• Ich gehe allein durch die dunklen Straßen der Stadt,
    die Straßenbeleuchtung wurde längst abgeschaltet.
    Eine Sparmaßnahme.
    Einige Häuser sind auch jetzt noch beleuchtet, werfen gedämpfte, warme Lichtkegel in die kalte Winternacht hinaus.
    Kleinstadtidylle: Liebevoll dekorierte, weihnachtliche Fenster, in vielen Vorgärten stehen stattliche Tannen,
    mit den üblichen Lichterketten geschmückt, ächzend unter der Last des Neuschnees.
    Während ich weiter gehe, die Hände tief in den Taschen meines Wintermantels vergraben, überlege ich, ob im Innern des Reihenhauses, das ich gerade passiere, in diesem Augenblick wohl eine Frau von ihrem liebenden Gatten halb tot geprügelt, ein Kleinkind zu sexuellen Handlungen gezwungen oder eine Ehe unter hysterischem Geschrei und fliegendem Geschirr für gescheitert deklariert wird.
    Sind die Bewohner dieses Hauses enttäuscht? Einsam? Verzweifelt? Halb verrückt vor Angst?
    Die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens eines dieser Dinge zutrifft, ist schmerzlich groß.
    Dennoch nehmen diese Menschen morgen ihren Platz im Hamsterrad des Lebens wieder ein, machen gute Mienen zum bösen Spiel, betäuben den beinahe unerträglichen inneren Druck, der von unserer Leistungsgesellschaft fabriziert wird, durch Antidepressiva und verkünden allen, wie erfolgreich, gesund, glücklich und erfüllt ihr erbärmliches Leben doch sei.


    Diese Stadt ist eine einzige Fassade.
    Der viel und gern zitierte schöne Schein. Und dahinter?
    Das große Nichts. Nein, schlimmer noch:
    Ein zähnefletschendes, grausames Untier namens Leere, das seine Fänge nach den Menschen ausstreckt, sie innerlich zerfleischt und mit einem Virus infiziert, der sie nach Ablauf der Inkubationszeit zu den menschlichen Bestien macht, die unsere Welt bevölkern.


    HIV? BSE? H5N1?
    Nein, die schlimmsten Seuchen des 21. Jahrhunderts nennen sich unter anderem
    Hoffnungslosigkeit, Angst oder Verzweiflung und brechen sich ihre Bahn in den zahlreichen Gräueltaten, die Tag für Tag den Nachrichten zu entnehmen sind:
    Ein gut situierter Vater löscht zunächst seine Familie samt Schwiegereltern aus, um sich anschließend selbst zu richten.
    Eine 17- Jährige lässt die eigene Mutter von ihrem Liebhaber ermorden.
    Jede Woche ein neues Schulmassaker, Terroranschläge…
    Diese Liste ließe sich endlos fortführen.


    Im Lauf meines Lebens habe ich zahlreiche Möglichkeiten erwogen, diesem Elend zu entkommen:
    Tod durch Öffnen der Pulsadern, Schlaftabletten, Vergiften, Erhängen…
    All diese Strohhalme habe ich nicht ergriffen, ließ sie unberührt vorbeischwimmen.


    Auch die Option, mein Leben als Zug- Selbstmörder zu beenden, gab ich letztlich auf, ich wollte das Dasein eines Zugführers nicht noch unerträglicher machen, indem ich ihm zu Bildern verhelfe, die ihn Zeit seines Lebens verfolgten:
    Literweise Blut, abgetrennte Gliedmaße, zerquetschter Schädel…
    Der eigentliche Grund aber, weshalb ich nicht längst als Futter der Würmer unter der Erde liege, ist die Tatsache, dass ich ein Feigling bin.
    Das ist die volle Wahrheit.
    Würde mir jemand die Gretchenfrage stellen, ich müsste mit den Worten Nietzsches antworten:
    „Gott ist tot!“
    Mein größtes Problem ist, dass ich nicht glaube.
    Weder an eine metaphysische Instanz, noch, als logische Konsequenz daraus, an ein Leben nach dem Tod.
    Deshalb leide ich tagtäglich unsägliche Qualen, denn alles ist besser als das völlige Aus, die ewige Düsternis, der immerwährende Tod.


