einen schnellen ONS oder die Liebe seines Lebens aus war, liegt inzwischen mit ihr oder ihm in einem Bett und harrte der Enttäuschung des Morgens (oder hatte sich umgebracht); die Nacht gehörte den wahren Nachtschwärmen, den burlesken Burratinos des Beats, den saturierten Satyrn der Strobos, den parakleten Putten des pumpenden Bass. Reclaim the floor! Revolution, Renaissance, ein goldener Zeitmoment inmitten explodierender Nebelmaschinen. Fun ist ein Stahlbad! Ein tonnenschweres Blitzlichtgewitter zu dem tausende Watt wiegenden Wort Gottes. Die Musik - frei nach Mark Twain - wo immer sie war, da war Eden. Immanuel fürchtete das Glück nicht; es existiert nicht.
"Wie heißt du?" fragte er und bot ihr auch eine Zigarette an.
"Wie immer ich heißen soll", lächelte sie.
"Du siehst porno aus, wenn du lächelst."
"Ich weiß", nickte sie.
"Geht's dir gut?"
"Ich weiß nicht", schüttelte sie den Kopf. Sie war wirklich reizend.
Er zeigte auf ihren Drink. "Kann ich einen Schluck haben, um das hier runterzuspülen?" fragte er und zeigte auf das Papierkügelchen, dass er vom Boden seiner Zigarettenschachtel hervorgeschüttelt hatte. Ecstasy besteht ursprünglich aus ca. 5 mg Amphetamin und 45 mg MDMA, aber in Umlauf weiß meist noch nicht einmal der Dealer, was genau in den Pillen ist. Immanuel bevorzugte reines MDMA in Pulverform.
"Wenn du auch eine Bombe für mich hast."
"Möchtest du tanzen?" mochte Immanuel wissen.
Technoclubs sind die besseren Swingerclubs, nur hier hast du die Möglichkeit für eine Nacht und einen Morgen wirklich eins zu sein in Liebe. Im gleichförmigen Wummern der Boxen verschmelzen: Beginn der Apotheose, von Beat, Bass und Melodie. Die Hälse recken sich und haben nur noch einen Körper, den Mündern entfährt ein einziger, synchroner Schrei. Arme schießen nach oben, Hintern zur Seite, Sneakers verlieren die Bodenhaftung. Im Protoplasma der Menge ist jeder für sich und alle in einem. Das warme Gefühl von der Musik gehalten zu werden, das warme Gefühl von der Musik getragen zu werden. Die Körper duften nach Milch und Schweiß und lösen sich auf in Rausch. Phoenix aus der Asche, aus dem Staub des Dancefloors. "Never stop!" dachte Immanuel. Never stop! und nach vierzig Minuten verließen sie die Tanzfläche wieder, wo sie ihn in eine Ecke drückte und zu küssen versuchte.
Sie schmeckte nach Wodka, genau wie Marie bei ihren erstem Kuss, genau, wie er es liebt. Der nächste Kuss diente der Erforschung ihres Mundinnenraumes. Die biologische Funktion des Kusses ist tief in unseren Genen veranlagt und dient eine Überprüfung der Kompatibilität des potentiellen Sexualpartners; ein Test nach möglichen Krankheiten und komplexer Abgleich der Erbstruktur, wie gut sie sich mit der eigenen zu ergänzen in der Lage ist.
Eine Hand legte sich auf ihren Oberschenkel, wanderte die wenigen Zentimeter des Minirocks hinauf und lag auf ihrem nackten Hintern. Die kleine Schlampe trug keinen Slip und ihm war es egal, das jeder, der sie sah, Teiles ihres blanken Arsches sehen konnte.
