Entartete Kunst Entertainment

  • »Betrachten Sie für einen Augenblick dieses Bild«, sagte die Stimme aus dem Off. Sein Blick huschte gehorsam über die Leinwand, die sich über drei Meter in die Höhe und vier Meter in die Breite erstreckte. Was die frühen Menschen monumental genannt hatten, was sie beim Aussprechen dieses Wortes dachten und fühlten, in dunkler Gewissheit sahen oder ahnten, ließ sich bei diesem Anblick vermuten. Wie ein einziges Wesen so etwas zustande bringen kann, dachte er, während seine Augen kunstgeprüft über die Leinwand tasteten und seine Erinnerungen nach bekannten Mustern abhorchten. Daß dieser kleine Gedanke des Mannes schon dutzend-, zigtausend- abermillionenfach an gleicher Stelle gedacht wurde, störte seine Augen nicht. Sie sprangen von der einen Seite des Bildes auf die andere, in der Hoffnung, etwas neues, aufregenderes zu sehen.
    Klicken - Surren - Stimme: »Verehrter Besucher, wenden Sie sich bitte der kleinen Senke neben dem Bild zu«; der Mann schreckte auf und gehorchte, ging fünf Schritte – die er in Gedanken langsam abzählte – nach rechts und stand vor einer scheinbar unnützen Einkerbung der Wand. Ein Räuspern kam aus den Deckenlautsprechern. Wieder ertönte ein Klicken, dann hob sich die Wand in der Einbuchtung unter dem Lärm der verborgen arbeitenden Maschinen nach oben und legte einen Raum frei. Die Mechanik heulte schon von neuem auf und eine auf Schienen montierte Plattform schob sich träge aus dem Raum heraus nach vorne. Auf der Plattform befand sich ein mittelgroßer Käfig, der wiederum eine Kreatur barg, die sich mit ihren Pfoten oder Krallen oder Klauen an die Gitterstäbe klammerte, und in einer mit strohausgelegten Ecke kauerte.
    »Hier sehen Sie ein männliches Individuum der Gattung Homo sapiens sapiens«, dozierte die Off-Stimme und das Ding im Käfig zuckte bei jedem einzelnen Wort zusammen. »Es trägt die Urheberschaft des Bildes zu Ihrer linken Seite. Das Individuum ist einhundertdreiundsiebzig Zentimeter groß und wurde vor sieben Jahren in freier Wildbahn gefangen. Man schätzt das Alter auf vierzig Jahre. Es trägt den Namen „David“.«
    Interessant, dachte der Mann. Er hatte mittlerweile eine Cola-Dose aus seiner Manteltasche gefummelt. Er beschaute die Kreatur und sagte: »David also. Mmh.« Daraufhin wanderte sein Blick zu einem kleinen roten Schild am Käfig. »Es ist Ihnen nicht gestattet, mit den Tieren zu sprechen«, murmelte er. Er zuckte mit den Schultern und nahm einen letzten Schluck aus der Dose. »Soso, mmh.«
    Off-Stimme: »Beachten Sie vor allen Dingen die Extremitäten des Individuums, die von feiner Beschaffenheit und somit die Voraussetzung sind zur Verrichtung von Arbeiten diesen oder ähnlichen Formats. Es ist eine funktionale Eignung für den Gebrauch von Werkzeugen, die zur Produktion dieser Kunstgegenstände benötigt werden.«
