Franz Kafka - Der Prozeß

  • (Sorry, vielleicht etwas lang :-( Aber es lässt sich schwer in Kürze zusammenfassen, weil mich viele Dinge so nachhaltig beeindruckt haben, dass ich einige Passagen hier rauspicken möchte)


    Josef K. wird am Morgen seines 30. Geburtstages von einem Aufseher und zwei Wächtern, die von drei Bankbeamten begleitet werden, verhaftet. Ohne Begründung, K. ist sich keiner Schuld bewusst. Ihm wird auch im Laufe der Handlung niemals mitgeteilt werden, was genau der Grund für seine Verurteilung ist.


    Das Buch beginnt skurril, beklemmend und genauso wird es weiter geführt. K. darf weiterhin auf freiem Fuß bleiben, begegnet den seltsamsten Persönlichkeiten, die über eine höhere Macht und tuschelnd über K.s Verbrechen genauestens Bescheid zu wissen scheinen.


    Manche Umschreibungen erinnern an Traumsequenzen, so unlogisch sind sie: Gerichtsgebäude, die sich auf schäbigen, engen, stickigen Dachböden befinden (auf denen die Vermieter teilweise ganz normal ihre Wäsche aufhängen :grin ), Räumlichkeiten, in denen man sich nur gebückt fortbewegen kann. Endlos lange Treppen, Verzweigungen Zimmer, deren Einrichtung sich beim zweiten Betreten ändert, Betten, über die man steigen muss, um durch eine Tür zu gelangen und nicht zuletzt die zwielichten Verhaltensweisen mancher Personen.


    Besonders nachhaltig blieb mir diese Szene im Kopf: K. schaut in eine Besenkammer. Dort befinden sich die zwei Wächter, die von einem Dritten ausgepeitscht werden. Sie flehen K. an, ihm zu helfen. K. schließt später schockiert die Tür. Am nächsten Tag schaut er aus Neugierde wieder in die Besenkammer. Die Szene mit den Wächtern, die Dialoge, alles spielt sich haargenau und wortgetreu wie am vorherigen Tag ab. Wie ein Film, der zurückgespult wurde :wow


    Als roter Faden zieht sich der bevorstehende Prozess, der über allen Handlungen K.s schwebt, aber nie wirklich greifbar wird, durch die Handlung.


    Über den Autor:


    Kafka wurde am 3. Juli 1883 als Sohn jüdischer Eltern in Prag geboren. Zwei seiner Brüder starben im Säuglingsalter, seine drei Schwestern wurden Anfang der 40er Jahre im Konzentrationslager getötet.


    Jurastudium (daneben Interesse für Germanistik/Kunstgeschichte/Chemie) in Prag, währenddessen lernt er Max Brod kennen, mit dem er viele Reisen unternimmt und der sein engster Vertrauter wird. Brod nimmt an Kafkas Werken teil, ihm werden Passagen vorgetragen, Brods Überredungskünsten verdankt Kafka, dass er überhaupt Werke zu Lebzeiten veröffentlicht hat. Nach Kafkas Tod (3. Juni 1924) publiziert Brod den „Prozeß“ – entgegen der testamentarischen Verfügung Kafkas – der das Skript verbrannt wissen wollte.


    Weitere Werke sind z. B. Das Urteil, Der Verschollene (1927 von Brod unter dem Titel Amerika herausgegeben), Die Verwandlung, Das Schloß


    Meine Meinung:


    Ich fing an zu lesen und dachte mir: erst mal das Ganze zulassen, so wie es geschrieben ist, hinnehmen, wirken lassen. Nicht unbedingt versuchen, logisch nachzuvollziehen. Und das Buch hat mich gerade deshalb so in den Bann gezogen. Es entbehrt jeglicher Kontrolle, Logik wird hier häufig ausgeblendet. Teilweise hab ich mich gefragt, ob Kafka unter Drogeneinfluss stand :grin Die ganze Situation ist so grotesk, unglaublich fast, wie rational K. teilweise noch handeln kann. Habe ich erst befürchtet, dass für mich der Schreibstil das größte Hindernis darstellt, muss ich jetzt sagen, dass es sich ganz wunderbar lesen ließ. Flüssig und klar. Seine Art zu schreiben also keineswegs unlogisch oder undurchsichtig.


    Es gibt tausend-und-eine Interpretationsmöglichkeiten. Einige habe ich mir angeschaut und durch den Kopf gehen lassen. Manches war mir zu weit hergeholt. Fakt ist, dass „Der Prozeß“ nicht fertiggestellt wurde und die Fragmente teilweise im Nachhinein von Brod zusammengefügt wurden.


