Okay, dann traue ich mich an dieser Stelle auch endlich mal:
------------------------------------------------------------------------------------------------
Die Wände sind dünn. Typisch Plattenbau, denke ich und versuche, mich auf den Dialog im Chat zu konzentrieren, während aus der Wohnung neben mir schallendes Gelächter erklingt.
„Beschreib dich doch mal“, tippe ich ein, trinke einen Schluck des mittlerweile kalt gewordenen Kaffees und rauche den letzten Zug meiner Zigarette, die schon fast bis auf den Filter heruntergebrannt ist.
Es ist Freitagabend. Am Wochenende trifft man bekanntlich die meisten Leute online. Leute wie mich, die es vorziehen, zu Hause zu hocken und darauf zu hoffen, ihren Traumpartner im Netz zu finden.
Ich bin sechsundzwanzig. Und ich bin ein Freak. Wenn ich morgens um acht Uhr mein Büro betrete, wünsche ich mir schon den Feierabend herbei. Abends, nachdem ich den ganzen Tag über diverse Rechnungen geprüft, gebucht und abgelegt habe, schalte ich als erstes den Rechner an, bringe ein typisches Single-Gericht in Form von Tütennudeln zum köcheln, setze frischen Kaffee auf und tauche ein, in diese wunderschöne, virtuelle Welt, die sich „Das Kommunikationszeitalter“ schimpft.
„1,68 groß, schlank, blond“, erscheinen die Lettern auf dem Flachbildschirm.
Nebenan beginnen leise, monotone Bässe zu wummern. Frauengelächter, das abebbt, nachdem das Gegacker wie im Hühnerstall losgebrochen war.
Komisch, denke ich. Im Netz sind sie angeblich alle schlank, blond, großbrüstig und auf der Suche nach Abenteuern. Und dann, wenn man endlich ins Detail gehen will, ein Treffen organisieren möchte, dann müssen sie ganz plötzlich dringend weg.
Es gibt zwei Kategorien von Frauen, die im Netz chatten. Unter die erste fallen ganz klar jene, die systematisch versuchen die Männerwelt hinters Licht zu führen. Pubertierende Jugendliche, verheiratete Frauen oder Typen, die am anderen Ufer angesiedelt sind und es erst sehr, sehr spät preisgeben. Kategorie zwei ist auf der Suche. Klar, man redet sich ein, dass es hübsche Frauen sind. Aber wie sehen sie wirklich aus? Haben es gutaussehende Frauen heutzutage nötig, ihre Kontakte im Internet zu knüpfen, weil sie es leid sind ständig und völlig phantasielos in den umliegenden Lokalitäten angebaggert zu werden?
Ich jedenfalls halte es für ein Gerücht, dem ich trotzdem keinen Glauben schenken möchte. Pure Wunschvorstellung. Vielmehr sind es wohl jene Damen, die keinen abbekommen. Kategorie zwei quasselt zudem auch ganz gern. Weil Kategorie zwei das Chatten als Zeitvertreib betrachtet, Zuflucht sucht, weil man sie in keinen Club lässt. Verzweifelte Versuche der Kommunikation. Außerdem ist es einfacher, fremden Menschen im Netz Dialoge vorzusetzen, als sie direkt in der Disko anzusprechen. Die Abfuhr auf dem Bildschirm wird nicht gerade ernst genommen. Eine Abfuhr in einem Club hingegen kann unangenehm sein. Persönlicher Kontakt mit negativen Auswirkungen und eintretender, kurzzeitiger Depression, weil das Ego geschädigt wird.
„Wo kommst du her“, schreibe ich, während nebenan die Vogelgrippe auszubrechen scheint. Die Lachanfälle der Hühner entwickeln sich zu einem euphorischen Kreischen. Wahrscheinlich werden gerade Anekdoten ausgetauscht. Oder Witze über Männer gerissen, was ich eher für wahrscheinlich halte.