    Mittlerweile spüre ich meine Glieder kaum noch, die schneidende Kälte hat jede Pore meines Körpers durchdrungen, sitzt mir tief in den Knochen.
    Sollte ich mich jetzt nicht auf den Rückweg machen, laufe ich Gefahr, als menschlicher Eiszapfen zu enden.
    Also trete ich den Heimweg an, versuche,
    alle deprimierenden, quälenden Gedanken in der Nacht zurückzulassen.
    Was mir aber nicht ganz gelingen will, wenn ich an den morgigen Tag denke.
    Montage verabscheue ich zutiefst!


    Doch die Vorfreude darauf, meine Sekretärin morgen unmittelbar nach Betreten des Büros völlig ungerechtfertigt anbrüllen zu können, bis sie sich auf die Toilette zurückzieht, um sich dort unter heftigem Schluchzen die dicken, maskara- schwarzen Tränen vom Gesicht zu waschen, muntert mich einigermaßen auf.
    Vielleicht fällt mir sogar ein triftiger Grund ein,
    Herrn Reinhardt fristlos zu kündigen, denn der hat vor nicht allzu langer Zeit mit seiner Familie das neue Haus bezogen, ist jetzt bis über beide Ohren verschuldet.
    In Gedanken bereits beim morgigen Tag, schließe ich zehn Minuten später die Haustür auf und betrete mit einem breiten Grinsen meine dunkle Wohnung.

    Man muss ins Gelingen verliebt sein,
    nicht ins Scheitern.
    Ernst Bloch

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  • ...bin ich nach diesem absatz schon ausgestiegen:


    Während ich weiter gehe, die Hände tief in den Taschen meines dünnen Sommermantels vergraben, überlege ich, ob im Innern des Reihenhauses, das ich gerade passiere, in diesem Augenblick wohl eine Frau von ihrem liebenden Gatten halb tot geprügelt, ein Kleinkind zu sexuellen Handlungen gezwungen oder eine Ehe unter hysterischem Geschrei und fliegendem Geschirr für gescheitert deklariert wird.


    bo

  • ich habe nach den ganzen wettbewerben eine allergie gegen geschichten über misshandlungen in der ehe, bei kindern, vergewaltigungen und mord etc.


    da steige ich sofort aus, weil ich bei 99% dieser geschichten das gefühl habe, da wird ein großes, dramatisches thema nicht angemessen behandelt, sondern die story ist dann reine effekthascherei.


    kann ja sein, dass ich dir jetzt damit unrecht tue, aber ich will sowas nicht lesen.


    bo

  • Hallo Seestern,


    ich habe bis zum Ende durchgehalten! :-)


    Die Geschichte ist in meinen Augen nicht ganz stimmig....



    Einerseits macht er sich Gedanken um das Seelenheil des Zugfahrers nach einem angedachten Selbstmord seinerseits.


    Andererseits freut er sich darauf, am Montag seine Sekretärin und seine Mitarbeiter zu quälen.


    Was mir formal noch störend erscheint, sind die teilweise zu langen Sätze. Ich steig immer nach dem zweiten Nebensatz aus, das stört den Lesefluß gewaltig.


    Lieben Gruß,


    die Fride. :wave

  • Hallo Friderike,


    hast Du ganz richtig beobachtet, die Geschichte ist absolut nicht stimmig, das ist aber gewollt, denn es korrespondiert mit dem Titel "Kulissen":



    Über die zu langen Sätze muss ich noch nachdenken...


    Dankeschön zunächst für Dein Feed- Back! :wave

    Man muss ins Gelingen verliebt sein,
    nicht ins Scheitern.
    Ernst Bloch

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  • Zitat

    okay, vielleicht komme ich ja mal in einer ruhigen minute weiter! dafür musst du aber auch meine betablocks weitertesten! ist das ein deal?.



    Zitat

    Das lässt sich machen...
    ...auch wenn ich absolut keine Ahnung habe, wovon Du sprichst... ?.



    bo, da Du zu langsam warst, was ich Dir nochmal verzeihe, da Du vermutlich ein männliches Wesen bist, hab ich mich jetzt selbst schlau gemacht und werd das Spiel demnächst mal testen.

