'Die Farbe der Revolution' - Seiten 139 - 317

  • Ich habe diesen Teil noch nicht durch, aber ich muss doch schon etwas dazu schreiben, sonst habe ich nachher alles wieder vergessen.


    Auf Seite 160 war ich geschockt: Mitten auf der Seite, ohne grösseren Abstand, steht plötzlich ein Absatz, der sich - vom Einstieg abgesehen - liest wie aus dem Geschichtsbuch abgeschrieben. ("Vor ein paar Monaten erst, im April 1788, hatte das Stadtparlament..." Für mich kam das total überraschend: Bisher wurde Zeitgeschichte anhand von Menschen, Ortsbeschreibungen, Begegnungen, Kleidern etc. beschrieben, und auf einmal Knall auf Fall Hard Facts. Im Prolog wurde nichts davon vorweggenommen. Der zweite Buchteil fängt ebenfalls mit "harmlosen Beschreibungen" an. Und dann das. Habe ich etwas verpasst?? "Die Revolution kommt nun mal plötzlich", oder so ähnlich hat hier jemand es ausgedrückt, aber das war für mich inhaltlich und sprachlich ein extrem grosser Bruch, der formal überhaupt nicht entsprechend gekennzeichnet oder vorbereitet ist.


    Vielleicht habe ich aber auch kleine Zeichen vorher verpasst... das wäre typisch für mich. :wow


    Tja, und mit diesem Eindruck ist auch schon mein Problem mit diesem Teil bzw. dem Buch als Ganzes angesprochen. Das ist allerdings auf keinen Fall allein ein Problem des Buchs - und vielleicht ist es überhaupt kein Problem des Buchs, sondern nur mein eigenes. Ich habe ja schon wiederholt gesagt, dass ich es mit "Geschichte" nicht habe. Deshalb bin ich in historischen Romanen darauf angewiesen, dass das "Geschichtsbuch-Geschehen" gut verpackt ist. Hier in diesem zweiten Teil ist es mir zu wenig verpackt. Ich konzentriere mich auf die Personen: Wenn Daniel in den Krieg zieht, dann lerne ich etwas darüber, welche Vorzeichen dieser Krieg haben mag. Wenn Cécile ihre Kokarde ins Feuer wirft, dann kann ich mir das sehr lebhaft vorstellen und mich in sie hineindenken. Wenn Nicolas stirbt, leide ich mit der Mutter wegen der Armut, in der sie lebt. All das erschafft in mir ebenfalls ein Bild von der Zeit. Allerdings lese ich eher unkonzentriert über die nackten politischen Entwicklungen hinweg; sie berühren mich nicht, ich kann sie mir nicht merken, und dadurch geht mir umgekehrt natürlich einiges am Hintergrund der Figuren verloren. Diese Beschreibungen sind mir zu nackt, sprachlich und inhaltlich zu sehr getrennt von der Geschichte um die vertraut gewordenen Figuren.


    Darum wohl die Frage, was ein historischer Roman eigentlich "ist": Ein Roman, der "nur" die Zeit malt, als Ergänzung zum Geschichtsbuch, das die Fakten beschreibt? Ein Roman, der das Geschichtsbuch zu einem Teil ersetzt? Oder beides? Wenn das erste, dann finde ich, hat dieser Roman zu viel "nackte Geschichte". Wenn das zweite, dann sollte ich einfach aufhören, historische Romane zu lesen... Wenn das dritte, dann hätte ich mir die beiden Aspekte noch stärker miteinander verwoben gewünscht, nicht mal inhaltlich, sondern textlich und sprachlich.




    Ihr habt ihr schon öfter die unterschiedlichen Perspektiven angesprochen, aus denen erzählt wird. Ich mag das gern, denn so bekommt man einen Einblick auf das Geschehen aus unterschiedlicher Sicht, und man taucht tiefer in die einzelnen Figuren ein. An einigen Stellen ist der Übergang jedoch verschwommen; nur da stört es mich dann.


    Beispiel - und dies ist zugleich ein Beispiel für schräge Satzbezüge, von denen ich wirklich erstaunlich viele finde, da wundert mich, dass das beim Lektorieren nicht auffällt:


    S. 293
    "Pierre?" Sophie drehte sich zu ihr. Adrienne wandte ihr abrupt den Rücken zu. Mit fahrigen Bewegungen räumte sie.... Sie bückte sich danach... "Adrienne?"


