"Wassermusik" für den Walkman
Frühes neunzehntes Jahrhundert: Der tendentiell misanthrope Carl Friedrich Gauß beglückt die Welt mit bahnbrechenden mathematischen Entwicklungen, gleichzeitig bereist der furchtlose Alexander von Humboldt die vielen unentdeckten Nischen der Erde, setzt sich Gefahren und Unbill aus. Ihre Ziele sind ähnlich: Den Horizont des Menschen zu erweitern. Der eine sucht in seinem Inneren und im Kleinen nach Antworten, der andere muß die Welt „erfahren“, um sie zu begreifen und begreiflich zu machen.
Daniel Kehlmann erzählt beide, sich schließlich kreuzende Biographien auszugsweise mit starkem Fokus auf den Beginn und das Ende, als Gauß’ Auffassungsgabe allmählich nachläßt und der inzwischen weltweit populäre von Humboldt mit ganzen Hundertschaften als Gefolge von Regierungen vorgegebene Strecken abreisen muß, ohne noch im Sinne des Wortes „forschen“ zu können – oder zu dürfen. Die westliche Welt befindet sich im Umbruch. Die Wissenschaft genießt mehr und mehr Ankerkennung; am Ende blicken beide Protagonisten zurück und erkennen, daß sie inzwischen von ihren eigenen Entwicklungen und neuen, nachwachsenden Wissenschaftlern „überholt“ wurden.
Das waren noch Zeiten, ist man festzustellen geneigt, als natürlich vor allem Männer (Frauen spielen in diesem Roman kaum eine Rolle) in die Welt reisen und hinter jedem Busch, hinter jeder Kreisfunktion Neues finden konnten. Erzählerisch fühlt man sich vor allem bei den „Orinoko“-Eposiden von Humboldts an „Wassermusik“ von T.C. Boyle erinnert, denn Kehlmann wählt eine ähnliche, ähnlich lakonische Sprache. Häufig im Konjunktiv und nahezu ohne wörtliche Rede wechselt er, zuweilen etwas schwer nachvollziehbar, die Perspektiven, parliert und kommentiert. Das allerdings überaus vergnüglich und augenzwinkernd, ohne sich über seine Figuren zu erheben. Daß dabei das eine oder andere historische Faktum auf der Strecke bleibt, ist bei dieser Art von Literatur immer verzeihlich, denn es wird aufgewogen durch ein sehr anschauliches Sitten- und Gesellschaftsbild – und durch die liebevolle Zeichnung der Hauptfiguren, die dem Leser nachgerade ans Herz wachsen, mit all ihren Schrullen.
Es gibt allerdings ein Aber. Vor allem im letzten Drittel wird das Buch etwas zäh, gen Ende wirkt es unentschlossen. Mit dem Umblättern der letzten Seite stellt man fest, auf einige dramaturgische Tricks hereingefallen zu sein. Nichtsdestotrotz: Sehr intelligente, literarisch ambitionierte Lektüre, die auch den internationalen Vergleich nicht scheuen muß, sich aber ein ganz klein wenig unter Wert verkauft.´