    »Aha«, sagte der Mann, steckte die Dose weg und rieb sich das Kinn. Sein Blick wanderte von den Extremitäten Davids zu seinen eigenen, dann hob er prüfend seine linke Hand, drehte sie einmal und nickte anerkennend, »Jaa...hm«, und schaute auf die riesige Leinwand, die ihn an ein Gemälde erinnerte, das er vor langer Zeit einmal gesehen hatte: Altdorfers Schlacht bei Issos. Doch dieses Bild war ungleich gewaltiger: zwei Schlachtreihen prallten aufeinander, gingen ineinander über und verschmolzen zu einem Meer aus Lanzen und Schwertern und Fahnen und dazwischen schwebten Gesichter des Todes, Masken des Leids, mit lodernden Augen voller Grimm, während der Himmel rote Schlieren tragend die Sonne verschlang; ihre letzten Strahlen tasteten wie bleiche Finger nach den Rüstungen der Soldaten, die vom Blut der Feinde matt und abgestumpft ihren alten, schönen Glanz verloren hatten.
    »Das Bild hat einen Marktwert von ungefähr zwölf Millionen Pfund Stirling«, dröhnte die Off-Stimme, als habe sie die Gedanken des Mannes erraten. »Die Produktionsdauer liegt bei fünf Jahren.«
    »Donnerwetter«, sagte der Mann und pfiff leise.
    David hatte sich mittlerweile zu seiner vollen Größe aufgerichtet. In seinem zotteligen Haar hingen wenige Strohhalme und das tief liegende Schwarz seiner Pupillen flackerte; seine Hände verkrampfte sich indes um das Eisen, während er sein schmutziges Gesicht seitlich gegen die Gitterstäbe drückte und kehlige Laute artikulierte. Der andere Arm langte aus dem Käfig heraus in die Richtung des Mannes. Unter Davids abgewetzten Jeans zeichneten sich magere Beinchen ab und das Hemd hing über seinem Oberkörper wie ein Leinentuch. Der viehische Gestank war unerträglich.
    »Helfen Sie mir«, sagte David in schlechtem Englisch. »Helfen Sie mir, bitte!«, seine Hand schnappte auf und zu. Der Mann trat einen Schritt zurück und flüsterte: »Es ist Ihnen nicht gestattet, mit den Tieren zu sprechen.«
    »Es ist Ihnen nicht gestattet, mit den Tieren zu sprechen«, sagte die Off-Stimme.
    »Helfen Sie mir bitte«, sagte David.
    Der Mann überlegte einen Moment. »Mhm«, dann holte er die leere Cola-Dose aus seiner Manteltasche und warf sie David an den Kopf. Dieser stolperte rückwärts, fiel über seine eigenen Beine und schaute verstört aus dem Käfig. Die erhabene Stille des Ausstellungsraums vermengte sich mit dem dumpfen Lachen des Mannes und dem ängstlichen Wimmern der Kreatur zu einer einzigen Groteske.
    Kurz darauf schlenderte der Mann zum Ausgang. Im Hintergrund hörte er die Maschinen arbeiten, die den Käfig zurück in den Hinterraum transportieren. Danach war der silbrige Schleier musischen Schweigens wieder gefallen, das, obwohl es dem Raum Würde und Erhabenheit verlieh, nicht selten auf das Höhere und Bessere verwies, die längst vergangenen Schreie der Exponate nicht vergessen machen konnte. Doch das kümmerte den Mann nicht mehr, als er aus dem Ausstellungsgebäude hinaus in die Londoner Abendluft trat. Der Himmel hatte sich mit einem grauen Vorhang versehen. Eine Frau, die am Ausgang gewartet hatte, harkte bei dem Mann ein, und beim Heruntergehen der Treppenstufen fragte sie: »Und, wie fandest du die Ausstellung?«
    »Mmh«, sagte der Mann. »Ganz interessant. Aber ist wirklich genauso, wie sie im Fernsehen gesagt haben.«
    »Möchtest du eine Cola trinken gehen?«, fragte sie. Und der Mann antwortete das, was dutzend, zigtausend und abermillionen andere Männer an gleicher Stelle geantwortet hätten: »Ja«, sagte er, »und Hunger auf Burger hab’ ich auch.«