    Da wusste ich wirklich erst nach dem dritten Lesen, wer "sie" und "ihr" nun jeweils war.



    Ein Punkt noch zum "Lernen über die Zeit": An einigen wenigen Stellen fand ich das etwas bemüht, z.B. auf S. 162, wo Sophie von den Küchenbediensteten etwas über die Puderherstellung erfährt, einschliesslich des entsetzlich nach modernem Chemieunterricht klingenden Wortes "Benzoeharz". Allerdings wird das oft gleich wieder wettgemacht, was hab ich gelacht auf S. 164: "Kaffee, Vanille, Ingwer, Pfeffer, Butter... Wer hatte die Finger im Zucker?" :grin


    Überhaupt, manchmal diese lakonischen Aussagen/Wendungen. In obigem Beispiel humorvoll, in anderen sehr wirkungsvoll schockierend/ergreifend. Klasse.


    Ähnlich die Szene mit dem "Rhizoneros". Mir lief's kalt den Rücken runter bei Henris "Er hatte gelacht?" In diesem einen Satz ist das gesamte Verhältnis von Vater und Sohn drin. Toll.



    So weit dieses... ich lese weiter. :-)

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • MaryRead


    Was ein historischer Roman ist?
    All das, was Du aufführst.
    Es gibt Definitionen, auch literaturwissenschaftliche,
    aber die helfen nicht wirklich.


    Ein historischer Roman ist immer das, was Autor/Autorin daraus macht.
    Grundsatz: alles spielt sich zu einer Zeit ab, die ca. drei Generationen vor der Jetztzeit liegt.


    Man kann den Schwerpunkt auf die Personen legen, auf die Darstellung von historischen Ereignissen, auf das Philosphieren über solche Ereignisse oder sogar Epochen, auf Abenteuer, auf Details des Alltagslebens der Zeit, in der sich die Handlung abspielen soll, was immer.
    Autoin/Autor versucht grundsätzlich zu mischen, bleibt aber, so meine Erfahrung, ab dem ersten Drittel bei einer Version.
    (Was im vorliegenden Fall ein wenig in die Irre führen kann, ist der Prolog. Der ist 'Personenzentriert', es könnte durchaus eine Weichenstellung auf einen Krimi oder eine Sex-and-Crime Geschichte sein)



    Als Leserin kann man nur 'anlesen' und sehen, ob einem die Form der Darstellung gefällt.
    Wenn Du also lieber Personenzentrierte Erzählungen über Geschehnisse der Vergangeheit liest, suchst Du Dir aus dem weiten Feld eben genau die aus.
    Wenn man sich lieber der Vorstellung hingibt, daß man aus einem Roman vergnüglich etwas darüber erfährt, wie es früher war, wählt man ein Buch, daß mehr nach Fakten aussieht.


    Wenn man Mantel-und- Degen möchte, nimmt man abenteuerliche Darstellungen.


    Ganz aufgeben muß man das Genre nicht unbedingt.
    Ist aber legitim ;-)

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Ein historischer Roman ist immer das, was Autor/Autorin daraus macht.


    Hätte ich mir eigentlich denken können, gell? ;-)


    Zitat

    Original von magali
    Wenn man sich lieber der Vorstellung hingibt, daß man aus einem Roman vergnüglich etwas darüber erfährt, wie es früher war, wählt man ein Buch, daß mehr nach Fakten aussieht.


    Dabei ist "wie es früher war" dennoch ein dehnbarer Begriff; in Ines' Pelzhändlerin habe ich z.B. sehr genau vor mir gesehen, wie Frankfurt "früher war" - ohne störende Politik. ;-)


    Aber der Kreuzungspunkt zwischen "vergnüglich" und "Fakten" liegt eben - legitimerweise - für jeden Autor/jede Autorin und jeden Leser/jede Leserin woanders.


