Der Doppel-Schreier - Lisei Luftvogel

  • Lisei Luftvogel: Der Doppel-Schreier. Roman. Eine Nahost-Roadstory, Ahrensburg 2024, Tredition, ISBN 978-3-384-19720-7, Hardcover, 390 Seiten mit s/w-Landkarten, Format: 12,7 x 2,54 x 20,32 cm, Buch Hardcover: EUR 25,00, Buch Softcover: EUR 20,00, Kindle: EUR 9,99.


    „Sie sah ihn wieder vor sich, schwarz gekleidet, kühn wie ein Rockstar. Ihren Vater, den sie einst so geliebt hatte und der ihr so viele Dinge von der weiten Welt erzählt hatte. Für sie war er immer ein Humanist mit großem Gerechtigkeitssinn gewesen. Hatte es einen Riss in seinem Leben gegeben oder war er ein anderer Mensch geworden? [...]“ (Seite 302/303)


    Berlin 1985: Zara Baumann (15) ist untröstlich: Ihr Vater ist in Indien bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Seine Beisetzung in Deutschland ist nur ein symbolischer Akt. Trotzdem sind zahlreiche Freunde und Weggefährten aus der linksalternativen Szene erschienen, um Abschied zu nehmen.


    Kindheit im linksalternativen Milieu


    Studentenbewegung, Wohngemeinschaften, Hausbesetzung, Demos und endlose politische Diskussionen: In diesem Umfeld ist Zara aufgewachsen. Ihre Eltern, Ruth und Reinhard, schleppen sie von klein auf überall mit, kümmern sich aber sonst nicht weiter um sie. Die Kinder in den Wohngemeinschaften machen, was sie wollen.



    Der Vater verschwindet


    Papa Reinhard ist als Kriegsberichterstatter ständig unterwegs. Wenn er sich mal zuhause blicken lässt, ist das für Zara, als würde sich ein Superheld die Ehre geben. Ruth feiert die Stippvisiten ihres Lebensgefährten nicht ganz so sehr. Seine ständige Abwesenheit und seine Affären hat sie langsam satt, und auch seine zunehmende Radikalisierung in der Palästinenserfrage kann sie nicht mittragen. Dem steht ihre eigene Familiengeschichte entgegen.


    Eines Tages verschwindet Reinhard aus ihrer beider Leben – und jetzt ist er tot.


    Eine folgenschwere Begegnung


    Pisa 2008: Zara, inzwischen 38, Philosophin, pendelt zwischen Berlin und Pisa, wo sie jeweils befristete Jobs als Wissenschaftliche Mitarbeiterin hat. Seit 23 Jahren ist ihr Vater jetzt schon tot.


    Eines Tages laufen ihre Mutter und sie auf der Piazza dei Miracoli zufällig dem Fotografen Johannes Hummel über den Weg, Reinhards altem Freund und Kollegen, den sie seit 25 Jahren nicht mehr gesehen haben. Die Freude ist riesig, bis der Mann arglos eine Bombe platzen lässt:


    „Echt ein komischer Zufall“, sagte Johannes, „vor kurzem habe ich Reinhard in Damaskus getroffen, und jetzt euch hier.“ (Seite 13)


    Zara fällt aus allen Wolken. Reinhard lebt? Und Ruth hat das all die Jahre gewusst? Heißt das, er ist einfach untergetaucht und hat sich nie wieder gemeldet? Aber wieso?


    Johannes ist die Sache furchtbar peinlich. Dass Reinhard tot sein soll, ist ihm völlig neu. Ruth schweigt und Zara ist wild entschlossen, ihren Vater aufzuspüren und herauszufinden, was hier gespielt wird.