  • Huch, liebe Seestern, ich bin überracht! Vielen, vielen Dank!


    Das Komische am Text: er ist genauso wie mein letztmonatiger Wettbewerbsbeitrag in einem Rutsch und in kurzer Zeit entstanden, die Idee, Künstler zu domestizieren, spukt schon lange in meinem Oberstübchen 'rum und da ich in der letzten Zeit mit geistreichen Einfällen nicht gerade gesegnet war, habe ich mir das Thema zur Brust genommen und umgesetzt.


    Gesagt sei, die vorliegende Fassung wurde von mir nicht überarbeitet, lediglich auf Rechtschreibfehler überprüft. Die Geschichte lagert in Wirklichkeit noch in der Schublade und wartet darauf, daß ich ihr die Falten glatt bügele.

  • [quote]Original von Grizzly
    Huch, liebe Seestern, ich bin überracht! Vielen, vielen Dank!


    quote]


    Ähhh... Weshalb so überschwenglich Grizzly? :gruebel
    Ist Dir schon der kalte Schweiß ausgebrochen, weil Du befürchtet hast, ich hätte Deine Story in der Luft zerfetzt? :pille


    Wenn mir was gefällt, sag ich das so, kann auch noch was anderes, als immer nur meckern :grin


    Wäre allerdings auch sehr auf die überarbeitete Version gespannt! :wave

  • Nein, so meinte ich das nicht. Ich hatte Bedenken, ob man die Geschichte auch beachten würde. Wie du siehst, wird sie zwar angeklickt, mitunter sogar gelesen, aber kommentiert nur von uns beiden. Deshalb freut es mich, daß du die Geschichte gelesen, kommentiert und sogar gelobt hast. :wave

  • Ich kann manchmal auch nicht ganz nachvollziehen, weshalb ein Text zwar viele Hits, aber keinen einzigen Kommentar bewirkt...
    Ich persönlich kann es nicht lassen, meine Meinung zu äußern, vor allem, wenn mir eine Geschicht, wie in diesem Fall so gut gefällt.

  • Zitat

    Original von Grizzly
    Ok, dann mach ich mal hier Werbung in eigener Sache: kommt schon Leute, bütte, bütte, und wenn's nur ein Satz ist. Ich tät' mich riesig freuen. :grin


    Ach Bärchen, die sind doch alle grade damit beschäftigt, über das Weltgeschehen zu diskutieren... ;-)


    Kannst ja während der Wartezeit mal in meinen SOS- Fred reinschauen, okay? :wave

  • Puuh, du trägst ziemlich dick auf. Ich habe die Geschichte schlicht nicht verstanden. Sprachlich finde ich sie okay. Aber alles andere ist an mir vorbei geflossen, wie der Main. Der Text wirkt auf mich behäbig und überkonstruirt, ohne irgendeine Emotion beim Leser auszulösen. Schreiben kannst du aber...


    Tschau


    Luc

  • Zitat

    Original von Luc
    Puuh, du trägst ziemlich dick auf. Ich habe die Geschichte schlicht nicht verstanden. Sprachlich finde ich sie okay. Aber alles andere ist an mir vorbei geflossen, wie der Main. Der Text wirkt auf mich behäbig und überkonstruirt, ohne irgendeine Emotion beim Leser auszulösen. Schreiben kannst du aber...


    Tschau


    Luc


    Hallo Luc,


    ja, konstruiert ist er, keine Frage. Mittlerweile ist diese Geschichte Teil einer sich in der Entstehung befindlichen viel größeren Geschichte, wenn auch in abgewandelter und hoffentlich weniger konstruierten Fassung: das Gemälde samt Beschreibung, in meinen Augen unlängst zur Schwachstelle der Geschichte geworden, wird ersetzt.


    Außerdem wollte ich Mitleid mit 'David' erregen, deshalb bin ich angesichts Deiner Kritik eher enttäuscht, zumal Du den Text offensichtlich als gefühlsarm empfindest und meine Intention - zumindest bei Dir - nicht gefruchtet hat. Das Statische des Textes, der Eindruck der willentlichen Konstruktion, ist wohl all meinen Erstfassungen behaftet. Ich hoffe jedenfalls, daß meine neueren Fassungen der Geschichte diesbezüglich fließen wie der Main und den Leser aufwühlen wie ein tosender Gebirgsbach das verschneite Tal.


    Viele Grüße und besten Dank,
    Grizzly

  • Zitat

    Original von Grizzly
    Ok, dann mach ich mal hier Werbung in eigener Sache: kommt schon Leute, bütte, bütte, und wenn's nur ein Satz ist. Ich tät' mich riesig freuen. :grin


    Jo, sorry, hab sie ja jetzt erst - durch Lucs mehr als seltsamen Kommentar. Btw: sterben bestimmte Forentrolle eigentlich nie aus? - erst gefunden, eben gelesen und finde sie, wie alles, was ich von Dir, Grizzly, bisher gelesen habe, unheimlich gut.


    Durch wenig gesetzte Absätze etwas anstrengend zu lesen ... und gewiß gibt es von einem unserer versierteren Kritiker hier den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag...aber mich als Leser hauen Deine Geschichten immer wirklich um, weil sie so gut sind (ohne Schmus!).


    Bitte mehr davon.


    :wave
    Ikarus

  • ups! ich habe deine geschichte erst jetzt entdeckt!


    schon echt krass! gefällt mir aber.


