Die Unvollendete - Michel Faber

  • Ines


    was sie singen, ist aber ein Frühlings - und Fruchtbarkeitslied. Was die lebensbejahende, geradezu religiöse Komponente der Erzählung verstärkt.


    Es kann natürlich auch bedeuten, daß sie 'untergehen', aber die Musik bleibt.


    Deine Deutung der weiteren Zukunft der einzelnen Mitglieder ist stmmig, aber würde es nicht bedeuten, daß sie sich nicht geändert haben?
    Sie haben sich aber doch geändert.
    Ich weiß z.B. nicht, ob Julian gehen wird, er hat ja 'die Musik' gefunden bzw. sie ihn. Er ist auf Sex aus, bekommt ihn nicht, findet statt dessen dieses Buch mit den Massenet-Liedern.
    Ob Dagmar ihr Leben einfach so weiterführt, würde ich nicht unbedingt bejahen. Sie hat einen ziemlichen Schock bekommen, Werden (Axel) und Vergehen (Ben) sind ganz dicht bei ihr. Sie hat die eigentlichen Extreme des Lebens erfahren (die liegen halt nicht im Bergsteigen, :grin)


    Ich habe mich beim Lesen auch gefragt, ob es nicht um eine Rückbesinnung auf ältere Musik geht, ein wenig Distanz finden zu den extremen Verrenkungen der zeitgenössischen. Rückbesinnung auf die Harmonien, nicht die Disharmonien im Vordergrund behalten.
    Die ältere Musik und die musikalische Tradition ist durchgängig postiv besetzt.
    Catherine macht sich bei einer der Proben auch Gedanken über diese ständigen Dissonanzen in dem modernen Stück, fand ich spannend.


    Thema ist auch das 'Miteinander'

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Liebe Magali,


    deine Deutung ist sehr optimistisch, lebensbejahend. Das erstaunt mich. Aber die Menschen lernen nichts. Nie. Sie lernen erst aus dem Scheitern. Und soweit sind sie noch nicht. Das Scheitern kündigt sich an, aber noch liegt es vor ihnen. Weiter geht es erst danach.
    Sie haben ja noch nichts begriffen.
    Findest du nicht?


    fragt Ines

  • Ines


    nein. Ich grüble gerade, woher Du die durchgängig negtive Deutung haben könntest.
    Ich sehe es nämlich genau umgekehrt. Allerdings muß es nicht heißen, daß sie als Ensemble weiterhin singen.


    Daß Menschen aus Scheitern lernen, glaube ich nicht. Ich glaube nicht mal, daß sie aus Fehlern viel lernen. Aber davon hatten wir es ja schon häufiger ;-)


    Heaven
    Es tut mir ja fast leid.
    Du darfst morgen auch mit mir schimpfen :lache

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali



    Heaven
    Es tut mir ja fast leid.
    Du darfst morgen auch mit mir schimpfen :lache


    Hat ja nix gekostet. ;-) Und das andere von Faber hat mir ja auch prima gefallen.
    Vielleicht kann ich dich morgen mit diversen Büchern anfixen. :grin

    _______________________
    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

  • Magali,


    ich finde die Deutung gar nicht so negativ. Sie entspricht den einzelnen Charakteren. Sie sind egoistisch, du sagtest es schon. Also werden sie etwas für sich suchen, das ihnen am ehesten entspricht und Gewinn enthält.
    Für Dagmar ist Freiheit der größte Gewinn, also wird sie danach streben. Und vielleicht eben am Pazifik oder auf dem Mont Everest.
    Julian will Ruhm. Also das Gegenensemble.
    Roger hat einen Erziehungsauftrag und eine leichte Profilneurose. Also das Duo. Catherine sucht die Sicherheit. Also Roger.
    Die 14 Tage in Belgien waren zu kurz, um wirklich etwas zu ändern. Der Tod Bens zu wenig wichtig für die einzelnen Mitglieder.


    WAs denkst du? Wie geht es weiter? Was siehst du umgekehrt?

  • Ich glaube, daß es nicht um die Frage geht, wie sie sich im Einzelnen verhalten, sondern daß sie begriffen haben oder zumindest eine Ahnung davon bekommen, was Musik in ihrem Leben bedeutet. Das Singen, Stimme haben und sie miteinander hören lassen.
    Daß es da etwas Größeres gibt als ihre Befindlichkeiten.
    Musik als eigentlichen Bezugspunkt. Es ist nicht mehr nur der Ruhm, die Freiheit, das Ego an sich
    Sie sind sich ihrer Berufung stärker gewahr geworden, wenn man das so konservativ ausdrücken will.
    Es ist für mich eher eine Geschichte um den Moment der Erkenntnis. Aus dem vielleicht sogar eine erste Handlung folgt, so direkt unter dem Schock. Catherine kann ja plötzlich eine Entscheidung treffen, als Beispiel.