    Solas , ich hoffe, dass du irgendwann dazu kommst, "Life mask" zu lesen, mich würde interessieren, wie du die Gewichtung von "vergnüglich" und "Fakten" bei dem Buch beurteilst, inhaltlich wie textlich wie sprachlich. Ich merke nämlich gerade, dass ich bei beiden Büchern wohl ein ähnliches Problem hatte. (Ach so, und magali auch. ;-) )

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  • Zitat

    Original von MaryRead
    Auf Seite 160 war ich geschockt: Mitten auf der Seite, ohne grösseren Abstand, steht plötzlich ein Absatz, der sich - vom Einstieg abgesehen - liest wie aus dem Geschichtsbuch abgeschrieben.


    Bei dieser Anmerkung habe ich das Buch aus dem Regal gezogen, und nachgeschaut, ohne zu begreifen, was du meinen könntest. Dann las ich in deinem nächsten Posting:


    Zitat

    Original von MaryRead
    Dabei ist "wie es früher war" dennoch ein dehnbarer Begriff; in Ines' Pelzhändlerin habe ich z.B. sehr genau vor mir gesehen, wie Frankfurt "früher war" - ohne störende Politik. ;-)


    Aha: "ohne störende Politik". :grin


    Ich habe mir ja schon häufig anhören dürfen, daß Leserinnen (Männer zählen als Belletristikleser nicht) um Himmels willen nichts von "entscheidenden Schlachten" und "politischen Schachzügen" wissen wollen, sondern es müsse Fleisch an ein historisches Gerüst, bedeutet: Wir zimmern eine Liebesgeschichte mit wilden Verwicklungen vor historisch(anmutend)e Kulissen und lassen unsere Figuren dem einen oder anderen historischen Prominenten begegnen -- aber alles auf dem Niveau der Boulevardpresse, bitte.
    Daß das von dir bestätigt wird, macht mich jetzt doch staunen. :knuddel1


    Immerhin geht es bei historischen Themen um Dinge, die tatsächlich geschehen sind bzw. mit hoher Wahrscheinlichkeit so hätten geschehen können. Es geht auch um Motivationen hinter tatsächlichen Ereignissen. Aber dazu braucht man eigentlich den Rückbezug zu historischen Ereignissen, zur "störenden Politik".


    Im beschriebenen Fall (S. 160) sind die Informationen erzählerisch eingebettet in Sophies Überlegungen und Beobachtungen anläßlich einer Demonstration, die sie gemeinsam mit Adrienne besucht. Das ist kein Exkurs; Solas bindet den Verweis auf die historischen Zusammenhänge ein in die Schilderung der Demonstration, die ohne eine der Erklärungen des Stadtparlaments (nämlich die bzgl. der Ungesetzlichkeit von Geheimhaftbefehlen, also von politischer Verfolgung) unmöglich gewesen wäre und charakterisiert im Folgenden Sophies Umfeld aus ihrer Sicht anhand deren Reaktionen auf die Entwicklungen.


    Ich habe den Eindruck, daß es einzig und allein der Verweis auf ein reales Ereignis war, der dich gestört hat, weil es nach "störender Politik" klingt. Dabei hatte damals wie immer in der menschlichen Geschichte eine politische Entscheidung direkten Einfluß auf das Leben der Menschen -- um so mehr in Zeiten wie denen der Frz. Revolution, wo nahezu ganz Paris atemlos jede politische Entscheidung verfolgte. Wer das wegläßt, weil "die Leserinnen" das stört, der verfälscht das Bild dieser Zeit. ;-)

  • Iris - was "die Leserinnen" wollen, weiss ich nicht. Ich bin bloss eine einzige, und ich erhebe mit meinem Kommentar keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.


    Bei der Stelle auf Seite 160 stört mich zweierlei, und die beiden Aspekte verstärken sich für mich gegenseitig:


    - dass der Schwenk zur Politik im Buch meines Wissens nicht vorbereitet wurde (angefangen beim Prolog, aber auch im ganzen ersten Teil: ganz im Gegenteil, ich hatte gerade vorher "Life mask" von Emma Donoghue gelesen, in dem sich sehr viele Bezüge zur aktuellen Tagesgeschichte der Zeit finden, und mir war aufgefallen, dass ich das in diesem Buch nicht fand).


    - dass Sophie ihre Überlegungen nicht in solchen nominalstilverkrustet-schriftsprachlichen Worten anstellen würde: "... nicht ausreiche, Gesetze zu verabschieden, um dann im Mai auf der Einberufung der Generalstände als Voraussetzung für jedwede Form weiterer Besteuerung zu beharren und weiterhin zu erklären, dass Geheimhaftbefehle und andere willkürliche Formen des Arrests ungesetzlich seien". Das klingt aufgesetzt, wie abgeschrieben von einem Pamphlet.


