Huhu
Jaah ich würd Euch gern mal meine neuste Kurzgeschichte vorstellen.
Entstanden ist sie am Freitag auf'er Arbeit
Bin sehr gespannt was Ihr davon haltet.
liebe Grüße
Marina
Engel
Nein, leg die Klinge wieder weg, tu das nicht.
Du zitterst und bebst am ganzen Körper, heiseres Schluchzen schüttelt dich, hallt von den Wänden des kleinen Badezimmers wider und nimmt dir den Atem. Dir tut vom weinen alles weh, der Kopf, der Hals, die Brust. Doch es ist nichts im Vergleich zu dem Schmerz in deinem Herzen, in deiner Seele. Ich weiß es, kenne alle deine Gefühle, alle deine Gedanken, kann in dich hineinsehen, in dir lesen wie in einem offenen Buch. Das muss auch so sein, wie sollte ich dich sonst beschützen können.
Du kauerst auf dem kalten Fliesenboden vor der Badewanne, hast die Beine an den Körper gezogen, der sich mit jedem neuen Schluchzen schmerzvoll zusammenkrampft und drehst langsam die Klinge zwischen deinen Fingern. Du kannst sie kaum halten, so sehr zittern deine Hände, du hast Angst.
Ich sitze dicht hinter dir, dein Rücken lehnt gegen meinen Oberkörper, aber das merkst du nicht. Ich weiß, dass du federleicht bist, seit Wochen hast du kaum etwas gegessen. Spüren kann ich es nicht.
Vorsichtig schlinge ich meine Arme um dich und ziehe dich an mich, tatsächlich lässt du dich noch ein Stückchen zurücksinken. Ich schließe die Augen und lege mein Gesicht an deine Wange.
Beruhige dich. Es wird alles gut. Leg die Klinge weg.
Du weißt nicht mehr wohin mit deinen Händen, mit deinem Blick, haltlos flackert er die glatten Wände entlang. Nichts woran du dich festklammern könntest, nichts gibt dir mehr Halt. Du kannst nicht aufhören zu weinen, obwohl du schon fast keine Luft mehr bekommst.
Jede einzelne Träne ein stummer Zeuge deiner Verzweiflung.
Langsam streichle ich deine Arme entlang, lege meine Hände auf deine.
Bitte. Tu das nicht. Es macht nichts besser.
Der Schmerz, natürlich, der Schmerz wird aufhören. Die Angst wird vergehen, die Verzweiflung verschwinden. All das wirst du nicht mehr spüren, weil du gar nichts mehr spüren wirst. Gar nichts, verstehst du? Keine Freude, kein Glück, keine Zuneigung, keine Liebe. Kein Wind in deinen Haaren, keine Luft in deiner Lunge, keine Sonne auf deiner Haut. Keine Berührung. Keine Empfindung mehr, nie wieder, nichts als Leere, völlige Leere, bis ans Ende der Zeit. Ich verstehe dich, jetzt in diesem Moment denkst du, es wäre besser, alles wäre besser als dein Schmerz, doch so ist es nicht. Glaube mir. Ich weiß es.
Beruhigend streichle ich dir über die Haare, dein Schluchzen wird langsam leiser. Doch nicht, weil es dir besser geht, du hast schlicht keine Kraft mehr. Fest umschließe ich dich mit meinen Armen, versuche dich zu halten, dich spüren zu lassen, dass jemand hier ist, bei dir ist. Schlaff und zitternd liegt dein dünner Körper in meiner Umarmung.
Erneut betrachtest du die Klinge von allen Seiten, deine Zweifel zerreißen dich, du weißt nicht, ob du sie vor Hass von dir schleudern oder vor Glück an dich pressen sollst. Als der nächste Weinkrampf dich packt, fällt sie dir aus der Hand und landet leise klirrend auf dem glatten Fliesenboden.
Hektisch greifst du wieder nach ihr, das kühle Metall an deinen Fingerspitzen ist das einzige, was dir zumindest noch ansatzweise das Gefühl von Sicherheit vermittelt, von Kontrolle.
Ich kann es jederzeit beenden, sagst du dir.
Nur ein kleiner Schnitt und ich bin frei. Ich bestimme den Zeitpunkt.
Krampfhaft schließt du deine Hand um den schmalen Gegenstand, stößt im nächsten Moment ein leises Keuchen aus. Dunkelrotes Blut tropft aus deiner geschlossenen Faust, bildet einen heftigen Kontrast zu den strahlend weißen Fliesen. Fasziniert beobachtest du die warme Flüssigkeit. Ja, Liebes, noch lebst du.
Ich will nicht.
Selbst deine Gedanken flüstern es nur.
Ich will nicht sterben.
Schhh …
Leise murmle ich dir ins Ohr.
Nein, das willst du nicht. Deine Zeit ist noch nicht gekommen.
Behutsam lege ich meine Hand auf deine Faust, die noch immer die Klinge umklammert hält, und schließe sie um deine zitternden Finger. Führe die Hand von deinem Körper weg, ganz langsam.
Es wird alles wieder gut, du wirst sehen. Nichts wärt ewig, gar nichts. Auch nicht dein Schmerz. Die Schatten werden sich lichten und irgendwann kehrt die Sonne zurück. Dein Leben hält noch so viel Schönes für dich bereit, wirf es nicht weg. Der Tod vermag dir nichts zu geben. Hab keine Angst.
Als ich meine Hand wieder öffne, öffnet sich auch deine und die Klinge fällt leise zu Boden.
Ein winziger Moment, nur wenige Sekunden.
In diesem Moment bin ich eins mit dir.
In diesem Moment fühle ich wieder.
Ich fühle das Brennen an deiner Handfläche, deine Kopfschmerzen vom weinen, fühle die kalten Fliesen der Badewanne an deinem Rücken, den weichen Stoff des Shirts an deiner Haut und schmecke das Salz der Tränen auf deinen Lippen.
Dann ist der Moment vorüber und ich kehre zurück in meine Welt.
Diese Augenblicke sind mein Lohn dafür, dass ich über dein Leben wache. Dass ich dich daran hindere, die Straße zu überqueren, wenn du ein Auto übersiehst. Dass ich dich festhalte, wenn du in deiner Eile mal wieder auf der Treppe stolperst und drohst, zu stürzen. Dass ich dich nachts, wenn du dich leise in den Schlaf weinst, in den Armen halte und dich vor Alpträumen beschütze.
Stumm vergrabe ich mein Gesicht in deinen Haaren und wiege dich sanft hin und her. Du schließt die Augen und langsam versiegen deine Tränen. Bald wirst du eingeschlafen sein.
Es wird alles wieder gut. Ich bin hier. Auch wenn du keine Ahnung davon hast, ich bin immer bei dir und passe auf dich auf. Du bist nicht allein. Auch wenn du nichts davon weißt, ich verdanke dir die wertvollsten Geschenke, die ich mir vorstellen kann.
Ich verdanke dir die Augenblicke, in denen ich wieder lebe.
Ich bin dein Engel und du bist meiner.