Die Wohnung nebenan hatte nicht wirklich lange leergestanden. Drei oder vier Wochen höchstens. Die Möbelpacker habe ich gehört, aber nicht gesehen. Wie denn auch? Immerhin muss man im Netz am Ball bleiben, sich konzentrieren und den Faden nicht abreißen lassen. Manchmal sind es nur Minuten. Minuten, in denen man zu Hause auf seinem Pott sitzt. Minuten, die für den Dialogpartner zu Stunden werden. Kommunikationspausen können sehr unangenehm sein. Die meisten machen sich spätestens nach 120 Sekunden der Totenstille aus dem Staub und suchen sich einen neuen Gesprächspartner weil sie sich auf den Schlips getreten fühlen. Aber wenn die nette Dame sich kurz entschuldigt, dann muss Mann das natürlich verstehen und lange Wartezeiten in Kauf nehmen.
„Stuttgart“, schreibt die schlanke Blonde, die in Wirklichkeit wahrscheinlich erst zwölf ist, oder über fünfzig und hässlich wie die Nacht.
Ich stecke mir eine neue Zigarette an.
Die Internetsucht hat mich vor etwa vier Jahren heimgesucht. In der Zeit, als sich meine Freundin von mir getrennt hat. Eigentlich lief alles prima. Wir waren fast fünf Jahre zusammen, wohnten zusammen und wollten auch irgendwann „Kinder machen“ und alles was dazu gehört-
Ich hatte immer angenommen, dass wir bald vor den Altar treten würden. Doch dann kam die Breitseite.
Sie würde wegziehen, weil sie eine bessere Anstellung gefunden hat und nun richtig Karriere machen kann. Nach München, sagte sie. Vierhundert Kilometer entfernt. Außerdem seien ihre Gefühle für mich nicht mehr die, die sie einmal waren, was ihre berufliche Entscheidung umso leichter gemacht hätte. Es war wie ein Schlag in die Fresse. In einem Moment, wo man glücklich und zufrieden ist, glaubt geborgen zu sein wird das mal so eben nebenbei erzählt, wo im Fernsehen gerade die Stuttgarter gegen – ironischerweise – die Bayer spielen. Tja, haben die Bayern an diesem Abend gleich zweimal gewonnen. Einmal gegen den VFB und zum Zweiten eine neue Einwohnerin.
Die Frauen von heute wollen eben kein Fußball gucken, ihrem Liebsten das Bier bringen und sich an ihn schmiegen. Sie wollen durchstarten, reich werden und ihre Selbstverwirklichung dankend entgegennehmen. Wir Männer sind nur im Weg und müssen halt abgeschossen werden. Wie die Stuttgarter von den Bayern.
Dann ging alles ziemlich schnell. Sie war plötzlich weg und ich allein. Absturz vorprogrammiert. Ich nahm mir eine Woche Urlaub, habe gesoffen wie ein Loch, mir einen Bart stehen lassen und die Körperhygiene mehr als vernachlässigt. Draußen war ich nur um Zigaretten zu holen oder Bier und Schnaps zu kaufen. Gegessen habe ich kaum etwas. Wenn überhaupt nur etwas vom Bringdienst. So hatte ich wenigstens mal die Zeit alle umliegenden Dönerschmieden, Pizzabäcker und „Fliegende Griechen“ auszuprobieren. Und auch mal ein wenig zuzunehmen, wie Mama es sich immer gewünscht hat. „Junge, du hast doch so wenig auf den Rippen. Iss doch mal vernünftig. Siehst ja richtig ungesund aus. Oder soll ich der Saskia mal sagen, dass sie dir mal ordentlich was zubereiten soll?“ Das waren immer die kurzen Auseinandersetzungen mit Mutti, die mir in die Wange zwickend immer nahe legte, mich doch mal wieder in ihrer Küche verköstigen zu lassen.
Doch so konnte es einfach nicht weitergehen. Ich musste neu anfangen, mich unter die Leute mischen und neue Frauen kennen lernen. Pustekuchen. Wenn man im Alter von 26 Jahren eine Diskothek betritt, dann fühlt man sich schlagartig alt. Außerdem wurde mir bewusst, dass meine Beziehung mich verändert hatte. Es war schwer, auf Leute zuzugehen die man nicht kennt. Früher war das einfacher gewesen. Und obendrein entsprach das Angebot auf der Tanzfläche nicht meinem Beuteschema. Ich war auf der Jagd nach Stöckelwild und nicht nach Teenagern, die kreischend zur Black Music ihre spärlich bekleideten Hüften fast unanständig kreisen ließen.
