El Barbudo
„Bandenchef in Mexiko.“ Sie drückte die Zigarette aus und schob die CD in die Anlage. Und während Chavela Vargas im Hintergrund flüsterte, flehte, bettelte und brüllte, erzählte Datja von ihrem Geliebten.
„Im Grunde ist er sehr introvertiert, musst du wissen. Er lebt in der Sierra Madre Oriental, im Nordosten des Landes. Er ist zwar ruhig, aber gleichzeitig voll Feuer.“ Sie stellte die Flasche Tequila und zwei Schnapsgläser auf den Tisch. „Chavela Vargas ist angeblich auf 45.000 Liter gekommen“, schenkte sie ein. „Drum kriegt man in Mexiko keinen guten Schnaps mehr, hat sie mal behauptet.“
Wir tranken und lauschten den Liedern der alten Mexikanerin. Que no somos iguales dice la gente, - Wir sind nicht gleich, so sagen die Leute, sang sie, und wir werden beide zugrunde gehn.
„Wenn ich mal alt bin“, grinste Datja und ihre Augen flackerten, „dann möchte ich werden wie sie.“
So bist du längst, dachte ich. Nicht nur wegen der Tequilas. „Wie schaut er aus, dein Bandenchef?“
„Dunkle, wache Augen, sehr tiefgründig, mit Lachfalten drumherum.“ Jetzt schlug die Haut um ihre Augen selber Falten. Wie eine Siebzehnjährige schwärmte sie, dabei hatte sie erst vor kurzem ihren Sechziger gefeiert. „Sein Mund ist sinnlich und die Worte, die ihn verlassen, sind klug und gefühlvoll. Das Haar ist schulterlang und dicht.“ Sie leckte sich den Schnaps von den Lippen. „Die Brust ein bisschen behaart und er hat einen kurzen Bart. Verwegen schaut er aus, und er riecht nach Männerschweiß und Abenteuer. Prost!“
Sie kippte den nächsten Tequila hinunter, ohne Zitrone und Salz. Pur.
„Auf den mexikanischen Bandenchef! Salute.“
Chavela Vargas beschwor die Nacht des Unheils und ich beschwor Datja, mir mehr vom Mann ihres Lebens zu erzählen.
„Natürlich ist er ein Kerl voll hoher linker Ideale. Seine einfachen, harten Gesellen hält er an der langen Leine, wacht aber streng darüber, dass seine ethischen Grundsätze nicht verletzt werden. Einmal hat er sogar von einem Einbruch abgelassen, weil der alte Portier noch einmal in die Bank ging. Seine Kumpane achten und bewundern ihn. Er selbst bewundert Emiliano Zapata und Octavio Paz, dessen Gedichte er mit Glut in den Augen rezitiert. In seiner Hütte in den Bergen findest du eine Menge alter ledergebundener Bücher, von Neruda und Icaza. Und neben dem alten Ofen hängt ein junger Rivera. Du weißt schon, der Mann von Frida Kahlo.“
Ganz warm wurde mir, vom Tequila und von ihren Schilderungen.
„Hat er einen Bruder?“ wollte ich wissen.
„Er hat zwölf Brüder. Ein paar davon sind Teil der Bande. Der schönste von ihnen ist Jorge“, lachte sie.
Chavela Vargas heulte und wollte Mondlicht für ihre traurige Nacht. Das ewige Weinen der Hochebene, so sagten sie zu ihr. Zu recht.
„Wovon lebt dein Bandenchef eigentlich?“ Beim Einschenken zitterte ich und verschüttete einen Teil des kostbaren Kaktusschnapses, den Chavela uns übrig gelassen hatte.
Datja nahm mir die Flasche aus der Hand. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und langsam. „Er knöpft Großgrundbesitzern beim Pokern ihre Zuchthengste ab. Er spielt, wie er liebt. Konzentriert und voller Leidenschaft.“ Ich hatte nichts anderes erwartet. „Selbst, wenn er seine Spielschulden abholt, behandeln sie ihn respektvoll. El Barbudo nennen sie ihn. Der Bärtige."
„Und? Hat er Fehler?“, wollte ich wissen. In meine Bewunderung und Freude mischte sich Neid. „Er ist bestimmt ein ekelhafter Macho, oder? Das sind diese linken Weltretter manchmal.“
Sie schüttelte den Kopf und lächelte verklärt. „Er verehrt Frauen und er liebt Kinder. Am Lagerfeuer brät er selbsterlegte Kaninchen, aber er hält beim Knochenabnagen inne, weil eine Sternschnuppe fällt.“
Que no somos iguales dice la gente, sang Chavela nun schon zum dritten Mal. Und dass wir nicht gleich sind, was macht das schon?
Die Flasche war leer. Wir nicht. Datja und ich schliefen auf dem Boden, damit wir nicht aus dem Bett fielen. Auch weil der Bandenchef bestimmt gar kein Bett hatte, sondern heute Nacht am Feuer wachte und den Mond anheulte.
Ein lautes Klopfen weckte uns.
„Das ist er“, flüsterte Datja, noch ziemlich benommen.
„Wer?“ Ich wusste gar nichts mehr. Nur, dass die alte Mexikanerin die ganze Nacht gesungen, gebrüllt, geweint und geflucht hatte.
„Na El Barbudo. Der Bandenchef.“
Mein Kopf dröhnte und mit dem Dröhnen kam die Erinnerung wieder. „Hat er wenigstens seinen Bruder dabei?“
Er brachte frische Semmeln, Nusskipferl und Topfengolatschen. Datja strahlte den großen blonden Mann an. Das mit den Lachfalten war also wirklich wahr.
Fragend und fassungslos schaute ich von einer zum anderen. Vom einen zur anderen.
„Ich bin Christian.“ Er streckte mir seine Hand entgegen, die ich verlegen ergriff.
Dann legte er den Kopf schief, strich über sein glattrasiertes Kinn und drückte schließlich beide Hände an die Brust:
„Tief drinnen in meinem Herzen“, sagte er, und ich bekam weiche Knie, so rau und lebenstrunken klang seine Stimme. „Tief drinnen bin ich mexikanischer Bandenchef.“