    Man muss ins Gelingen verliebt sein,
    nicht ins Scheitern.
    Ernst Bloch

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  • Seestern


    ich bin bei dieser Geschichte auch einige Male 'ausgestiegen'. Ich habe eine gute Weile gebraucht, um herauszufinden, warum sie bei mir nicht funktioniert hat.


    Das Titelwort ist falsch. Es geht nicht um Kulissen, es geht um Fassade.
    Dir geht es um den Bereich des 'Dahinter'. Kulissen sind der Bereich des 'Davor'. Man spielt V O R Kulissen.
    Beim Lesen kamen in meinem Kopf diese beiden Assoziationsfelder durcheinander.
    Und Dir beim Schreiben wahrscheinlich auch.
    Der Monolog, die Überlegungen der Hauptfigur sind tatsächlich nicht stimmig. Er/sie leidet an der Welt und verachtet sie zugleich?
    Er/sie weidet sich am Leid anderer? Kann Leid zufügen und zugleich nicht?
    Was g e n a u ist hier die Fassade und was g e n a u verbirgt sich dahinter?


    Ich bin mir auch nicht sicher, ob Du letztlich nicht zuviele Akteure hast. Du spielst an auf die Schrecken der 'modernen' Welt, verursacht durch eine Vielzahl von Faktoren. Die Hauptfigur agiert aber auch als 'Schrecken', ebenso wie alle Personen, die anonym auftreten. Da rennt eine Menge Personal durch die Gegend. Und sie sind alle fast gleichgeordnet.
    Es fehlen Orientierungspunkte beim Lesen. Die Wertigkeit der Aussagen ist nicht klar.
    Dadurch werden die 'Schrecknisse' aber im Grund vage. Jede und jeder plagt irgendwie irgendwo irgendwen.


    Die Grundaussage ist damit schlielßich nur vermeintlich humanistisch. Elend-gebiert-Elend. Irgendwie.
    Sie appelliert an verschwommene Ideen von Gut-Böse.


    Eine unklare Grundaussage nimmt einem Text Spannung. Das ist hier schade, weil Du nicht unsorgfältig aufbaust, in der ersten Hälfte auch recht geschickt mit Steigerungen arbeitest.


    Unerträgliche Last, unsägliche Qualen: diese Kombinationen kommen einem 'ganz von selbst' und eben deswegen soll man sie nicht benutzen. Abgebraucht.


    Was ich nicht verstanden haben, war, warum die Hauptfigur im Winter einen Sommermantel trägt. Wofür soll das die Fassade sein???

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hallo Magali!
    Herzlichen Dank für Deine ausführliche Kritik!
    Zunächst zum Titel:
    Klar, man spielt VOR den Kulissen, aber interessant ist ja gerade, WAS sich hinter den Kulissen so alles abspielt...Insofern würde ich persönlich keinen großen Bedeutungsunterschied der Wörter Kulisse und Fassade sehen.
    Auch der Vergleich mit den Kulissen einer Westernstadt sollte deutlich machen, dass die Menschen VOR den Kulissen heile Welt spielen, dahinter jedoch nur Leere herrscht.


    Zu den Akteuren:
    Ich habe ja nur einen einzigen...Alle anderen Personen, die angesprochen werden, agieren ja gar nicht. Meine Hauptfigur leidet und fügt Leid zu, GENAU das verbirgt sich hinter der Fassade (und zwar von vielen Menschen)


    Zitat

    Die Grundaussage ist damit schlielßich nur vermeintlich humanistisch. Elend-gebiert-Elend. Irgendwie.
    Sie appelliert an verschwommene Ideen von Gut-Böse.


    Ich wollte keine verschwommene Gut- Böse, Schwarz-Weiß Idee rüberbringen, sondern eher eine etwas nihilistische Weltsicht, wie Du gesagt hast: Elend gebiert Elend. Nach Nietzsche "die ewige Wiederkehr des Gleichen". DAS wollte ich mit der Geschichte ausdrücken...Hat ja nicht ganz geklappt. Ich frage mich jetzt grade nur, wie ich sie hätte schreiben können, um das richtig zum Ausdruck zu bringen...


    Magali, wie gesagt Danke! :wave