Die Unvollendete - Michel Faber

  • Klappentext:


    Auf einem Schloss im belgischen Martinekerke probt die Sopranistin Catherine mit einem Vokalensemble das höchst komplexe Stück eines zeitgenössischen Komponisten. Leiter der renommierten Gruppe ist Catherines Ehemann Roger, der daran gewöhnt ist, bei den Proben wie in seiner Ehe den Takt anzugeben. Doch auf einmal ist alles anders. Je schwieriger sich die Proben gestalten, desto mehr nähert sich Catherine einer neuen, ungewohnten Freiheit. Behutsam tritt sie aus dem Schatten ihres Mannes und findet zu ihrer ganz eigenen, unverwechselbaren Stimme.


    Der Autor:


    Michel Faber wurde in Holland geboren, wuchs in Australien auf und lebt heute mit seiner zweiten Ehefrau und deren beiden Söhnen in den schottischen Highlands. Sein Roman „Das karmesinrote Blütenblatt“ war weltweit ein großer Bestsellererfolg und wird gerade von Hollywoodregisseur Curtis Hanson verfilmt.


    Meine Meinung:


    Ein leises, zurückhaltendes Buch, dass ich sehr gern gelesen habe. Es macht Spaß, die allmähliche Reifung der unvollendeten Catherine mitzuerleben. Michel Faber schreibt melodiös, charmant und unterhaltsam.

  • Heute nachmittag hab ich diese kleine aber feine Büchlein in einem Rutsch durchgelesen. Sehr schön erzählt, ist es für mich eine Erinnerung an früher, als ich auch mit einem kleinen Ensemble herumgefahren bin und haargenau die selben Spannungen kennengelernt habe: Auf der Bühne geht alles gut, aber das Proben bringt endlose Streitereien und Gefühlsverwirrungen, besonders dann, wenn man sich gemeinsam einkaserniert.
    Die Beschreibung des Stückes, das sie einstudieren, all die Gedanken über Anpassung an den allgemeinen Geschmack zugunsten des Geschäftssinns, wie sich die Sänger voneinander emanzipieren und besonders Catherine heraustritt aus dem Schatten ihres Mannes - das finde ich realistisch und wohlformuliert erzählt. Für mich ein sehr schönes Buch.


    (Und jetzt wär ich neugierig auf das Karmesinrote Blütenblatt)

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Könnt ihr nicht mal aufhören, meine Wunschliste vollzustopfen? :fetch Ich stecke momentan immer noch im tiefsten Leseloch, aber auf solche Rezis muss ich einfach anspringen!
    Trotzdem noch eine Frage: in welcher Sprache ist das Original geschrieben?

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Zitat

    Original von MaryRead
    Trotzdem noch eine Frage: in welcher Sprache ist das Original geschrieben?

    Ich hab schon während des Lesens extra nachgesehen: Englisch. Was mich in der Übersetzung stört, sind falsche Fachausdrücke, auf Deutsch würde z.B. nie jemand "tonisch" sagen sondern "klanglich", und da sind ein paar solche Schnitzer. Aber das hat der Sache keinen Abbruch getan.


    Es ist übrigens eine gutes Leselochbuch, weil sooo schnell ausgelesen. :grin

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Zitat

    Original von Taschenbuch



    (Und jetzt wär ich neugierig auf das Karmesinrote Blütenblatt)


    Mir hat es sehr gut gefallen, auch wenns um einige Seiten hätte gekürzt werden können. ;-)
    Besonders die Erzählweise fand ich toll.
    Ist man in der "Vollendeten" auch wieder so eine Art "Zuschauer" oder wird es ganz normal erzählt?

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    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

  • Danke Heaven, das Karmesinrote Blütenblatt hab ich heute bestellt. :-)
    Die Unvollendete wird ganz normal erzählt und ist, wenn, dann leider eher zu kurz.