    Ich muß noch ergänzen: es wird stets mit dem Wort 'courage' gespielt, Mut.
    Paßt das dazu?

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • An dieser Stelle, Magali, ist mein Eindruck ein ganz anderer. Der Aufenthalt in Belgien samt Bens Tod hätte dazu führen können, der Musik, der Kunst in ihrem Leben einen anderen Stellenwert zu geben.
    Aber mit der Kunst ist es so, dass sie Verzicht erfordert. Sogar Verzicht auf das Ego. Und ich glaube, dazu sind die Sänger nicht bereit. Die Erkenntnis, mag sein, dass sie diese hatten oder zumindest hätten haben können, aber ich befürchte sehr, dass sie sich schlicht dagegen entschieden haben. Außer vielleicht Catherine, aber auch sie wird wieder zurück in die Sicherheit gehen. Im Grunde haben sie die Kunst zweimal verraten.


    Edit: Ja, Courage passt. Sehr gut sogar. Es erfordert Mut, sich zur Kunst, zu seinem Talent zu bekennen und damit auch ein Außenseiter zu werden. Diesen Mut haben die Sänger nicht. Wir haben schon oft darüber gesprochen, wie viel Mut dazu gehört, ein Leben zu Leben, welches sich gegen das "allgemein Richtige" (Botho Strauss) richtet.

  • Wenn sie sich dagegen entschieden hätten, würden sie dann singen?
    Das ist das, was bleibt.
    Und sie singen etwas anderes als vorher, sie singen brüchiger und leiser, aber auch lebensbejahender. Die Wahl des Lieds ist wichtig, wie auch der letzte Satz.
    Lies den nochmal.
    Und sie singen zusammen, jede und jeder auf ihre/seine Weise. Sie finden sich in einem traditionellen Lied wieder, das aus verschiedenen Stimmen besteht, es ist ein mittelalterlicher Rundgesang, jeder fügt sich ein, wie er oder sie kann, improvisiert, Dagmar z.B. die ja den Text nicht kennt, es geht ums Gemeinsame mit eigenen Zugaben.
    Sie sind im Gesang, sie sind das Lied, sie sind in der Tradition und doch Individuen.
    Vorletzter Satz, wo sind die Augen?


    Kunst erfordert Verzicht? Schwieriges Feld.
    Ob Kunst Verzicht aufs Ego ist?
    Nein. Aber das ist bloß meine Ansicht. Sind KünstlerInnen nicht die größten Egoisten? ;-)

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    K. Kraus

  • Zitat


    Sind KünstlerInnen nicht die größten Egoisten? ;-)


    Sie sind es, Magali, und gleichzeitig sind sie das Gegenteil.
    Der Künstler sollte hinter seinem Werk zurück stehen. Ein Werk-Zeug sein. Frag jetzt bloß nicht, für wen. Glaubte ich an Gott, dann wäre die Antwort einfach.
    Auf jeden Fall aber hat er eine besondere Begabung. Niemand hat ihn gefragt, ob er sie auch haben mag. Er hat sie - und damit die Verpflichtung, diese zu nutzen, auszubauen, Vollendung anzustreben. Nur darin wird er letztendlich Erfüllung finden.
    Niemand entzieht sich ungestraft seiner Begabung.


    Kunst ist mehr als ein Beruf. Es ist eine Existenzform. Was aber kostet es, wirkliche Kunst, wirklich Neues zu schaffen? Du musst mit Konventionen brechen, musst anders denken als andere. Das macht einsam, denn dein Verzicht auf das "allgemein Richtige" unterscheidet dich von den anderen. Und du kannst niemals sicher sein, ob du nicht irrst. Siehe Handke.
    Du kannst dich niemals ausruhen, niemals andere wichtige Dinge - die Familie, die Kinder, die Hobbys - an die erste Stelle rücken. IMMER lebst du als Künstler. IMMER. Jeder andere hat Feierabend, hat Urlaub.
    Das ist das Gegenteil von Egoismus.


