Selim Özdogan: Die Tochter des Schmieds

  • Bin gestern damit fertig geworden und dabei aufgewacht wie aus einem leisen Traum, von dem du geweckt wirst, weil ein Grashalm an deiner Nase kitzelt. Das ganze Buch ist sanft, vorsichtig, nie aufdringlich, aber dennoch ausdrucksstark. Wie eine Libelle.


    Besonders die Sprache ist ganz zauberhaft. Sie haucht das Leben in die Geschichte und so sollte es, finde ich, immer sein. Habe beim Lesen oft einige Zeilen wiederholt, weil die Bilder so schön waren, schlicht, aber treffend. Sie passen einfach. Wie eine Melodie, ganz ohne schiefe Töne. So befindet man sich beim Lesen in einer ganz eigenen Atmosphäre.


    Die Figuren werden lebendig, als besonders gelungen empfand ich die Charakterisierung von Timur, außerdem von Gül selbst und ihren Schwestern, Melike, der Kämpferin und Sibel, der Künstlerin, für mich eine der liebenswertesten Personen im Buch. Aber auch die anderen Figuren -- ganz gleich, ob sie ebenfalls eine zentrale Rolle spielen oder nicht -- erreichten eine erstaunliche Tiefe.


    Was mir auch noch aufgefallen ist (so ganz am Rande) ist die wunderbare Konsistenz der Seiten. Ich hatte bisher noch nichts vom Aufbau-Verlag gelesen und die Seiten, sie waren so toll, so leicht, flatterhaft, das Umblättern hat wirklich Spaß gemacht.:grin


    Ich zögere noch, ob ich weitere Bücher von Selim Özdogan lesen will, sie sollen ja sehr anders sein, aber wenn sie vom Stil her annähernd an Die Tochter des Schmieds heran reichen, würde ich bestimmt etwas verpassen. :anbet

  • Ich hinke hier wiedermal hinterher und habe diesen Autor erst gerade entdeckt. Ausgerechnet durch ein Zitat in Tom Liehrs Sommerhit:


    "Ein gutes Leben ist die beste Rache"


    Das stammt zwar aus einem anderen Buch, aber als unser Lesekreis den Sommerhit besprach, hatte eine Dame in unserer Runde "Die Tochter des Schmiedes" zum Austausch dabei, ohne sich bewusst zu sein, dass der Autor eben auch von Tom Liehr zitiert wurde! Lesezufaelle gibt es also immer wieder. Und so hab ich es mitgenommen - und mit Begeisterung gelesen.


    Die Sprache ist einfach faszinierend, zum einen fast maerchenhaft poetisch, zum anderen aber auch sehr realistisch. Und obendrein absolut zeitlos! Ich hatte das Gefuehl, die Geschichte koenne so vor 100 Jahren oder im letzten Jahr passiert sein. Nur an einer Stelle fiel mir wirklich eine Jahreszahl auf, und auch die nur indirekt als im Radio vom Attentat an JFK berichtet wurde.


    Interessant auch wie der Erzaehler stellenweise Ereignisse aus der Zukunft vorwegnimmt und sie in die Kindheitsereignisse mit einfliessen laesst. Normalerweise mag ich sowas gar nicht, weil es meist den Spannungsbogen zerstoert. Hier passt es aber sehr gut und gibt der Erzaehlung noch eine weitere Dimension.


    Ganz sicherlich ein Jahreshighlight und eines, das ich uneingeschraenkt weiterempfehlen kann.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

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  • Es wurde ja schon viel zu diesem Buch geschrieben. Ich kann mich den positiven Meinungen nur anschließen. Ein wundervolles Buch. Man freut sich mit den Figuren, man leidet mit ihnen und oft wundert man sich auch. Gül möchte man einige Male auch gerne mal einen Schubs geben zu ihrem Glück. Aber andererseits fühlt man auch ihre Verzweiflung die sie zu bestimmten Handlungen treibt. Und so hofft und bangt man einfach mit.


    Ich liebe diese Einschübe, die Hinweise auf die Zukunft geben. Das macht alles noch spannender. Zu sehen, wie wertvoll den Menschen früher und auch in anderen Ländern bestimmte Dinge oder Gegebenheiten waren, ist so schön zu sehen. Überhaupt erlebt man in dem Buch viel Alltag mit. Essensgewohnheiten, Bräuche, die Stellung der Frau, Arbeiten im Haushalt... alles durch eine wunderschöne Sprache erzählt. Sehr lesenswert und 10 Punkte wert!