    Wer bereit ist, sich auf ein mal ganz anderes, befremdliches, verstörendes Leseerlebnis einzulassen, dem möchte ich das Buch wärmstens ans Herz legen. Es gehört ab sofort zu meinen absoluten Lieblingsbüchern, wenn nicht sogar das Liebste.


    „Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“ Kafka, Der Prozeß

  • Eine tolle, ausführliche Rezi! Ich habe dieses Buch vor Jahrzehnten mal gelesen und habe jetzt das Gefühl, ich sollte es mal wieder auf meinen SWB packen :-)

    Viele Grüße aus dem Zwielicht
    Ein Buch ist ein Spiegel. Wenn ein Affe hineinguckt, so kann kein Apostel heraussehen.
    Georg Christoph Lichtenberg
    blooks

  • Ich mag Kafka nicht und dieses Buch mag ich besonders nicht Ich habe es kurz vor Schluß in die Ecke gepfeffert und da bleibt es auch liegen. Wenn ein Autor nicht in der Lage ist, in mir wenigstens den Ansatz einer sinnvollen Interpretationsmöglichkeit hervorzurufen, dann hat er irgendwas falsch gemacht.....*duckt sich und rennt* :lache

  • Zitat

    Original von Babyjane
    Ich mag Kafka nicht und dieses Buch mag ich besonders nicht Ich habe es kurz vor Schluß in die Ecke gepfeffert und da bleibt es auch liegen. Wenn ein Autor nicht in der Lage ist, in mir wenigstens den Ansatz einer sinnvollen Interpretationsmöglichkeit hervorzurufen, dann hat er irgendwas falsch gemacht.....*duckt sich und rennt* :lache


    vielleicht ist genau das die Intention und könnte eine Interpretation sein: nämlich dass es keine gibt.


    Ist aber nur eine von so vielen Möglichkeiten, das Buch zu interpretieren. Deshalb machts ja so Spaß. :-) Selbst die Literaturwissenschaftler schlagen sich die Köpfe ein und streiten sich immer wieder und gerne darüber. Das Buch bietet halt genügend Raum für die unterschiedlichsten Ansichten.


    Ist ja auch letztendlich Geschmackssache und ich glaub, es gibt ne ganze Menge, die Deine Meinung teilen, Babyjane, nämlich dass das Buch völlig überbewertet wird.


    Mich hats neugierig gemacht und ich werd die anderen Bücher von ihm auch bald mal lesen.

  • mina


    find ich das klasse! Kafka hat eine neuen Fan.
    Ich schaff ja bloß die Erzählungen.


    Deine Beschreibung gefällt mir außerordentlich gut.


    @BJ


    wie kann man Literatur bloß interpretieren!
    Willst Du interpretiert werden???


    Siehste!


    :lache

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Die Geschichte ist, wie mina schon sagte, skurril.
    Sie ist beklemmend, angsteinflößend, denn darum geht es.
    Um Angst existenzieller Qualität, Orientierungsglosigkeit, Ausgeliefertsein, egal, ob einer Behörde oder der Welt.


    Und zwar, das ist eben die 'Moderne', ohne Leuchtfeuer am Horizont, an das eine sich halten könnte. Das totale Verlorensein.


    Ich glaube, das Problem mit diesem Text ist eben, daß es kein 'fertiger', abgeschlossener war.


    Die Frage ist, ob er nicht abgeschlossen war, weil Kafka (noch?) nicht darstellen konnte, was er darstellen wollte. Das Ding liegt sozusagen noch auf der Werkbank.
    Dann stirbt er, und ein Unterstützer und Bewunderer macht aus dem Fragmentarischen einen Roman.
    Büchner ist das mit Woyzeck genauso passiert.


    Auch vieles andere von Kafka muß man letztlich als unfertiges Produkt lesen, als Versuche auf einem Weg, Dinge mit Sprache zu gestalten, von denen keine/r weiß, ob wir eigentlich überhaupt die Worte dafür haben. Jetzt oder später.
    Kafka geht an die äußerste Grenze der Ausdrucksmöglichkeit.


    Er selber wollte ja, daß seine Hinterlassenschaft verbrannt wird. Er hielt ja alles für ungenügend, weil er nicht da ankam, wo er hinwollte.


    Ich weiß bis heute nicht, ob Brod recht hatte, als er ihm diesen Wunsch verweigerte.


