Das ist bei mir auch so - insbesondere bei der Frage, was hinter den Abweichungen von der Historie (bzw. dem gesicherten Forschungsstand) steckt. Es kommt bei mir auch immer ein bisschen auf das Gesamtpaket an - wenn die Geschichte insgesamt glaubhaft ist, mir Figuren und Stil gefallen, bin ich auch meist gnädiger. Aber manche Schnitzer kann ich auch ansonsten tollen Büchern nicht verzeihen.
Die Wanderhure von Iny Lorentz
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Susannah : für mich persönlich hätte das Buch so nicht funktioniert, wäre es Marie anders ergangen. Ja, historische Romane sollten natürlich auch auf Fakten basieren, aber meiner Meinung nach ist es vollkommen in Ordnung, wenn sich ein Autor oder Autorin gewisse Freiheiten herausnimmt.
Ich schreibe selbst (hobbymäßig) und ich merke selbst, dass ich mir Sachen hin und wieder passend mache. Es ist ein fiktionaler Roman, von daher gehe ich nicht mit der Erwartung daran, dass alles den Tatsachen entspricht. Egal ob das Buch jetzt im Vergangenheit oder in der Gegenwart spielt.
Wenn ich Fakten, die zu 100% stimmen, haben wollen würde, würde ich Sachbücher lesenAber gut, jeder geht bei Büchern anders ran und hat andere Erwartungen. Solange es kein kompletter riesiger Unfug ist, bin ich eher gnädiger
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Wie gesagt, je nach Buch und Situation finde ich es auch nur mehr oder weniger dramatisch, aber das Klischee mit dem bitterbösen Mittelalter ist mri manchmal ein Dorn im Auge, so dass ich darauf einfach "genervter" reagiere, oder auch bei Hexenverbrennungen im Mittelalter.
Aber wie gesagt, die "Wanderhure" scheiterte bei mir schon deshalb, weil ich Maries "Fall" einfach unglaubhaft fand - ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die präsentierte Geschichte damals irgendwen überzeugt hätte.
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Dir auch vielen Dank für deine Erklärung, Michi! Ich möchte immer gerne ganz genau wissen, was Leute an Büchern begeistert oder abstößt - vielleicht gerade deswegen, weil ich bei mir selbst so schwer voraussagen kann, wie ich auf ein Buch reagiere. Dieses Buch hier hat mir zum Beispiel, worüber ich mich immer noch wundere, ganz gut gefallen, obwohl die historischen Fehler mit Händen greifbar sind. Bei Rebecca Gablé (die sicher ungleich besser recherchiert!) benehme ich mich dafür wie ein Erbsenzähler. - Und manchmal kann man Details im Gespräch ja auch ausräumen oder Fragen beantworten.
Ich habe gestern neugierdehalber bei Amazon die Leseprobe zu "Die Wanderhure" überflogen und glaube - ganz subjektiv - erst mal nicht, daß es etwas für mich ist. Liegt aber rein am Thema. (Okay, und vielleicht am geschnürten "Mieder" Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Ich sag's doch: Erbsenzähler. ;-))
Vielleicht ist es auch so, daß Leser in diesem Genre gewisse Erwartungen (zum Beispiel zum "düsteren Mittelalter") bestätigt sehen möchten? Auch der letzte Roman von Rebecca Gablé (gerade in einer Leserunde gelesen) hatte zum Beispiel ein hohes Maß an Gewalt- und Vergewaltigungsszenen.
(Und wenn ich extrem neugierig sein darf: Michi, was schreibst du denn? Auch Historisches, womöglich Mittelalter? Ich nämlich auch! Ist Off-Topic, ich weiß, also gerne per PM!)
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Zitat
Original von Michi
Wenn ich Fakten, die zu 100% stimmen, haben wollen würde, würde ich Sachbücher lesenAls würden die immer zu 100 % stimmen, von wegen! Sind im Prinzip genauso mit Vorsicht zu genießen, wie Romane, speziell ohne Quellenangaben zu Behauptungen. Außerdem wurde ja bereits der aktuelle Forschungsstand angesprochen, sie können auch schlicht davon überholt worden sein.