    Gut gelungen finde ich die Kombination zwischen realen Ereignissen und fiktiver Erzählung beispielsweise auf S. 249. Da bin ich mittendrin, weil mir das Geschehen auf dem Champs-de-Mars so dargestellt wird, wie Daniel es erlebt und wie er es in seiner Sprache fassen würde. Ich lese eine spannende Erzählung und erfahre gleichzeitig etwas darüber, was an jenem 17. Juli in Paris passierte.

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  • Zitat

    Original von MaryRead
    Iris - was "die Leserinnen" wollen, weiss ich nicht. Ich bin bloss eine einzige, und ich erhebe mit meinem Kommentar keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.


    Das habe ich auch nicht behauptet, ich habe nur erstaunt festgestellt, daß deine Anmerkung über die "störende Politik" sich exakt mit lektoralen Wunschvorstellungen, die damit, was man "den Leserinnen" zumuten dürfe und was auf keinen Fall, begründet werden, deckte. ;-)


    Zitat

    - dass der Schwenk zur Politik im Buch meines Wissens nicht vorbereitet wurde (angefangen beim Prolog, aber auch im ganzen ersten Teil: ganz im Gegenteil, ich hatte gerade vorher "Life mask" von Emma Donoghue gelesen, in dem sich sehr viele Bezüge zur aktuellen Tagesgeschichte der Zeit finden, und mir war aufgefallen, dass ich das in diesem Buch nicht fand).


    Dazu kann ich nur sagen: Mir ging es definitiv anders. :-)
    Der "Ruck" erschien mir vollkommen schlüssig, weil diese Veränderung auch erst in Paris und auch da erst durch die entstehenden Freundschaften mit Pierre, Daniel und Adrienne über Sophie hereinbrechen. Vorher ist sie ein Landkind.
    Von daher erscheint es mir (!) vollkommen schlüssig, daß die Überlegungen auch nach Verlautbarungen klingen. Sophie ist zwar Landkind, aber überdurchschnittlich gebildet; schließlich dient sie Cécile de Montford als Gesellschafterin. Dennoch ist ihr erster Umgang mit der neuen Situation unreflektiert. Sie nimmt die Nachrichten auf und konstatiert dann die Reaktionen ihrer Umwelt:
    Pierre und Daniel sprachen von kaum etwas anderem. Auf Henri de Montforts Stirn verursachte die Nachricht tiefe Furchen, Jean-Marie ließ sie schmunzeln. Dass man eine neue Robe brauchen würde für die zu erwartenden Festivitäten, hatte er ihr zugeflüstert. Die Generalstände, hatte Jules wiederholt, und sein Gesicht hatte trotz Céciles eisigem Schweigen vor Erwartung geglüht.


    Zitat

    Gut gelungen finde ich die Kombination zwischen realen Ereignissen und fiktiver Erzählung beispielsweise auf S. 249. Da bin ich mittendrin, weil mir das Geschehen auf dem Champs-de-Mars so dargestellt wird, wie Daniel es erlebt und wie er es in seiner Sprache fassen würde.


    Ausgerechnet das war eine Stelle, an der ich über den gelegentlich inflationären Gebrauch der Auslassungszeichen den Kopf geschüttelt habe. Die hätte ich als Lektorin alle markiert und dringend um starke Reduktion gebeten, da inflationärer Gebrauch ein Stilmittel abnutzt, speziell wenn die Wiederholungen so dicht folgen. So verschieden sind Lesevorlieben.

  • Och Menno, jetzt hab ich einen so schönen Kommentar geschrieben und die Eule streikt... :fetch Ob ich das nochmal hinkriege?


    So verschieden sind Lesevorlieben, damit, liebe Iris, hast Du absolut Recht.


    Mir geht es so, dass mich dieses Buch so manches Mal seufzen lässt, da meine geschichtlichen Wissenslücken dermaßen groß sind, obwohl ich doch damals Geschichte als Leistungskurs belegt hab. Hin und wieder lese ich einen Begriff, der mir bekannt vorkommt, "Sansculotten" z.B., aber auch so mancher französischer Begriff erschließt sich mir erst nach Griff zum Wörterbuch.