    Kunst kann aber nur der schaffen, der sich selbst sehr gut kennt. Selbstkenntnis als Voraussetzung. Das bedingt eine dauernde Beschäftigung mit der eigenen Person und wird von übel Meinenden gern als Egozentrik oder Narzissmus bezeichnet. Kunst bedingt überdies Konsequenz. Ich schrieb es oben: Die Familie und andere Dinge, die gemeinhin als wichtig gelten, spielen immer nur die zweite Geige. Das wird als Egoismus ausgelegt.
    Außerdem ist ein Künstler kein besonders soziales Wesen. Wie auch? Er hat sich ja gerade gegen die Gemeinschaft der "allgemein Richtigen" entschieden. Und wer unsozial ist, gilt als egoistisch.

  • Ja. Mußt Du das mir erzählen? :grin


    Aber bei den Personen des Buchs ist die Lage doch ein wenig anders.
    Zusammen sind sie Kunst. Das wird doch so beschrieben, im Singen sind sie eins, solange sie ein Stück aufführen, sind sie mehr als die Summe ihrer Teile, da sind sie Musik, ihre Stimmen machen die Kunst.
    Das funktioniert, dadurch sind auch berühmt geworden. Es ist ja keine Nullachtfuffzehn-Truppe.
    Sie sind eine Gruppe, es sind ja keine Solisten.
    Ein menschliches Miteinander haben sie aber nicht geschaffen, sie waren hervorragende Künstler, international berühmt, aber keine sehr netten Menschen untereinander.
    Das hat sich jetzt geändert.Gleich, ob sie zusammenbleiben oder nicht, sie haben einen Blick auf etwas geworfen, eine Möglichkeit.
    Ein Thema der Erzählung ist Harmonie.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Aber sie bewegen sich aufeinander zu.
    zum Schluß singen sie wieder zusammen, auf dem Heimweg.
    Ist das nun gut oder schlecht?


    Und die Stelle im nächtlichen Wald verwirrt mich immer noch.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • MaryRead


    es sind einzelne Wörter, die schief rüber kommen, eben das oben schon genannte 'tonisch' oder 'Pulsen' für Pulsieren. Manchmal klingt es ein wenig flach, da feheln im Deutschen Schwingungen und Obertöne.


    Der Text ist aber ziemlich dicht und ich nehme an, daß er mit Worten spielt. Das Titelwort 'Courage' (im Originaltitel Courage Consort) ist so eins, ebenso das 'Consort', das sowohl das Ensemble als auch die Ehefrau bedeutet.
    Schon von daher liest Du es am besten im Original.
    Dann kannst Du uns die ganze Geschichte noch mal erklären. :lache


    Es geht viel um Musik, you'll like it.
    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • magali
    Danke. Die Frage hätte ich mir eigentlich sparen können... ich hatte nur vor lauter "Roger" und "Catherine" und Belgien und Mutter Courage zwischendurch den falschen Schluss gezogen, das Buch sei im Original französisch, und davor wäre ich davongelaufen. :wow Dabei weiss ich ja schon längst, dass es englisch ist. Und da hätte ich eh keine Übersetzung gelesen. Also - ja, Wunschliste, und wenn mein Leseloch überwunden UND mein SUB auf etwas gesundere Grösse geschrumpft ist, kommt es an die Reihe! ;-)

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Ich habe eure interessante Diskussion gerade nachgelesen, und dabei fiel mir ein, dass es mich gestört hat, wie Michel Faber in diesem Buch mit Fachbegriffen nur so um sich wirft.


    Wenn es um die Musik ging, konnte ich ihm manchmal kaum folgen, und ich habe eigentlich nie Lust, eine schöne Lektüre zu unterbrechen, um ein Lexikon oder das Internet zu bemühen. Da hatte ich manchmal den Eindruck, er wollte zeigen, wie gut er informiert ist (recherchiert hat?) - aber den Lesern, die mit der fachlichen Seite der Musik nicht vertraut sind, hat er nicht unbedingt einen Gefallen getan.

  • Liebe Waldfee,


    ich habe ebenfalls wenig Ahnung von den Fachbegriffen in der Musik, aber mein Nichtwissen hat mich in diesem Fall nicht gestört.


    Manchmal ist es aber so, dass einem Begriffe aus einer Richtung, die einen sehr interessiert, einfach in Fleisch und Blut übergehen. Unterhalt dich mal als Fußballer mit einem Nichtfußballer. Der arme Nichtfußballer hat keine Ahnung von Strafraum und Freistoß und Abseits und solchen Sachen; der Fußballer kann das überhaupt nicht verstehen. Vielleicht ist Faber ein wirklicher Musikinteressent, der einfach nicht bemerkt hat, dass bestimmte Begriffe nicht allgemein geläufig sind. Aber das ist nur eine Spekulation.