In die Arbeit flüchten und sich dort verkriechen war auch unmöglich. Bei einem Job, der einem keinen Spaß macht, sind Überstunden nicht nur ein Fremdwort, sondern auch ein Tabu.
Und Freunde? Die meisten verheiratet, Nachwuchs produzierend oder schon weggezogen um zu heiraten oder Nachwuchs zu produzieren. Jedenfalls hatten nur wenige von ihnen Zeit. Und noch weniger, als ich anfing sie mit meinen Problemen zuzutexten. Sie verdrehten die Augen, schauten auf die Uhr oder nickten nur stumm ohne wirklich zuzuhören. Am Telefon brachte man am anderen Ende meist nur ein „Aha“ raus und machte so auf mitfühlend, weil man ja so geschockt ist, dass einem förmlich die Worte fehlen.
„Tut mir Leid, aber da fehlen mir gerade echt die Worte man“, waren dann auch schon jene Worte, die das Gespräch in die Richtung der Beendigung brachten.
Im Netz ist das einfacher. Man bildet sich ein, dass die Leute dort genau das interessiert was du ihnen schreibst. Da wird stundenlang geplaudert, über Beziehungsprobleme philosophiert und Hinz und Kunz mit einbezogen in die Gespräche. Einmal hatte ich einen offenen Dialog am Start, bei dem sieben Personen anwesend waren, als ich mit Tränen in den Augen meine Beziehungskiste niederschrieb.
Ich hatte meinen Therapeuten gefunden. Ich wurde ein Junkie. Ein durch die Singlebörsen und Chaträume wandernder Freak, auf der Suche nach Ablenkung und vielleicht auch nach einer neuen Frau.
„Sorry, ich muss los“, schreibt sie jetzt. Standardausrede.
„Bin dir wohl zu langweilig was?“ Ein Zug an der neu angesteckten Zigarette.
„Quatsch. Muss nur los. Treffe mich mit Freunden in einer Cocktailbar. CU.“
Noch ehe ich „Miese Lügnerin“ eintippen kann, schließt sich auch schon das Fenster. Dialog beendet. Blond und schlank offline.
Neben mir in der Wohnung höre ich eine Tür zufallen. Wer da wohl eingezogen ist? Ein Pärchen? Eine Frau oder ein Typ? Ist mir auch egal. Ich suche die nächste Dialogpartnerin in einem Chatraum namens Liebesgeflüster.
Am nächsten Vormittag sitze ich am Küchentisch und trinke Kaffee. Um vier war ich ins Bett gegangen und um elf erst aufgestanden. Die Wohnung riecht muffig, nach kaltem Zigarettenrauch und transpiriertem Körper. In der Zeitung das Übliche. Bombenanschläge im Irak, ein Erdbeben in Schlagmichtot und triviale Artikel über dies und das. Schumacher wieder gewonnen. Wer auch sonst. Arbeitslosenzahlen gestiegen. Ob ich kündigen soll? Dann steht da immerhin einer mehr. Ob die Regierung dann was ändern wird? Nee, lieber weiter brav zur Arbeit gehen und vernünftiges Geld verdienen. Auch wenn der Job scheiße ist.
Ob ich mich gleich vor den Rechner setze? Oder ob ich endlich mal wieder einkaufen gehe? Ich schaue in den Kühlschrank und stelle fest, dass ich nur noch einen Liter Milch und angegammelte Salami habe. Also ab unter die Dusche, anziehen, Schlüssel suchen und auf die Post. Aber vorher schon mal den PC anschalten, ihn hochfahren lassen, damit ich gleich loslegen kann wenn ich wieder zu Hause bin. Ich drücke den Power-Knopf ins Gehäuse und schalte gerade den Bildschirm an, als ich plötzlich ein lautes Scheppern höre.
Ich trete aus der Wohnung auf den kleinen Flur und sehe eine junge Frau am Boden hockend Glasscherben einsammeln.