Also Vorsicht mit solchen Aussagen und Gedanken!Zum Thema Realismus bei der "Wanderhure". Ich denke, wir können auch getrost davon ausgehen, dass Maries Schicksal nicht gerade das typische war. Ist schon eine Weile her, dass ich das Buch gelesen habe, aber soweit ich mich erinnern kann, steigt sie rasch zur "Edelhure" auf, die sich ihre Freier aussuchen kann und vor allem bleibt sie magischerweise verschont von Schwangerschaften/Abtreibungen oder Krankheiten.
Klar, eine realistische - oder was man dafür hält - Schilderung so eines Lebens würde zweifellos keiner lesen wollen. -
Was mich gestern bei der Leseprobe am meisten irritiert hat: daß Marie, sobald man sie am Vorabend ihrer Hochzeit der Hurerei beschuldigt (noch nicht mal offiziell anklagt, weit und breit ist kein Vertreter der Obrigkeit in Sicht!), aufgrund eines Gesetzes das Haus ihres Vaters verlassen muß. Daß sie den Schutz ihres Vaters aufgeben muß, ermöglicht die Mißhandlung und setzt die weiteren Ereignisse überhaupt erst in Gang. Gab es so ein Gesetz wirklich?
Ansonsten scheint mir der Konflikt - jetzt mal rein von außen betrachtet - kein grundsätzlich mittelalterlicher zu sein. Es ist eben eine Verschwörung, die von langer Hand geplant wurde und bei der alle Zeugen bestochen sind.
Was die "Authentizität" von Romanen angeht: ich habe mich mal eine Weile auf Foren von Mittelalter-Dastellern herumgetrieben, die auf Mittelalterfesten lagern und Vorführungen machen. Da ist die "A"-Frage außerordentlich beliebtes Thema - Es läßt sich eben schwer einschätzen, wie Leser auf Gesehenes und Gelesenes reagieren und wieviel sie für "wahr" nehmen. Wie sich das Ganze unterschwellig auf das Bild auswirkt, das die Zuschauer vom Mittelalter haben. - In unserem Museum tritt zu besonderen Anlässen eine Gruppe sehr guter Bajuwaren-Darsteller an und führt Schwertkampf vor. Die Fechtvorführungen beginnen immer mit der Ansage an die Zuschauer: "So, wir zeigen Ihnen heute mal, wie man im frühen Mittelalter NICHT gekämpft hat."
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Letzten Endes kann man ja nicht zu 100% sicher sein, wie die Geschichte von Marie zur damaligen Zeit wirklich abgelaufen wäre. Es hat nunmal keiner von uns das Mittelalter selbst miterlebt. Ich könnte mir vorstellen, dass es vielleicht tatsächlich so (oder zumindest so ähnlich) abgelaufen wäre - aber vielleicht wäre es auch ganz anders gewesen.
Das Einzige, was mir wirklich ein wenig unrealistisch vorkam, war, wie irre schnell Marie am Ende des Buches rehabilitiert wurde, nachdem die ganze Intrige ans Licht gekommen ist. Das ging mir dann doch ein bisschen zu einfach.Für mich steht bei diesem Buch aber ohnehin nicht der korrekte historische Hintergrund im Mittelpunkt, sondern die Geschichte selbst - und die fand ich wirklich gelungen, wenn auch natürlich stellenweise etwas grausam. (Aber Grisel hat ja schon angemerkt, dass die echten damaligen Umstände eines Hurenlebens sicherlich noch viel unschöner gewesen sind als sie in "Die Wanderhure" beschrieben werden.) Ich habe Marie als sehr sympathische, angenehme Hauptfigur empfunden - einzig ihre übertriebenen Rachegedanken haben mich stellenweise etwas genervt.
Habe auch die nachfolgenden Bücher "Die Kastellanin" und "Das Vermächtnis der Wanderhure" gelesen, weil mir der erste Teil so gut gefallen hat. "Die Tochter der Wanderhure" steht auch noch auf meinem SuB.
Mir hat auch generell der Schreibstil von Iny Lorentz sehr gut gefallen. Werde also mal noch mehr Lorentz-Bücher lesen, sobald ich mal die Zeit dazu finde.