    Wer sicher nicht recht hatte, sind die Literaturwissenschaftler, die in ihrem Deutungswahn die Texte zu Schrott machen.


    :wave
    Magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe auch schon an dem Process herumtheorien müssen in Literaturwissenschaft.


    Erst hab ich Kafka gehasst, dann geliebt und jetzt finde ich ihn nur noch strange.


    Ich hab gerade heute eine Hausarbeit abgegeben über "Das Urteil" und muss sagen, dass mir Kafka dadurch immer fremder geworden ist.
    Aber weil ich gerade noch drin bin, werde ich noch ein paar seiner anderen Erzählungen lesen und mir noch mal versuchen, ein differenziertes Abschlussbild von ihm zu machen und natürlich von seinen Schriften.


    Übrigens sehr sehr interessant sind seine Tagebücher, die ich für meine Hausarbeit mitverwendet habe, Max Brod hat sie veröffentlicht.
    Wenn ich sie mehr gelesen habe als nur nach nützlichem Material quer zu suchen, werd ich sie rezensieren.

  • Zitat

    Original von Babyjane
    Ich mag Kafka nicht und dieses Buch mag ich besonders nicht Ich habe es kurz vor Schluß in die Ecke gepfeffert und da bleibt es auch liegen. Wenn ein Autor nicht in der Lage ist, in mir wenigstens den Ansatz einer sinnvollen Interpretationsmöglichkeit hervorzurufen, dann hat er irgendwas falsch gemacht.....*duckt sich und rennt*


    *sich anschließt*
    Ich hab Kafka jetzt ewig lange im Deutsch-Lk bearbeitet und ich kann einfach kein einziges "Werk" mehr von ihm sehen. Er macht es dem leser wirklich nicht leicht (um nicht zu sagen unmöglich) etwas in seinen Parabeln zu entwirren. Für mich war es einfach nur eine Qual mich durch diverse Kurzgeschichten o.Ä. zu arbeiten. *Babyjane nachläuft*

  • Zitat

    Original von Schwarzes Schaf


    *sich anschließt*
    Ich hab Kafka jetzt ewig lange im Deutsch-Lk bearbeitet und ich kann einfach kein einziges "Werk" mehr von ihm sehen. Er macht es dem leser wirklich nicht leicht (um nicht zu sagen unmöglich) etwas in seinen Parabeln zu entwirren. Für mich war es einfach nur eine Qual mich durch diverse Kurzgeschichten o.Ä. zu arbeiten. *Babyjane nachläuft*



    Nein ganz falsch, da gibt es nichts auf den ersten Blick zu enträtseln! Und er hat nicht geschrieben um zu verrätseln, sondern das ist seine Art des Ausdrucks, die ich mittlerweile großartig finde!
    Seit ich eine Monografie von ihm gelesen habe (Danke magali :wave) sehe ich ihn komplett anders und sein literarisches Schaffen hat inzwischen meine Bewunderung.
    Vielleicht habt ihr so wie ich viel zu viel Text und viel zu wenig Kafka selbst besprochen? Mir ging es genau wie dir, ich fand alles furchtbar und war genervt, weil man einfach kaum etwas verstehen konnte, egal wie man sich bemühte, man hatte immer das unbefriedigende Gefühl, nichts in einen sinnvollen Zusammenhang gesetzt zu haben.

  • Zitat

    Original von Sterntaler
    Vielleicht habt ihr so wie ich viel zu viel Text und viel zu wenig Kafka selbst besprochen? Mir ging es genau wie dir, ich fand alles furchtbar und war genervt, weil man einfach kaum etwas verstehen konnte, egal wie man sich bemühte, man hatte immer das unbefriedigende Gefühl, nichts in einen sinnvollen Zusammenhang gesetzt zu haben.


    Kann natürlich durchaus sein dass mir durch das ewige Durchsprechen des Buches einfach die Lust vergangen ist und ich mir keinen richtigen Zugang schaffen konnte. Aber ich denke auch nicht dass sich das noch ändern wird, habe gar keine Lust mehr irgendwas von Kafka zu lesen.
    Ist halt nicht jedermanns Sache.

  • Zitat

    Original von Schwarzes Schaf


    Ist halt nicht jedermanns Sache.


    Ich will auch sicher nicht jeden zu Kafka bekehren, davon abgesehen ist nie irgendwas immer "jedermanns Sache".
    Aber ich will einfach nur erklären, dass Kafka gar nicht wollte, dass man alles interpretieren und rückschließen kann. Es ist einfach auch mitzubedenken, dass er vieles gar nicht veröffentlicht haben wollte.