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Ich finde auf Englisch nur dieses hier (wenn auch in drei verschiedenen Ausgaben) - das scheinen drei "novellas" in einem zu sein, und die "Unvollendete" ist die Titelgeschichte "The Courage Consort". Hmm... na, ich werd's erst mal auf die Wunschliste setzen. ;-)

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Zitat

    Original von Waldfee


    Was meinst du damit, Heaven?


    Faber erzählt in dem Buch so, dass du das Gefühl hast dort in die Geschichte rein zu gucken. Man nimmt den Leser wörtlich bei der Hand, zeigt hier und dort hin,weist auf Personen...... Es gibt da sozusagen einen Erzähler der den Leser immer wieder anspricht. Fand ich schön und ausgefallen. :-)

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    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

  • Zitat

    Original von Heaven


    Faber erzählt in dem Buch so, dass du das Gefühl hast dort in die Geschichte rein zu gucken. Man nimmt den Leser wörtlich bei der Hand, zeigt hier und dort hin,weist auf Personen...... Es gibt da sozusagen einen Erzähler der den Leser immer wieder anspricht. Fand ich schön und ausgefallen. :-)


    Aha. Nein, das ist bei der "Unvollendeten" anders. Ein konventionell, aber schön erzählter Roman. :-)

  • "Die Unvollendete" - so viel steht jetzt schon fest - ist mein Glanzlicht, mein Polarstern des ersten Lesehalbjahres 2006.


    Aber: Ich habe das Buch irgendwie anders gelesen als Waldfee und Taschenbuch.


    Ja, es geht um ein Vokalensemble, das zu Proben in ein Chateau nach Belgien fährt, aber es geht um viel mehr. Catherines "Reifung" scheint mir nur schmückendes Beiwerk zu sein.
    Fünf Vokalisten bemühen sich um ein Stück eines modernen Komponisten. Aber warum eigentlich? Keinem von ihnen gefällt dieses Stück. Warum singen sie es? Warum mühen sie sich damit?
    Da ist Roger, Catherines Ehemann und selbst ernannter Leiter des Ensembles. Er hat sich die Aufführung neuer Musik auf die Fahne geschrieben. Er MUSS also - getreu seinem Motto und nicht fähig, davon abzuweichen - dieses Stück singen bzw. singen lassen. Nicht einmal, als er feststellt, dass dieses gesungene Stück "nur" Bestandteil einer Perfomance ist und mit grässlichen Videobildern begleitet wird, gelingt es ihm, selbstbewusst auf der Kunst bzw. seinem Motto zu beharren. Roger verkauft seinen Kunstbegriff für seine Führerrolle.
    Catherine ist von Roger abhängig. Sein Wunsch ist ihr Befehl. Nicht aus freien Stücken. Es hat sich halt so ergeben, dass sie erst ein Kind ihrer Eltern und nun ein Kind ihres Mannes ist. Ohne Anweisungen ist sie unfähig zu eigener Handlung. Warum aufbegehren? Gegen wen? Gegen was? Für wen? Und für was? Also singt sie das Stück. Sie verkauft die Kunst gegen Sicherheit.
    Die Deutsche, Dagmar, die Jüngste unter den Vokalisten, hält mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. ABER: Dieses Ensemble ist das einzige Vokalensemble, das zu ihrem selbstgewählten Leben passt. Nur hier darf sie ihr Baby mit zu den Proben bringen. Nur hier fragt niemand, was sie außerhalb der Musik tut. Es ist die Freiheit - oder die Gleichgültigkeit der anderen -, die sie hier in diesem Ensemble hält. Sie tauscht die Kunst gegen persönliche Freiheit. Dafür würde sie am Ende auch Bedienungsanleitungen für Mikrowellen singen.
    Der vierte Musiker, Julian, gilt als einer der besten Tenöre Englands. Doch er ist unfähig, sich einem großen Orchester unterzuordnen. Er also bleibt bei diesem Ensemble, um eines Tages die Nachfolge Rogers anzutreten. Schon jetzt stichelt er, schon jetzt widerspricht er, schon jetzt stellt er das Motto Rogers und das des Ensembles in Frage. Ihm sind Geld und Ruhm wichtiger als die Kunst an sich.
    Das fünfte Mitglied, Ben, hat aufgegeben. Er will nichts mehr. Nicht im Leben, schon gar nicht in der Kunst. Nur sein Frühstück am Morgen. Mehr nicht. Er wäre gerne Steuermann in einem Ruderboot geblieben, doch dafür ist er zu dick geworden. Also singt er. Er könnte auch Fenster putzen oder die Hundesteuer eintreiben. Aber das hat noch niemand von ihm verlangt. Erwartet wird nur, dass er singt. Und er tut es. Er erkauft sich mit der Kunst seine Ruhe.
    Am Ende stirbt er. Mit seinem Tod zerfällt das Ensemble. Erst jetzt wird deutlich, dass es zu keinem Zeitpunkt um Kunst gegangen ist, sondern nur um Befindlichkeiten und Eitelkeiten, die sich hinter einer künstlerischen Maske gut verstecken ließen. Die Kunst war für jeden einzelnen der Vokalisten, für den Komponisten, den Videokünstler und sogar den Leiter des Musikfestivals nur Mittel zum Zweck.