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Zitat
Original von Josefa
Was mich gestern bei der Leseprobe am meisten irritiert hat: daß Marie, sobald man sie am Vorabend ihrer Hochzeit der Hurerei beschuldigt (noch nicht mal offiziell anklagt, weit und breit ist kein Vertreter der Obrigkeit in Sicht!), aufgrund eines Gesetzes das Haus ihres Vaters verlassen muß. Daß sie den Schutz ihres Vaters aufgeben muß, ermöglicht die Mißhandlung und setzt die weiteren Ereignisse überhaupt erst in Gang. Gab es so ein Gesetz wirklich?Als Tochter untersteht Marie ihrem Vater als Herr des Hauses, der übrigens für ihr Betragen verantwortlich ist. Insofern ist das mit dem Gesetz unglaubwürdig. Selbst wenn die Obrigkeit (in diesem Fall der Rat der Stadt) darauf bestanden hätte, dass gegen Marie eine Untersuchung eingeleitet wird und sie daher woanders untergebracht werden muss, wäre das Mädchen ziemlich sicher in einem anderen Haushalt oder z. B. in einem Kloster untergebracht (und dort unter Hausarrest gestellt) worden.
Realistischer wäre wegen dieser Beschuldigung eine Anklage wegen Verleumdung durch den Vater gewesen.
ZitatOriginal von JosefaAnsonsten scheint mir der Konflikt - jetzt mal rein von außen betrachtet - kein grundsätzlich mittelalterlicher zu sein. Es ist eben eine Verschwörung, die von langer Hand geplant wurde und bei der alle Zeugen bestochen sind
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Es ist eine Intrige oder Verschwörung, die auch in der späteren Neuzeit oder in der Gegenwart spielen könnte.
ZitatOriginal von blackrose
Das Einzige, was mir wirklich ein wenig unrealistisch vorkam, war, wie irre schnell Marie am Ende des Buches rehabilitiert wurde, nachdem die ganze Intrige ans Licht gekommen ist. Das ging mir dann doch ein bisschen zu einfach.Mein Eindruck:
"Die Wanderhure" ist das, was ich seinerzeit als Dreigroschenroman kennen gelernt habe. Tugendhaftes Mädchen aus ehrlichen Verhältnissen wird durch böse Intrige aus ihren Umfeld verbannt und ist gezwungen, sich in dubiosen Verhältnissen herumzuschlagen, ehe die Intrigen aufgeklärt werden und sie rehabilitiert und mit Mister Right in ein neues Leben aufbrechen kann, das nicht selten auch einen gesellschaftlichen Aufstieg für sie bedeutet. Der einzige Unterschied zu den alten Groschenroman, damals bewahrte die Heldin selbst im Bordell ihre Tugend, das wurde in "Der Wanderhure" sozusagen ins Gegenteil verkehrt. (Wobei der Umstand, dass Marie von Geschlechtskrankheiten verschont bleibt und tatsächlich so etwas wie eine "Edelwanderhure" wird, ebenfalls in die Richtung deutet.)Übrigens wird sogar im Roman angesprochen, dass Marie selbst, wenn sie das Bürgerrecht zurückerhält, wegen ihrer Vergangenheit trotz ihrer Unschuld für immer eine "Gezeichnete" bleibt. (Eine realistische Auflösung hätte vielleicht ein Eintritt ins Kloster gebracht, für den sozusagen als Entschädigung die Stadt oder auch der Kaiser die Mitgift zahlt.)
Allerdings ist es ein Scheinkonflikt, denn die Lösung bedeutet: Marie wird für ihre Leiden belohnt, sie kriegt letztlich den "Mann ihrer Träume" und steigt mit ihm gesellschaftlich auf, lässt also ihre bürgerliche Herkunft hinter sich.
Eigentlich der typische Dreigroschenromandes ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Aber Dreigroschenromane galten zwar als wertloser Schund, wurden allerdings gerne gelesen, kamen also beim Publikum an.
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Teresa : Kleine inhaltliche Korrektur. Es gibt/gab keine "Dreigroschenromane", sondern einfach nur "Groschenromane" oder "Groschenhefte", ohne numerischen Präfix. Den hast Du Dir gedanklich bei Bertolt Brecht ausgeliehen ("Dreigroschenoper"), aber er galt nie für die entsprechende trivialliterarische Kategorisierung. Diese Hefte haben zwar einen, zwei, drei oder mehrere Groschen gekostet, trugen die Bezeichnung aber ohne Wertangabe.
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Danke Tom für Deinen Hinweis, aber zu der Zeit und in der Umgebung, wo ich aufgewachsen bin, war der Ausdruck "Dreigroschenromane" für die "Groschenromane" der übliche.