    Für mich war dieser Teil ein wenig holprig zu lesen, was aber nur daran lag, dass die politischen Geschehnisse im Vordergrund standen, die ich allerdings, s.o., nicht mehr präsent hatte und die meiner Ansicht nach im Buch mit Fachbegriffen und mit Sprüngen in der Berichterstattung auch nicht so einfach zugänglich sind.


    Wenn die Rede davon ist, dass sich die Generalstände versammeln oder xy passiert, dann blende ich es aus und konzentriere mich auf die Hauptpersonen.


    Durch so manche Schilderung, die die Stimmung im revolutionierenden Frankreich wiedergibt, bin ich jedoch in der Geschichte drin.


    Liebe Solas, meiner Meinung nach hast Du mit diesem Buch ein Buch mit Anspruch geschrieben, was jeder anspruchsvoller Leser auch zu schätzen weiß. Aber über reine Unterhaltung und "herunterlesen" geht es in meinen Augen hinaus. Aber wozu hat Gott uns ein Gehirn mitgegeben?

  • Zitat

    Original von geli73
    Wenn die Rede davon ist, dass sich die Generalstände versammeln oder xy passiert, dann blende ich es aus und konzentriere mich auf die Hauptpersonen.


    Durch so manche Schilderung, die die Stimmung im revolutionierenden Frankreich wiedergibt, bin ich jedoch in der Geschichte drin.



    Danke, @geli - du hast viel kürzer genau das ausgedrückt, was ich die ganze Zeit sagen wollte. ;-)


    Solas - ein Begriff, den ich nun doch erklärt brauche, ist "ci-devant". Was bedeutet das?

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  • @ MR: Danke :knuddel1 "Ci-devant" hab ich als "vormals" benannt, da es den Adelstand nicht mehr gab. Vielleicht hatten sie die Auflage, es dennoch zu sagen, dass sie ein "de" sind?


    Etwas überzogen fand ich die Anrede "Bürger"

  • Das mit dem Hirn hast du gut gesagt, Geli. Meine Aufmerksamkeit geht wandern, wenn ein Buch die Zahnrädchen in meinem Schädel nicht andreht, und schon bleibt es irgendwo liegen und gerät in Vergessenheit. Bücher, die mich nicht gedanklich beschäftigen, verliere ich geradezu unbemerkt aus den Augen, und wenn ich mich verpflichtet habe, sie zu lesen (z.B. weil es ein Leseexemplar ist oder weil ich bei einem Megaseller begreifen will, was die mutmaßliche Faszination ausmacht), dann artet das in wirklich harte Arbeit aus, zu der ich mich zwingen muß.
    Ich denke nun mal gerne, fürs Abschalten gibt 's den Schlaf. :grin


    Ci-devant heißt tatsächlich so etwas wie "ehemals", "vormals"; für Aristokraten war das seit der Jakobinerherrschaft ein verpflichtender Namenszusatz, wenn sie auf dem de ("von") bestanden (Jules-... ci-devant de Montfort), oder sie ließen einfach das de weg (Jules Montfort).
    Citoyen ("Bürger") war die "bürgerliche" Anrede statt monsieur/madame, die ursprünglich Adelsanreden waren und sich erst im 19. Jh. auch im Bürgertum endgültig durchsetzten (ebenso wie im Deutschen "Herr" und "Frau").
    Insofern verwendet Solas die Begriffe völlig korrekt; sie sind essenzieller Bestandteil des Zeit- und Lokalkolorits, weil sie das Selbstverständnis des damals mächtig werdenden Bürgertums zeigen.


    Etwas irritierend finde ich, daß diese Begriffe nicht durchgängig im frz. Original oder in der dt. Übersetzung verwendet wurden; also einerseits "Bürger", andererseits ci-devant. Mir hätte es nichts ausgemacht, alles auf Frz. mitzulesen, aber andere hemmt das beim Lesen.


    Ein Glossar wäre wirklich wichtig. Ich fürchte allerdings, daß für die TB-Ausgabe kein neuer Satzspiegel erstellt wird ...

  • So, ich bin auch wieder da. :wave Ich hoffe, ich drücke mich im folgenden halbwegs klar aus, ansonsten: einfach fragen.