    Zara auf Spurensuche


    Berlin, Damaskus, Beirut 2008: Bei Reinhards alten Freunden in Berlin fängt Zara mit der Suche an. Doch die wissen entweder nicht, wo er sich gegenwärtig aufhält oder sie tun nur ahnungslos. Gut, wenn sie hier nicht weiterkommt, dann vielleicht in Damaskus. Kurzerhand reist sie hin. In der Eisdiele, in der Johannes ihn getroffen hat, fängt sie mit der Suche an. Gar nicht so einfach, wenn man nur ein über 20 Jahre altes Foto hat und nicht weiß, welchen Namen er inzwischen benutzt.


    Zara kommt schnell mit Menschen ins Gespräch, und so erhält sie bald tatkräftige Unterstützung von der syrischen Reiseleiterin Rula und vom deutschen Studenten Maurice. Der spricht Arabisch und scheint alle Welt zu kennen, ist aber ein bisschen zu vertrauensselig. Und das sollte man hier nicht sein.


    Reale Gefahr oder Verfolgungswahn?



    Zara lernt eine Menge interessanter und hilfsbereiter Menschen kennen. Sie erfährt vieles über politische Hintergründe und Zusammenhänge, aber sie weiß nie, wem sie wirklich trauen kann.


    In die Suche nach ihrem Vater kommt erst so richtig Bewegung, als sie den italienischen Kriegsberichterstatter Luca kennenlernt. Ihn hat sein Beruf den Seelenfrieden und die Familie gekostet. War das bei Reinhard auch so? Oder ist der irgendwann abgedriftet und hat noch ganz andere Dinge getan als über die Konflikte zu schreiben? Eine Spur führt Luca und Zara nach Beirut …


    Erkenntnisse gewonnen, Illusionen verloren


    Im Laufe ihrer abenteuerlichen Suchmission lernt Zara viele Menschen und Schicksale kennen, taucht ein in eine neue Kultur und Sprache, erfährt einiges über politische Verwicklungen und die Rolle, die ihre Familie darin gespielt hat – und ein bisschen etwas über sich selbst. Sie gewinnt an Wissen, verliert aber mehr als nur ein paar Illusionen.


    „Zara verspürte eine neue Gewissheit. Sie musste ihre Erinnerungen neu formatieren, sie in einen anderen Zusammenhang bringen. Mit ihrem alten Weltbild konnte sie nichts mehr anfangen. Es war wie eine Karte mit falschen Wegen.“ (Seite 304)


    Zaras Quest: Spannend und faszinierend


    Die Ausgangssituation und Zaras sehr bildhaft und lebendig beschriebene Reise finde ich ungeheuer faszinierend. Und ich mag die internationale Atmosphäre, in der’s in allen möglichen Sprachen munter durcheinandergeht.


    Manche philosophischen Exkurse haben mich jedoch überfordert Bei „Das Abstrahieren von Qualität ist spießig. Pure Logik ist squarness“ (Seite 79) bin ich raus, genau wie beim Aufdröseln der politischen Verhältnisse im Nahen Osten. Wer wann und warum mit wem gegen wen, welche Splittergruppen es gab und wo welcher Geheimdienst die Finger drin hatte, das ist mir zu hoch. Aber ich glaub‘, Zara hatte da ähnliche Probleme.



    Die Autorin


    Lisei Luftvogel, geboren im Ruhrgebiet und aufgewachsen in der linksalternativen Szene, hat eine bewegte Vergangenheit. Bereits als Kind reiste sie durch Europa und erlernte zahlreiche Sprachen. Ihre akademische Laufbahn führte sie nach Perugia, wo sie Philosophie, Anthropologie und Assyrisch-Babylonisch studierte, und später nach Venedig, wo sie Arabisch und Jiddisch lernte. Ihre Reisen nach Syrien und in den Libanon sowie ihre Erfahrungen in der linken Alternativszene ihrer Eltern und ihre Studien von Autobiografien und sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Geheimdiensten, Kriegen, Ideologien und deren Auswirkungen prägen ihre tiefgründigen und vielschichtigen Erzählungen. Luftvogel lebt seit über zwanzig Jahren in Ferrara, wo sie als Deutsch- und Feldenkrais-Lehrerin tätig ist


    ASIN/ISBN: 3384197208

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner