III.
«In der schwarzen Nacht der Seele ist
es immer drei Uhr morgens.»
- Francis Scott Fitzgerald, Briefwechsel
Zuviele Zigaretten. Deutlich. Und ehrlich gesagt mache ich mir auch ein wenig Sorgen. Bei dem Rückruf aus den Staaten habe ich mir dann eine Flasche Wein aus der Küche geholt. Zwar nicht das Ende der Sorgen, aber ein nettes Blur das sich darüber legt. Dass meine Großmutter am 26. beigesetzt wird, hat man mir mitgeteilt, und ich habe einen Schokoriegel gegessen. Die Kokossplitter füllten meinen Mund aus wie Holzsplitter und klebten sich an Zunge und Gaumen. Ich öffnete ein Fenster und atmete den unreinen Winter der Großstadt, der immer auch ein wenig nach nassem Grab riecht. Der Assoziationen weckt mit spärlich verteilten Grashalmen, die in der Kälte unter den Schuhen brechen. Mit dem unangenehmen Gefühl der eigenen Haut in überheizten Warteräumen, in denen Menschen trocken transpirieren. Ich habe aus dem Fenster geschaut, mir eine Zigarette angezündet und mich nach vorn geneigt. Das Köpfchen gereckt, den Blick die tote Straße hinauf, die tote Straße hinab. Ab und zu: ein Auto, dessen Scheinwerfer stur mit den Laternen konkurrieren. Ich musste unweigerlich an einen Song von Trent Reznor denken.
Staring at the sea
Will she come?
Is there hope for me
After all is said and done
Anything at any price
All of this for you
All the spoils of a wasted life
All of this for you
All the world has closed her eyes
Tried faith all worn and thin
For all we could have done
And all that could have been
Zu Beginn des Sommers habe ich eines Tages bis zum Morgengrauen aus diesem Fenster geschaut und auf Fräulein C. gewartet. Gegen ein Uhr hatte ich mich zum ersten Mal auf das Fensterbrett gesetzt und eine halbe Schachtel Zigaretten später war es dann um zwei und ich begann mein Bild in der Scheibe des aufgeklappten linken Flügels zu betrachten. Wo blieb sie? Ich empfand tiefes Mitleid mit dem, was ich sah, und es fühlte sich wie ein Eineswerden mit dem Universum an. Ich inhalierte Teer, Nikotin und Benzaldehyd; ich atmete Feinstaub und Kohlenmonoxyd. Gegen drei verlor ich fast die Hoffnung, dass sie noch Nachhause kommen würde, und als sie um vier kam, ließ ich alle Hoffnung fahren. Sie hatte wirklich mit dem Wichser gefickt! Zum neunzehnten Mal in unserer Beziehung hatte sie mich betrogen. Sie ging ohne ein Wort zu sagen unter die Dusche; ich ging ins Bett. Als sie zu mir kam und ich mich wie ein beleidigtes Kind zur Seite drehte, nahm sie mich von hinten in den Arm. Ich sagte immer noch nichts, versuchte aber zu lächeln, weil ich wußte, dass sie es nicht sehen konnte. Es gelang mir nicht. Einen Monat später hat sie mich dann verlassen, sechs Jahre zuspät.
Sie hatte mir immer vorgeworfen, dass ich nicht wüßte, was ich will, dabei hatte sie es nur nicht begriffen: Ich will alles! Ihr Vorstellungsvermögen über den Begriff «alles» war recht begrenzt. Mit der Zeit unserer Beziehung hatte sich zwar ihr Horizont erweitert, ihre Sehstärke jedoch abgenommen. Von der gesellschaftlichen Sicht her war sie zu einer besseren Version meinerselbst geworden. Wir verbrachten schlechte Nächte miteinander. Irgendwann begannen wir nicht mehr mit «Ich liebe dich» zu antworten, wenn der Andere «Ich liebe dich» sagte; wir sagten «Ich auch». Ich hatte sie die ganze Zeit über nur zwei Mal betrogen und das auch nur, weil sie in der Zwischenzeit schon sooft fremdgegangen war, dass ich darauf scheißen wollte. Ich hatte mich damit beide Male selbst angekackt. Sie war gut im Bett. Sie wollte stets alle möglichen Dinge in allen möglichen Öffnungen ihres Körpers spüren, nur keine Blicke in ihren schönen Augen. Trotzdem werde ich nie ihr Lächeln vergessen in den seltenen Momenten, in denen sie ihre Scham vergaß. Seien wir doch ehrlich: Wir alle entlieben uns, aber das Echo eines Menschen lieben wir immer weiter.
Ich werfe die Zigarette aus dem Fenster. Es ist kalt; ich habe bereits zu oft geschrieben, dass ich friere. Ich denke an all die Menschen, deren Nähe ich viel intesiver spüren kann seit ich nicht mehr der Anziehung einer versteinerten Liebe erliege. Das letzte halbe Jahr war ein aufregendes halbes Jahr! Ich denke an Carlotta, C2, die C4 ist. Ich denke an ihre Brüste, die Metapher sind. Der egoistische Romantiker, der Wärme braucht, weil er sich sonst allein fühlt, gebraucht sie mit einem verschmitzten Lächeln, wenn er eigentlich von ihrer Lebensfreude sprechen will, die funkensprühend ihrem Lachen entweicht, während sie hüpft wie die Anzeige einer Hifi-Anlage. Oder wenn er sich nach ihren blauen Augen sehnt, nach deren Tränen. Carlotta, allegro, Muse nahe einem luziden Traum. Ich könnte nie eine Beziehung mit ihr führen; nicht nach der kurzen Zeit, nicht in der kurzen Zeit. Ich möchte mit ihr Tanzen, gemeinsam Case de regrets mixen und über Abende verteilt trinken. Manchmal möchte ich sie einfach nur stundenlang anschauen und manchmal rollt sie sich zusammen, schläft einfach nur ein, und ich schaue ihr stundenlang zu. Es gelingt mir zu lächeln - das ist dann keine große Anstrenung - und ab und zu rauche ich eine Zigarette und atme tief durch. Ab und zu schließe ich die Augen für einen Moment, öffne sie für den Bruchteil einer Sekunde, um sie wieder für einen Moment zu schließen: umgekehrtes Blinzeln, wie es Maler und Bildhauer verwenden, um sich ein Bild besser einprägen zu können. Die Netzhaut wird belichtet wie ein Film, die Bilder gelangen in das Gehirn, ohne vorher von ihm kaputtanalysiert zu werden. Dort docken sie an den Synapsen an, vernetzen sich neu. Ab und zu streiche ich ihr vorsichtig die Haarsträhne aus dem Gesicht, bedacht die Muse nicht aufzuwecken; diese eine Haarsträhne, die immer wieder zurückfällt, ab und zu, während sich Stunden durch sechzig teilen. Ich bin glücklich. Ich fühle mich großartig, während ich so klein bin. Ich spüre meine Größe.
Ocean pulls me close
And whispers in my ear
The destiny I’ve chose
All becoming clear
The currents have their say
The time is drawing near
Washes me away
Makes me disappear
I descend from grace
In arms of undertow
I will take my place
In the great below
I can still feel you
Even so far away
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aus Christoph Baumer, "Ode an die Brüste der Muse"
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