    MaryRead

    Zitat

    Auf Seite 160 war ich geschockt: Mitten auf der Seite, ohne grösseren Abstand, steht plötzlich ein Absatz, der sich - vom Einstieg abgesehen - liest wie aus dem Geschichtsbuch abgeschrieben. ("Vor ein paar Monaten erst, im April 1788, hatte das Stadtparlament..."


    Aus einem Geschichtsbuch abgeschrieben habe ich das nicht. :grin Hintergrund dieser Szene ist, dass ich mir vorgestellt habe, wie Sophie nach Paris kommt, Pierre wieder trifft, Daniel kennen lernt und beginnt (wie auch Jules), Pamphlete zu lesen. Da dies alles neu für sie ist, erschien es mir einleuchtend, dass sie genau die Sprache der Pamphlete auch benutzten würde (bzw. das die in ihrem Kopf ist). Sie ist noch auf der Suche nach ihrem Platz in der ganzen Sache. Ihre eigene Meinung ist ungeformt. Die Situation ist ja für alle neu und auch deshalb nicht immer verwoben mit dem eigenen Erleben. Für mich stellte sich in diesem Zusammenhang einfach die Frage, wie haben die „einfachen“ Menschen damals Zugang zu solchen Ereignissen erhalten? Wenn man zeitgenössische Berichte liest, scheint es da durchaus Schwierigkeiten gegeben zu haben. Wenn man die Leute in Zentralfrankreich aufgefordert hat, Paris zu verteidigen, oder die Freiheit zu verteidigen, haben die sich gefragt: was soll das denn? Was ist Paris? Was ist bitte Frankreich? Wieso soll ich kämpfen, wenn ich nicht direkt bedroht bin? Auch deshalb sind die Beschreibungen sprachlich und inhaltlich getrennt, weil es Ereignisse sind, denen auch eine gewisse Distanz innewohnt.


    Zu den Satzbezügen kann ich jetzt nichts sagen, mir bereiten sie keine Schwierigkeiten. Ich habe allerdings vor, da etwas aufmerksamer zu sein. Auch bei meinen anderen Darlings, den Auslassungszeichen. :lache There’s definitely room for improvememt. Ebenso beim Einbau von (geschichtlichen) Infos. Da bin ich durchaus nicht immer zufrieden, besonders bei der Sache, die nach Chemieunterricht klingt.


    Ja, ich bin mal gespannt auf Life Mask. Bei Slammerkin fand ich die Darstellung der Hauptperson einfach beeindruckend. Dieses „Kind“, das man hasst und in den Arm nehmen möchte und das so hartnäckig in sein Unglück geht. So schien es mir.


    Der Prolog. Ist er irreführend? Vielleicht. Erstens habe ich ihn geschrieben, weil ich - äh - mal ein Totschläger sein wollte, der neben einer Leiche sitzt. Zweitens, weil ich schreiben wollte, was nach dem Beginn einer glücklichen Beziehung, mit der viele Romane enden, passieren kann (aber nicht muss). :lache Drittens steht es auch für die gesellschaftliche Stellung der Personen, ihre Wichtigkeit in dem Ganzen. Es geht um die Verantwortung, die der „Mörder“ fühlt oder eben nicht. Fühlt er sich durch sein Gewissen bedrückt? Eher nicht, denn "die da" ist letztendlich doch austauschbar.


    Zitat

    Dabei hatte damals wie immer in der menschlichen Geschichte eine politische Entscheidung direkten Einfluß auf das Leben der Menschen -- um so mehr in Zeiten wie denen der Frz. Revolution, wo nahezu ganz Paris atemlos jede politische Entscheidung verfolgte.


    Genau, das ist es. Die Politik ist in diesem Teil allumfassend, sie lässt den Menschen wenig Raum. Im dritten Teil spielt das Private eine größere Rolle, weil es zum Zufluchtsort wird. Teil 2 ist der Teil, in dem „die Öffentlichkeit“ herrscht.


    Zitat


    mich interessiert an dieser Stelle sehr, ob du eine gewisse Leserschaft beim Schreiben vor Augen hattest. Hast du für eine bestimmte Zielgruppe geschrieben? Für welche?