    Für mich ist es eine Erzählung, die den Begriff Kunst und Künstler zum Thema hat und aufzeigt, wie korrumpierbar dieser Begriff in der Gegenwart ist. Man kann sich dahinter verstecken, man kann den Begriff als Schutzschild vorweg tragen, man kann ihn als Alibi persönlicher Feigheit oder als Alibi für eine unverhüllte Profilneurose benutzen. Es geht nicht um Inhalte, sondern nur um die Form bzw. die Illusion, die sich hinter dem Begriff Kunst verbirgt. Es geht um den Unterschied zwischen Kunst und Inszenierung von Kunst im Sinne von Vorspiegelung. Offen bleibt die Frage, was Kunst, was Künstler sind, was von ihnen erwartet wird. Catherine hat eine "Reifung" erfahren. Es ist mir nicht klar geworden, was der Auslöser dafür war. Für mich ist sie eine tragische Figur gerade durch ihre Reifung. In ihrer Abhängigkeit hatte sie eine Aufgabe, einen Sinn. Nun ist ihr diese Aufgabe verlustig gegangen. Was bleibt ihr eigentlich noch? Am Anfang wollte sie sterben, wollte sich töten. Am Ende ist sie es, die die Aufführung absagt. Aber hat sie damit nicht die Schaufel für das eigene Grab in die Hand genommen?

  • Hallo Ines,


    danke für deine interessanten Ausführungen, die mein Blickfeld auf diesen Roman noch einmal erweitert haben. Erinnert mich an den Deutschunterricht, in dem ich immer ganz erstaunt war, was man aus einer Geschichte so alles herausinterpretieren kann. Ganz sicher liegst du richtig: Es geht um die Kunst und den Umgang mit der Kunst. Und parallel dazu geht es um die persönliche Reifung einer abhängigen Frau.

  • Hihi, Waldfee,


    ich muss ein bisschen kichern. Ich dachte nämlich gestern Abend, dass ich aus der Geschichte eigentlich nur das heraus gelesen habe, was mich persönlich gerade beschäftigt. Der Kunstbegriff nämlich. Kann gut sein, dass nichts davon in diesem Buch steht, aber viel in meinem Kopf. Weißt du, was ich meine?
    Wenn man mit einem Problem beschäftigt ist, dann sieht man alles nur noch durch die Brille dieses Problems. Selbst die Anleitung zur Herstellung einer Tütensuppe bekommt plötzlich ganz andere Dimensionen. Kennst du das auch?

