Das Kreuz am Wegesrand

  • Regelmäßig fahre ich daran vorbei, es ist ein schlichtes Holzkreuz mit einer kleinen Tafel daran: „Anna“ lautet die Inschrift. Mehr nicht. Heute steht ein kleines Töpfchen Erika davor. Schließlich ist es jetzt Herbst, und nachts wird es sehr kalt, da muß das Pflänzchen schon was aushalten. Im Sommer sind es meist Margeriten. Die blühen so üppig, daß man sie schon von weitem sehen kann. Sie zeigen mir, daß Anna noch immer geliebt und betrauert wird.


    Ich weiß gar nicht, wann mir das kleine Kreuz zum ersten Mal auffiel. Ein paar Jahre ist es sicherlich her. Eines Tages schlich es sich in mein Bewußtsein, und seitdem fällt mein Blick immer, wenn ich diese Strecke fahre, darauf.


    Du hast Dich auf diesen Fahrten in mein Gedächtnis gegraben, Anna. Ich habe schon oft überlegt, was Du für ein Mensch warst. Warst Du alt? Jung? Vielleicht gar noch ein Kind? Das Täfelchen verrät mir Dein Geheimnis nicht. Wie bist Du gestorben? Hast Du unachtsam die Straße überquert? Hattest Du die Kontrolle über Dein Fahrzeug verloren? Oder trägt ein anderer die Schuld an Deinem Tod? Wurdest Du nach der Disco in den Tod gefahren, wie man es so oft lesen muß?


    Ich frage mich stets: Wie konnte jemand nur an dieser Stelle sterben? Die Straße verläuft hier schnurgerade und ohne Bäume rechts und links.


    Während ich das denke, nehme ich unwillkürlich den Fuß vom Gas. Es gibt einfach viel zu viele dieser Kreuze am Wegesrand, denke ich mir dabei - jedes einzelne ist eines zu viel.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

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  • Ich komme auch regelmäßig an einigen dieser Kreuze vorbei. Das für Johannes steht an meiner Laufstrecke, er ist mit seinem Motorrad verunglückt und eins steht für eine junge Mutter und ihr Kind, die im Winter tödlich verunglückt sind, weil ihnen mit zu hoher Geschwindigkeit ein anderes Auto entgegen kam. Manche Geschichten dahinter kenne ich, bei manchen steht nur der Name und ein Geburts- und/oder Todesjahr dahinter und bei einer weiß ich von den tragischen Umständen einer zu späten Rettung und den vielen "wenns" die diesem Mädchen das Leben hätten retten können. Nachdenklich machen sie mich in jedem Fall und meist etwas achtsamer.

  • Zitat

    Original von Idgie
    Ich komme auch regelmäßig an einigen dieser Kreuze vorbei...Nachdenklich machen sie mich in jedem Fall und meist etwas achtsamer.


    Auf jeden Fall.


    Auf dieses Essay bin ich gekommen, weil auf dem Weg zu meinen Eltern eines dieser Kreuze steht (dessen Geschichte ich auch kenne).

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)


  • Das Kreuz für Kevin steht seit Februar 2004.
    Er war nicht mal 10 Jahre alt. Ein Junge aus der Nachbarschaft.
    Ich kannte ihn nicht, aber ich sah ihn quasi sterben.
    Er wurde grad beatmet, als ich zum Bus wollte.
    Andertags erfuhr ich, dass er es nicht geschafft hatte...


    Kevins Kreuz machte mir auch erst mal all die anderen Kreuze bewusst,
    an denen ich so gedankenlos vorbeifuhr... bis Februar 2004.


    Ich will hoffen, dass Anna ein erfülltes Leben hatte.

  • @ Batcat


    Dein Text sagt sehr schön aus, dass die Kreuze am Wegrand ihren Sinn erfüllen - über die Menschen, die dahinterstehen nachzudenken, sie im Gedächtnis zu behalten UND achtsam zu werden, achtsam zu fahren...


    Danke sagt das Sternenkind