    Wahrscheinlich mich. :grin



    Zitat

    Etwas überzogen fand ich die Anrede "Bürger"


    Stimmt. Ich habe die Anrede teilweise sogar wieder gestrichen. Wichtig ist es aber, weil es darüber Gesetze gab. Man hatte sich mit Bürger anzusprechen und man hatte sich zu duzen. Das fand ich mal wirklich überzogen, aber so war es und dafür habe ich es echt zurückhaltend verwendet, oder?


    Zitat

    Etwas irritierend finde ich, daß diese Begriffe nicht durchgängig im frz. Original oder in der dt. Übersetzung verwendet wurden; also einerseits "Bürger", andererseits ci-devant. Mir hätte es nichts ausgemacht, alles auf Frz. mitzulesen, aber andere hemmt das beim Lesen.


    Das liegt einfach daran, dass mir ci-devant geläufiger ist als citoyen, alltagssprachlich betrachtet.


    Liebe Grüße


    Solas

  • Solas
    Danke für die ausführliche Erklärung - ja, das ergibt alles eine ganze Menge Sinn. :-)
    Und ich freu mich dann also auf den dritten Teil. :grin


    (Satzbezüge: Lies mal den ersten Satz auf S. 288. ;-) Natürlich ist klar, was gemeint ist, denn beim Namen "Cassagnac" weiss man, dass "sie" Cécile sein muss. Allerdings beginnt hier ein neuer Abschnitt, sodass man beim Lesen erst wieder zu den beiden hinfinden muss, und da kann es schon irritieren, wenn die Bezüge nicht auf Anhieb durchsichtig sind. Naja, mich jedenfalls, denn bei mir läuft ja auch immer ein Korrektoratsprogramm im Kopf mit. ;-) )

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  • Zitat

    Original von Solas
    Hintergrund dieser Szene ist, dass ich mir vorgestellt habe, wie Sophie nach Paris kommt, Pierre wieder trifft, Daniel kennen lernt und beginnt (wie auch Jules), Pamphlete zu lesen. Da dies alles neu für sie ist, erschien es mir einleuchtend, dass sie genau die Sprache der Pamphlete auch benutzten würde (bzw. das die in ihrem Kopf ist). Sie ist noch auf der Suche nach ihrem Platz in der ganzen Sache. Ihre eigene Meinung ist ungeformt. Die Situation ist ja für alle neu und auch deshalb nicht immer verwoben mit dem eigenen Erleben.


    Und genauso ist es bei mir angekommen! :knuddel1


    Wenigstens bei einer Leserin hat es funktioniert. :lache


    Zitat

    Auch bei meinen anderen Darlings, den Auslassungszeichen. :lache There’s definitely room for improvememt.


    Dieses Problem hatte ich auch mal. Die Therapie: Markieren und Grenzen setzen, d.h. immer fragen: Brauche ich das wirklich hier? :grin


    Zitat

    Der Prolog. Ist er irreführend? Vielleicht. Erstens habe ich ihn geschrieben, weil ich - äh - mal ein Totschläger sein wollte, der neben einer Leiche sitzt. Zweitens, weil ich schreiben wollte, was nach dem Beginn einer glücklichen Beziehung, mit der viele Romane enden, passieren kann (aber nicht muss). :lache Drittens steht es auch für die gesellschaftliche Stellung der Personen, ihre Wichtigkeit in dem Ganzen. Es geht um die Verantwortung, die der „Mörder“ fühlt oder eben nicht. Fühlt er sich durch sein Gewissen bedrückt? Eher nicht, denn "die da" ist letztendlich doch austauschbar.



    Zitat

    Genau, das ist es. Die Politik ist in diesem Teil allumfassend, sie lässt den Menschen wenig Raum. Im dritten Teil spielt das Private eine größere Rolle, weil es zum Zufluchtsort wird. Teil 2 ist der Teil, in dem „die Öffentlichkeit“ herrscht.


    Klar, das erste war die Ruhe vor dem Sturm, das zweite die spannende Phase, bevor das Ganze in den Terror kippte ... Und der Terror zwang zur "Inneren Emigration", wenn man nicht flüchten konnte. Etwa 14.000 Menschen wurden innerhalb von ca. 15 Monaten guillotiniert! Eine optimistische Deutung dieser Zeit dürfte kaum möglich sein.