„Kann ich ihnen irgendwie helfen“, frage ich. Dann blickt sie auf. Für einen Moment halte ich den Atem an. Sieht klasse aus, denke ich mir. Sie hat mandelbraune Augen und ein aristokratisch geschnittenes Gesicht. Tolle Figur, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als ich.
„Ist schon in Ordnung“, sagt sie, doch ich bücke mich schon zu ihr hinunter und sammle die Kiwis ein, die neben den Scherben und dem restlichen Einkauf herumliegen. Alte Schule eben. Ein hervorragendes Produkt meiner Mama.
„Ich hätte wissen müssen, dass diese verdammten Papiertüten nicht halten.“ Sie lächelt und ich lächle zurück.
„Darf ich sie etwas fragen?“ Behutsam lege ich die Kiwis beiseite.
„Sicher“, sagt sie und streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
„Wohnen sie hier? Ich, ähm..., ich meine, ich hab sie hier noch nie gesehen.“
Wieder lächelt sie. Diesmal viel bezaubernder als zuvor.
„Tut mir Leid“, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen. „Ich bin Nicole. Ich bin erst vor drei Tagen hier eingezogen. Gleich nebenan.“ Sie deutet auf die Tür, die gegenüber der meinen liegt.
Aha, die Vogelgrippe-Wohnung.
„Ich heiße Marc. Und ich wohne auch nebenan“, sage ich. Vollidiot! Sie hat doch gesehen, dass du nebenan wohnst. Aus welcher Tür bist du denn gekommen du Trampel?
Dann steht sie auf, kramt in ihrer Jeansjacke nach einem Schlüssel und öffnet ihre Wohnungstür. Die Geste, wie sie mit dem Kopf nickt ist keinesfalls falsch zu deuten.
„Wären sie vielleicht so freundlich Marc?“
„Klar doch.“ Ich sammle Teile des Einkaufs ein und bewege mich in Richtung ihrer Wohnung.
„Das ist wirklich nett von ihnen“, sagt sie und sammelt den Rest ein.
„Wenn sie... Ich meine, wenn sie gerade nichts dringendes vorhaben, dann ääh, würde ich ihnen liebend gern einen Kaffee anbieten. Trinken sie Kaffee Marc?“
„Sehr gern sogar“, sage ich und strahle wie ein Honigkuchenpferd.
„Bin gleich wieder da“, füge ich hinzu. „Ich muss nur kurz rüber und meinen Computer ausschalten. Frisst ne Menge unnötigen Strom“. Als ob mich da je interessiert hat.
Ich flitze rüber, schalte den Computer aus, trage schnell einen kleinen Duft auf und gehe wieder rüber in die Wohnung.
Ich nehme an dem kleinen Küchentisch platz und sehe ihr zu, wie sie die Kaffeelöffel sorgsam häuft.
„Tut mir leid, wenn es gestern Abend etwas laut geworden ist.“ Zwei Schritte nach links, Kaffeetassen aus dem Regal holen, vier Schritte nach rechts zum Kühlschrank, reingucken und die Milch greifen. Knackiger Hintern.
„Kein Problem. Ich war ohnehin lange wach. Und außerdem hat man kaum etwas mitbekommen.“ Du Lügner. Du hast genau gehört, wie der letzte Gast um kurz vor drei gegangen ist.
„Ich habe ein paar Freundinnen eingeladen. Sie wissen schon, Einweihungsparty.“
Ich grinse und bedanke mich ganz höflich, als sie mir die Tasse hinstellt.
„Und Marc, was machen sie so? Ich meine, außer den Frauen dabei zu helfen ihren über den Flur verstreuten Einkauf einzusammeln?“
„Wie wäre es wenn wir erst einmal zum Du übergehen?“ schmunzle ich.
„Okay Marc. Also, was machst du so?“
Sie sieht zauberhaft aus. Sie hat das schönste Lächeln, das ich seit langem gesehen habe. Und sie riecht ziemlich gut. Überhaupt scheint sie eine klasse Frau zu sein.
Ist schon komisch, denke ich. Da sitzt du den ganzen Tag vor dieser komischen Kiste und hältst Ausschau nach einer attraktiven Frau, weil du draußen die Zähne nicht auseinander kriegst und da wohnt sie plötzlich nebenan, und bittet dich auf einen Kaffee rein...