In allen Lebenslagen Contenance bewahren!
Was tut man, wenn das Dach löchrig ist, wie ein schweizer Käse, aber kein Geld zum Renovieren da ist? Man stellt überall im Haus Eimer, Töpfe, Tassen, Gläser und Schüsseln auf und hofft auf lange Dürrezeiten. Es ist aber auch kein Geld für den Schüleraustausch nach Frankreich, kein Geld für einen Konfirmationsanzug, kein Geld um Schulden zu bezahlen, gar kein Geld. Wenn mal etwas Geld zufällig da ist, wird stilvoll auswärts diniert oder im Delikatessenladen eingekauft. Der Gerichtsvollzieher steht vor der Tür, aber da nur die Kinder daheim sind, darf er nicht das Haus betreten. Die Familie versteht es, zu repräsentieren, der Welt und den Verwandten eine heile Welt und gesunde Finanzen vorzuspielen.
Die Eltern sind so aufgewachsen, Siegfried von seiner Mutter Henriette gedrillt und geschlagen und Marlene von ihrer Mutter Lydia herumkommandiert und fremdbestimmt.
Aber Großmutter Henriette hatte ihrerseits und zu ihrer Zeit das NS Regime unterstützt, lag ihrem Mann, der Polizist war, in den Ohren, er solle endlich in die NSDAP Partei eintreten, um Karriere zu machen. Nach dem Krieg darf er nicht zurück zur Polizei, er macht einen Friseursalon auf. Später, im Alter, als er krank wird, verbannt ihn Oma Henriette in einem Anbau neben dem Haus, mit einem separaten Eingang für die Pflegerin. Henriette ist von sich selbst überzeugt und auch überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. #Die Einwände ihres Sohnes Siegfried, dass sie nach dem Krieg kein Familienleben hatten und Vater als Wrack aus dem Internierungslager zurückkam, fegt sie achtlos beiseite: “Du warst von allen der Sensibelste… Und hast so schöne Gedichte geschrieben”. Henriette stößt mit unumstößlicher Gewissheit aus: “Ich habe alles richtig gemacht!..."Und er da oben, der Herrgott, weiß, dass ich recht habe…” (S. 92 - 93). Dabei war sie eine “Rabenmutter”, hat ihre Kinder vernachlässigt und nur ihre eigenen Interessen verfolgt. Interessant ist, der Vater trat in die Partei erst spät ein, als der Krieg schon ausgebrochen war, er wurde unter Zwang in die SS gesteckt, hat nie mitgemacht, hat aber trotzdem die Tötungen und Transporte gesehen. Seine Frau hat das nie sehen wollen. Und Hans-Hermann, Freund und vielleicht Liebhaber der Mutter, “...in der NS-Zeit leitende Positionen bekleidete und als Laienrichter am Volksgerichtshof Todesurteile unterzeichnete, wir din einem Spruchkammerverfahren als minderbelastet eingestuft und von allen Vorwürfen freigesprochen.” (S. 124). Es tut richtig weh, mit anzusehen, wie Vater und Hans-Hermann ihr Leben meistern oder eben nicht.
Henriette, die von sich behauptet, immer alles richtig getan zu haben und nur das Beste für alle wollte, richtet sich daheim ein eigenes Zimmer ein, in dem sie Feinkost zu sich nimmt, während ihre Kinder und ihr Mann in der Küche Steckrüben essen.
Marlene hätte ihrerseits gerne Abitur gemacht und studiert, das Zeug dazu hätte sie ja gehabt, aber Lydia zwang sie eine kaufmännische Lehre zu machen und so schnell wie möglich Geld zu verdienen. Ihre ältere Schwester heiratet nach Amerika. Von dort wird sie Marlene ständig unterstützen, Pakete und Geld schicken. Denn Siegfried und Marlene verdienen zwar Geld und nicht schlecht, aber sie können damit nicht haushalten. Es zerrinnt ihnen unter den Fingern, sie treffen falsche Entscheidungen und versuchen mit allen Mitteln, die Contenance zu verwahren. Anfangs hielt ich sie für Verschwender (sind sie ja auch), aber sie sind Opfer der Umstände, in denen sie aufgewachsen sind. Sie lassen zwar die Kinder vor dem Gerichtsvollzieher alleine, lassen sie aber nie wirklich im Stich. Und das macht diese Generation besser, als die beiden Großmütter es getan haben. Wie Großmutter HEnriette wohl auf das große Konkursverfahren ihres Sohnes reagiert hat?
Eine Familie mit drei Kindern, finanziell ruiniert und ein Dach wie ein Sieb, und trotzdem Haltung bewahrt, Chapeau! Wenn sie heute das Auto vom Titelbild verkaufen würden, wären sie den Gerichtsvollzieher schon mal los.
Von manchen Verlagen wurde ich schon enttäuscht, die Bücher in ihrem Programm waren nicht immer die Besten (zumindest meiner Meinung nach), aber bei Diogenes werden meine Erwartungen erfüllt und übertroffen. Wählt der Autor den Verlag? Dann hat Schünemann gut gewählt.
![]() |
ASIN/ISBN: 3257073313 |