    Zitat

    Wichtig ist es aber, weil es darüber Gesetze gab. Man hatte sich mit Bürger anzusprechen und man hatte sich zu duzen. Das fand ich mal wirklich überzogen, aber so war es und dafür habe ich es echt zurückhaltend verwendet, oder?


    Das war total grotesk! Schon eine Generation später legte das Bürgertum ungeheuren Wert darauf, daß man sich auch innerhalb der Familie vouste, nur Diener und Underdogs wurden geduzt. Das hat erst während der letzten beiden Generationen weitgehend aufgehört ...

  • So, wieder da ....


    MaryRead

    Zitat

    Danke für die ausführliche Erklärung - ja, das ergibt alles eine ganze Menge Sinn.
    Und ich freu mich dann also auf den dritten Teil.


    Sehr schön. :-)


    Zitat

    (Satzbezüge: Lies mal den ersten Satz auf S. 288. Natürlich ist klar, was gemeint ist, denn beim Namen "Cassagnac" weiss man, dass "sie" Cécile sein muss. Allerdings beginnt hier ein neuer Abschnitt, sodass man beim Lesen erst wieder zu den beiden hinfinden muss, und da kann es schon irritieren, wenn die Bezüge nicht auf Anhieb durchsichtig sind. Naja, mich jedenfalls, denn bei mir läuft ja auch immer ein Korrektoratsprogramm im Kopf mit.)


    Ja, das ist wirklich schwierig. Hier beginnt ein völlig neuer Abschnitt, aber das wird nicht kenntlich gemacht. Im ersten Moment kann man da nur auf dem Schlauch stehen. Klarere Bezüge würden da helfen, unabhängig davon, dass mir beim Schreiben nicht klar war, wie das mal gedruckt aussieht und ebenso unabhängig davon, dass direktere Bezüge generell hilfreich wären - wenn es nicht gerade geheimnisvoll sein soll.



    Zitat

    wer die Figuren im Prolog sind? na gut, dann bin ich wohl wirklich eine Banausin


    Nee, MaryRead biste nicht! Außerdem machen du und Fortuna :wave mir damit eine Freude. Ist doch schön, wenn es wirklich was zum Rätseln gibt. Wenn du das selbst geschrieben und sämtliche Fährten gelegt hast, bildest du dir nämlich ein, es sei so offensichtlich wie acht Meter hohe Buchstaben.



    Iris

    Zitat

    Dieses Problem hatte ich auch mal. Die Therapie: Markieren und Grenzen setzen, d.h. immer fragen: Brauche ich das wirklich hier?


    Oh ja! Und merken, dass man es wieder tut (sonst nutzt auch das Markieren nichts).


    Zum Mörder: Meine Mutter hatte lustigerweise auf denjenigen getippt, den sie nicht leiden konnte. Ich dachte, ich hätte die Spur zu offensiv gelegt.


    Zitat

    Und der Terror zwang zur "Inneren Emigration", wenn man nicht flüchten konnte. Etwa 14.000 Menschen wurden innerhalb von ca. 15 Monaten guillotiniert! Eine optimistische Deutung dieser Zeit dürfte kaum möglich sein.


    Das fällt auf jeden Fall schwer, seufz! Guillotinieren scheint da teilweise noch „harmlos“, verglichen mit dem, was sie in Lyon gemacht haben (mit Kanonen, geht schneller), oder in Nantes (Boote voller gefesselter Gefangener auf den Fluss rausgerudert und Löcher rein). Die Gegenrevolutionäre waren auch nicht ganz zimperlich. Den Spruch „Wer hier um einen Gefangenen bittet, nimmt seine Stelle ein“, habe ich bei Philippe Lebas geklaut.


    Zitat

    Das war total grotesk! Schon eine Generation später legte das Bürgertum ungeheuren Wert darauf, daß man sich auch innerhalb der Familie vouste, nur Diener und Underdogs wurden geduzt. Das hat erst während der letzten beiden Generationen weitgehend aufgehört ...


    Du und Sie scheint mir heute in Frankreich noch einen ganz anderen Stellenwert zu haben. Beim Praktikum haben wir uns sofort mit Vornamen angesprochen, aber immer gesiezt (auch heute noch, nach gemeinsamen Abenden und Küßchen-Verabschiedung). Das Ehepaar Chirac siezt sich auch.


    Liebe Grüße


    Solas :wave