  • Meine persönliche Ansicht bezüglich Kafka ist sehr strittig. Ich ziehe seine Kurztexte seinen Romanen vor. "Der Prozeß" habe ich beginnen zu lesen und um ehrlich zu sein: es fiel mir sehr schwer. Ich mag seinen Schreibstil nicht. Ich respektiere und bestaune, was dieser Mann in seiner kurzen Lebenszeit vollbracht hat, doch seine Erzählungen wie "Auf der Galerie", "Der Nachbar" u.a. haben mich wesentlich mehr beeindruckt.
    "Der Prozß" ist für mich ein schwer zu kauendes Buch, nicht allein aufgrund des Schreibstils, dieses Herunterleiernden. Tut mir Leid, ich kann mich mit ihm nur schwer anfreunden. ;-) Bei den Erzählungen bin ich wesentlich offener!

    Aktuelles Buch


    "Berlin Alexanderplatz" von Alexander Döblin


    "Goethe - Dichtung und Leben" von Curt Hohoff

  • *ausgrab*


    Jo, der Schreibstil ist nicht grade einladend. :write Aber da kann man sich doch dran gewöhnen ;) Was ich aber am besten fand , sind die vielen tollen Interpretationsmöglichkeiten.
    Wenn es gar nicht geht sollte man vllt. ersteinmal "Amerika" lesen, der hat m. E. von allen Kafka-Romanen immer noch die konventionellste Handlung.

    Am Lesen :"Doktor Faustus" :wave :-)


    Am Verzweifeln :"Ulysses" :bonk :pille


    Buch für die Ewigkeit: "Der Mann ohne Eigenschaften" :anbet

  • Kleist hat zwar Kafka in seinem Werk beeinflusst und zwischen dieses beiden Autoren könnte man viele Parallelen sehen, trotzdem distanziere ich mich von Kafka und oute mich meinerseits als Kleist-Fan :anbet


    das obsessive eyre

  • Ich glaube man kann die Handlung im „Prozess“ getrost vernachlässigen, aber dieses Gefühl der Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Welt, diese Paranoia, dieses Nicht-verstehen-können, und daraus abgeleitet das Akzeptieren dieses Zustands - das ist schon genial gemacht. Am Schluss wird Josef K. hingerichtet und man ist froh, dass man es nicht selbst ist und zurückkehren kann in die von Sonnenschein und Optimismus durchflutete eigene Welt.


    Am besten liest man den Prozess im Zuge einer Wochenendreise nach Prag im November, zwischen Spaziergängen im Nebel über die steinerne Karlsbrücke und am Fuß des Hradschin. Und lässt sich dabei einflüstern: „Dass Du paranoid bist heißt nicht, dass sie nicht hinter Dir her sind!“



    Aber vielleicht habe ich als Österreicher einfach zu viele reale Erfahrungen mit österreichischen Behörden machen müssen... ;))

  • Gerade jetzt in den Weihnachtsferien mussten wir den Proceß für die Schule lesen.
    Anfangs war meine Skepsis noch groß, aber im Laufe des Buches schwand diese doch sehr.
    Zuerst war ich etwas irritiert, da Kafka viele Situationen nicht allzu ausführlich beschreibt bzw. öfters Sprünge macht. Aber genau dies ist ein Grund warum ich dieses Buch so gern gelesen hab. Man weiß nicht wirklich was im nächsten Kapital passiert.
    Was ich ein wenig schade fand, ist dass der Schluß so mager ist - aber er passt einfach zum Gesamtwerk.
    Der Proceß ist ,meiner Meinung nach, ein Meisterwerk - man sollte ihn gelesen haben und sollte sich dafür auch Zeit nehmen.

  • Zitat

    Original von Heinz
    Am besten liest man den Prozess im Zuge einer Wochenendreise nach Prag im November, zwischen Spaziergängen im Nebel über die steinerne Karlsbrücke und am Fuß des Hradschin. Und lässt sich dabei einflüstern: „Dass Du paranoid bist heißt nicht, dass sie nicht hinter Dir her sind!“


    Das nenne ich präzise Leseempfehlung. Einfach Klasse :wave
    Und nicht vergessen: SIE BEOBACHTEN DICH

    Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen,

    der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig. :lesend
    Ernst R. Hauschka

    Liebe Grüße von Estha :blume