    Zitat

    Danach war der silbrige Schleier musischen Schweigens wieder gefallen, das, obwohl es dem Raum Würde und Erhabenheit verlieh, nicht selten auf das Höhere und Bessere verwies, die längst vergangenen Schreie der Exponate nicht vergessen machen konnte.


    sowas finde ich aber extrem....schwülstig. das versaut mir ein wenig den spaß.


    warum denke ich da an die nachmenschen? ;-)


    bo

  • Die Neufassung deine Textes würde mich sehr interessieren. Für mich stimmte in dieser Fassung, die Wichtung, der einzelnen Textbausteine nicht ganz. Du legst viel Wert auf sprachliche Dichte, willst ganz, ganz genau verstanden werden und lässt Personen und Situationen zu wenig für sich selber sprechen. Ich empfinde es so. Suche dir bei Kritiken heraus, womit du was anfangen kannst. Der Rest kann dir am Fell vorbei gehen. Ich hoffe man verletzt hier niemanden, wenn man nicht gleich bei jedem ordentlichen Text gleich vor Freude an die Decke hüpft. Bogart hat so eine Textpassage heraus gesucht, die trifft, was ich meine. Ein solcher Satz wirkt nun mal behäbig.


    liebe Grüsse


    der Forentroll

  • Zitat

    Original von Luc
    Die Neufassung deine Textes würde mich sehr interessieren. Für mich stimmte in dieser Fassung, die Wichtung, der einzelnen Textbausteine nicht ganz. Du legst viel Wert auf sprachliche Dichte, willst ganz, ganz genau verstanden werden und lässt Personen und Situationen zu wenig für sich selber sprechen. Ich empfinde es so. Suche dir bei Kritiken heraus, womit du was anfangen kannst. Der Rest kann dir am Fell vorbei gehen. Ich hoffe man verletzt hier niemanden, wenn man nicht gleich bei jedem ordentlichen Text gleich vor Freude an die Decke hüpft. Bogart hat so eine Textpassage heraus gesucht, die trifft, was ich meine. Ein solcher Satz wirkt nun mal behäbig.


    liebe Grüsse


    der Forentroll


    Na bitte...geht doch?... :grin


    Warum nicht gleich die sachliche Kritik und eine Aufforderung zu ein bissl mehr Leichtigkeit?!


    Schön, dass Du auch über Dich selbst lachen kannst, Luc :-)

  • Hallo ihr Lieben,


    die Antwort kommt wie immer spät, aber sie kommt, das ist die Hauptsache:


    Danke bogart, daß du sie gelesen hast, und danke, für deinen Kommentar. Ich kann zu meiner Verteidigung sagen, daß ich sie vor 'Ilium' geschrieben habe, aber wäre der Mann in dem Fall nicht eher Alt- als Nachmensch? ;)


    Danke Iris, siehe PN, zu Lucs (ebs. dankenswerten) Beitrag, der neuen Fassung usw. schreibe ich demnächst, wenn ich nicht so müde bin und das Projekt weiter gediehen ist als jetzt.


    Viele Grüße,
    Grizzly

  • Zitat

    Original von Grizzly


    Danke Iris, siehe PN,...


    Viele Grüße,
    Grizzly


    Schon gesehen :-) Danke, Christian.


    Antwort kommt, muß allerdings auch erst andere Schreibschulden begleichen. Bitte ebenfalls um Geduld :-)


    :wave
    Ikarus

  • Ich find's (wie oben kritisiert) nicht schwülstig, sondern ziemlich gut geschrieben! Ich lese sonst eigentlich kaum längere Texte in diversen Autorenecken, sondern lieber ein gutes Buch ;) Aber hier habe ich einmal eine Ausnahme gemacht und das war gar nicht so schlecht. Zurück zur Sprache: Ich mag das, wenn Leute mit Sprache ein wenig spielen und nicht nur das ausdrücken, was ausgedrückt werden muss damit es einen Sinn ergibt. Berichtartiges Runtererzählen kann schließlich beinahe jeder.

  • Zitat

    Original von drommetenrot
    Berichtartiges Runtererzählen kann schließlich beinahe jeder.


    Uh, dem würde ich widersprechen... Ich finds erschreckend, wie wenig Menschen alleine schon das können. Lies dir mal die Aufsätze einer neunten Gymnasialklasse durch und behaupte das anschließend nochmal.

  • Ahja... Zu der Geschichte weiß ich nicht wirklich, was ich sagen sollte. Sie ist... Erschreckend, aber auch irgendwie zeitlos. Du kannst exakt dasselbe Szenario im Zoo, in einem Zirkus oder in Dokumentationen zur Fleischindustrie sehen. Schwache werden begafft, eventuell bis zu einem bestimmten Grad zur Gewissensmilderung bemitleidet, danach schiebt mensch den Gedanken ein, es wären nur niedere Kreaturen und wendet sich ab, um anschließend bei McDonalds essen zu gehen.