Marie hatte ihn im Laufe der acht Jahre ihrer Beziehung weitaus häufiger betrogen als er; Immanuel konnte bisher vier Onenightstands verzeichnen, wo sie es auf über zwanzig brachte, einen Großteil über Wochen und Monate hinweg. Anfangs hatte es ihn angetörnt. Sie war gerade einmal Sechzehn gewesen, als sie sich kennen gelernt hatten, er Zwanzig. Als er noch in sie verliebt war, als er sie noch nicht ernsthaft liebte, versuchte er ihre Eskapaden mit anderen Männern, meist Jungs aus ihrer Schulklasse, als Kompliment zu verklären, als Ehrung, mit einer Frau fest zusammen zu sein, die so begehrt war. Mit der Zeit wurde es Marie leid, ihre Attraktivität derart zu verschwenden und sie begann mit älteren zu schlafen, was Immanuel schon eher als Bedrohung empfand. Dennoch versuchte er weiterhin diesen schmerzhaften Aspekt der Sexualität zu verdrängen. Er war sogar mehrmals anwesend gewesen. Als er zum ersten Mal sah, wie ein fremder Schwanz in Marie eindrang, fand er das derart erregend, dass die Reibung der Hose an seinem eigenen erigierten Glied ausreichte, ihn kommen zu lassen. Sie winkte ihn mitten im Akt zu sich in der Absicht, ihn zu blasen, aber nach seinem Orgasmus fühlte er sich nur noch deplatziert, der momentane Akt hatte jeglichen Reiz für ihn verloren und er konnte nur noch verwundert feststellen, wie viel Haare sein bester Freund auf dem Hintern trug, während Marie unter ihm die Beine spreizte. Er ging in den Nachbarraum, schenkte sich ein Glas Wein ein und verspürte zum ersten Mal einen Stich von Eifersucht, den er damals noch nicht einzuordnen in der Lage war. Er sollte seine Gefühle zu ihr und sein Verlangen nach einem alleinigen Vorrecht auf ihren Körper erst überdenken, als sie achtzehn wurde.
Es war, als hätte sich der Geruch ihres Körpers fast schlagartig mit ihrem achtzehnten Geburtstag verändert; aus dem Mädchen war eine Frau geworden und obwohl er den Geruch des Mädchen unheimlich reizvoll gefunden hatte, reizte ihn die junge Frau umso mehr. Er begehrte sie, gleichzeitig musste er sich eingestehen, sich nach den vergangenen gemeinsamen zwei Jahren nicht mehr vorstellen zu können, ohne sie zu leben.
Sie besuchten danach noch mehrmals gemeinsam einen Swingerclub. Es war jedes Mal erregend gewesen, auch für Immanuel, der dabei stets nur mit Marie schlief, fand jedoch sein Ende, als eines Tages sich ein anderer Besucher unbemerkt seines Kondoms entledigte, bevor er es wieder mit Marie trieb. Immanuel hatte kurz davor gestanden, den Mann zu schlagen, aber er war zu feige. Sie verließen überhastet den Club.
Daheim bestand Immanuel darauf, mit ihr zu schlafen, um sich gegebenenfalls ebenfalls anzustecken, was er Marie nie erzählen sollte. Es war der beste Sex, den er je mit ihr gehabt hatte und vierzehn Tagen später machten sie beide einen HIV-Test, auf dessen Resultat sie eine weitere bange Woche warten mussten. Es kam dann schnell der Punkt, in dem aus dem Verlangen nach Liebe Verlangen nach Wärme und Zuneigung wurde. Die Nächte, die Marie bei anderen Männern verbrachte, waren schmerzhaft und endlos. Immanuel beschimpfte sie, verfluchte sie, versuchte sie zu verstehen, kurzum, er versuchte seine Gefühle und sie nicht zu verlieren. Er begann dafür zu sorgen, immer eine Packung Stilnox für diese Nächte bereit zu haben, von der es meist zwei Tabletten gelang, ihn in einen traumlosen Schlaf zu versetzen.
Ein erneuter Wodkakuss. Ein Finger legte sich auf ihre Scheide, sie war bereits feucht. Er küsste sie heftiger, fast schon brutal, sein Zeigefinger legte sich auf ihren Anus. Am Ende zog sie sich gegenseitig in Richtung Toilette. Entgegen dem, was man als Mann gemeinläufig glauben könnte, nämlich, dass Damentoiletten sauberer sind als Herrentoiletten, befinden sich Herrenklos meist noch in einem hygienischeren Zustand als ein Damenklo und so trieben sie es schlussendlich auf der Herrentoilette.
Er wäre fast gekommen, als sie ihm das Kondom, das sie aus ihrer Handtasche zog, überstreifte. Er schloss die Augen und nahm sie mit hektischen Stößen, während er an ihrem Hals roch. Er leckte den Schweiß von ihrer Haut und der Sex war gut, aber er hätte besser sein können, wenn Immanuel dabei mehr an sich gedacht hätte. Ging aber nicht: er musste ständig an Marie denken. Ihm wurde schlagartig bewusst, wie sehr er Marie liebte, wie glücklich er sich eigentlich schätzen sollte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Hause zu ihr zurückzukehren und er wünschte sie nichts sehnlicher, als diesen Fick hier zu Ende bringen und das er nie enden würde. Selten fühlte er sich Marie so nah wie in diesem Augenblick. Wie ein Sonnenstrahl durch eine graue Wolkendecke brach seine Liebe durch die Decke der Gewohnheit, die sich wie Staub über ihr Zusammenleben gelegt hatte. Ein Sonnenstrahl, eiskalt, kristallin und erbarmungslos.