  • Ja, Ines, das kenne ich auch. Aber genau durch solche "Brillen-Blicke" kommt es immer wieder zu interessanten Interpretationsansätzen - und deinen finde ich wirklich gelungen. :-)


    Ich könnte meinen ersten Eindruck dagegen halten: Das Ensemble spielt das ungeliebte Stück, weil es davon leben muss und nicht aus sonstigen persönlichen Motiven - aber auch in diesem Fall haben die Musiker ihre Vorstellung von der Kunst verkauft. So ist das ja, wenn man Berufskünstler oder Berufskreativer ist: Man muss sich ständig verkaufen, denn wer bezahlt, hat Recht. Aber wem sage ich das? :wave

  • Darf ich mich nochmal einmischen?


    Als Auslöser interpretiere ich den Versuch ihres Mannes, über den Tod des Kollegen einfach so hinwegzugehen. Das ist ihr wirklich zuviel.


    Catherine steht ja ziemlich "unter dem Schlapfen" ihres Mannes, ihr Anteil am Ensemble ist kein selbstbestimmter sondern ein lediglich Aufträge ausführender. Indem sie ihre persönlichen Grundsätze plötzlich über das (scheinbare) Gemeinwohl stellt (jeder abgesagte Auftrag ist ja nicht nur ein momentaner Verlust sondern birgt auch die Gefahr, beim nächsten mal von vorneherein ersetzt zu werden), tritt sie aus diesen Rollen heraus.


    Damit hat sie erstmal vor sich selber die Möglichkeit, etwas anderes zu machen, ihre Fähigkeiten als eigenständige Person vielleicht ganz anders einzusetzen.
    Ich hänge nämlich der Überzeugung an, dass man sich die meisten Schranken im Leben selber setzt. Das wär so ein Punkt zum Sprengen der Grenzen.


    Mich hätte ja interessiert, wie es fürs Ensemble dann weitergegangen ist... ;-)

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Ich habe es gestern gelesen.


    Das Thema ist auch in meinen Augen 'Kunst', aber eher unter dem Aspekt 'Talent' und ob einen Talent zu etwas verpflichtet. So zwischen Unsinn, Kommerz, dem täglichen persönlichen Versagen im Miteinenander und Schönheit-Erhabenheit.
    Die Personen sind kleinkariert, unsympathisch, egoistisch und zugleich wunderbar, großzügig, offen, sensibel, wenn sie mal von sich selber absehen. Das gelingt ihnen im Lauf dieser 14 Tage. Ich habe es nicht unbedingt als das Erwachen von Catherine allein gelesen, auch die andern verändern sich.
    Nicht ganz kapiert habe ich diese Nachtszene im Wald, als Catherine draußen ist.


    Eines noch sollte gesagt werden: es ist bei aller Tragik eine ungeheuer komische Geschichte. Ich mußte oft laut lachen, wegen der Reaktionen (nicht nur auf den Videokünstler), der Dialoge, der Verrücktheit des Ganzen. (Die Diskussion um die Partitur und Unterhosen!!) Es ist auch ungemein sinnlich erzählt, die Farben, das Essen - selbst der Porridge, die Hitze, die Luft. Der Autor hat keine Angst vor Adjektiven, das ist geradezu barock an manchen Stellen.
    Und es ist ungemein musikalisch.
    Wie es mit dem Ensemble weitergeht? Na, zum Schluß singen sie doch miteinander, die Kunst zumindest bleibt. ;-)


    An der Übersetzung hat mich manches gestört, aber insgesamt ist es eine sehr schöne, spannende und hochinteressante Erzählung.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Liebe Magali,


    hast du wirklich den Eindruck, sie werden noch zusammen singen? Nein, das glaube ich nicht.
    Das Ensemble wird auseinander fallen: der Tenor wird ein Gegenensemble gründen, Dagmar wird an den Pazifik fahren, dort die Walgesänge studieren und mit einem zweiten Baby irgendwann zurück kommen. Roger wird mit Catherine zusammen ein Duo bilden wollen und Catherine wird letzten Endes mitmachen.
    Sie sind alles samt gescheitert bzw. Bens Tod ist die Ouvertüre zum Scheitern der anderen. Niemand kommt ungeschoren davon.