• Ich liege auf dem schmalen langen Tisch, bedeckt von grünen Tüchern, und blicke ins unbarmherzige Licht der OP-Lampe. Nur eine kleine Stelle meines Körpers ist nackt, die haben Sie mit Strichen markiert. Unter den Strichen sitzt die Wut. Breitet sich aus in meinem Leib wie ein Geschwür, das aufs Gemüt drückt und macht mir das Leben manchmal zur Hölle. Schneiden Sie mir die Wut aus dem Bauch, bitte. Ich brauche sie nicht mehr. Ich will sie nicht mehr.
    Ich sehe die Skalpelle blitzen und verbiete mir die Augen zu schließen. Es wird weh tun, sagen Sie. Ja, ich weiß, aber ich will keine Narkose. Ich gestehe mir keine Betäubung zu, ich will den Schmerz fühlen, will bewusst erleben, wie ihr meine Wut abtrennt von den Fasern, die sie mit mir verbinden. Die Wut tut weh. Anderen vor allem. Es ist nur gerecht, wenn ich jetzt leiden muss. Bestrafen und heilen Sie mich, bitte. Und wenn Sie schon dabei sind, wenn ich schon offen vor Ihnen liege, dann schauen Sie, dass Sie auch die Ausläufer des Zorns erwischen. Und den ganzen Mist da drin, der mich belastet, den nehmen Sie ebenfalls raus. Sie müssen genau schauen, am besten mit dem Mikroskop, er hat sich gut versteckt und kriecht hinterlistig hervor, wenn ich nicht damit rechne. Trennen Sie alles Böse von mir. Ich werde es im Garten vergraben und einen Baum darauf pflanzen. Einen, der reichlich Obst trägt. Die Früchte des Zorns.


    Hinterlassen Sie sichtbare Narben. Ich möchte, dass ich für den Rest meines Lebens erinnert werde an den Schmerz. Wer ihn nicht kennt, weiß nicht, wie das Glück sich anfühlt.
    Ach ja, und bevor Sie mich zunähen, füllen Sie die riesigen Leerräume mit Sanftmut. Mit Wärme. Wenn es operationstechnisch irgendwie geht, verbinden Sie die Wärme mit den Nervenenden, die zu meinen Füßen führen. Die sind immer so kalt.

  • Schade, dass deine Gedanken kurz vor der OP nicht länger dauern, davon hätte ich gern noch mehr gelesen, Testsiegerin. Vor allem davon, wie man operationstechnisch die kalten Füße in warme verwandelt, das interessiert mich sehr.


    Lieben Gruß


    polli, mit Wollsocken

  • Beeindruckende Gedanken...


    Sehr schöne Geschichte! Eine sehr bildhafte Weise, sich dem Inneren zu nähern....und der Beweis, dass "Schmerz" durchaus textlich anspruchsvoll verarbeitet werden kann ;-)

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Zitat

    Sehr schöne Geschichte! Eine sehr bildhafte Weise, sich dem Inneren zu nähern....und der Beweis, dass "Schmerz" durchaus textlich anspruchsvoll verarbeitet werden kann.


    Hätt ich jetzt auch ohne Deinenkleinen Seitenhieb kapiert, Churchill ;-)


    testsiegerin : Tolle Geschichte, schöne Bilder. Mehr davon, bitte!

  • Zitat

    Original von testsiegerin
    nur das mit der wärme, das haben sie nicht hingekriegt, diese verdammten scheiß-ärzte. und das macht mich sowas von wütend ! ! ! !


    Oh Mist, ich wollte grade nach der Adresse des Operateurs fragen, aber ich sehe, dass sie ohnehin noch mal nacharbeiten müssen. :lache