Zum Henker
Im Jahr 1982 ist Jason Taylor anfangs dreizehn, später vierzehn Jahre alt. Er lebt in Black Swan Green, einem Ort irgendwo zwischen London und Oxford, wo es dem Namen zum Trotz keinen einzigen Schwan gibt. In der lebensentscheidenden Hierarchie der – vor allem männlichen – Jugendlichen dort gehört Jason zum Mittelfeld, zu denen, die eher unauffällig sind und immerhin beim Nachnamen gerufen werden, und nicht zu den Aussätzigen, die mit irgendeinem fiesen Spitznamen belegt sind, wie sein Freund Dean, der in Verballhornung seines Nachnamens „Moron“ gerufen wird, also „Idiot“, obwohl Dean natürlich keiner ist. Eigentlich würde Jason auch in diese Gruppe gehören, denn er schreibt nicht nur heimlich Gedichte, die unter einem rebellischen Pseudonym im Gemeindeblatt veröffentlicht werden, was so „schwul“ wie nur irgendwas ist, und schwul kommt einem Todesurteil gleich. Nein, Jason ist auch noch Stotterer, und beim Sprechen peinlich darauf bedacht, Wörter zu meiden, die „Henker“, wie er den Sprachfehler nennt, derzeit als problematisch favorisiert. Eine heftige Stotterattacke vor versammelter Mannschaft würde ihn die Treppe hinunter zu den Nichtswürdigen befördern, deshalb ist Jason ständig extrem auf der Hut. Und darum bemüht, in der Hierarchie vielleicht sogar aufzusteigen, wofür es eines Tages tatsächlich die Chance gibt.
Es ist das Jahr von Punk und New Wave, von Spandau Ballet und Joy Division, es ist ein Jahr unter Margaret Thatcher, es ist das Jahr, in dem der Falkland-Krieg ausbricht und endet. Es ist das Jahr, in dem Jasons Familie heftige Veränderungen durchläuft, nicht nur ausgelöst durch den Auszug von Julia, der inzwischen volljährigen Schwester, mit der Jason exakt das gleiche Verhältnis hat wie jeder männliche Teenager mit seiner älteren Schwester: Solide Hassliebe. Es ist das Jahr von Jasons erster Schwärmerei, die sich als Fehler erweist, und seines ersten Kusses mit dem richtigeren Mädchen.
Es geschieht so einiges während dieser dreizehn Monate, von denen „Der Wolkenatlas“-Macher David Mitchell erzählt, beginnend im Januar 1982 und endend im Januar ein Jahr später, wenn fast nichts mehr so wie am Anfang sein wird. Der brillante Romancier baut in einem unvergleichlichen Duktus eine figurenreiche Coming-of-Age-Geschichte, die oft komisch und immer warmherzig ist, jederzeit unfassbar klug, meistens rasant, manchmal mysteriös und voller verblüffender Beobachtungen, die der liebenswürdige Junge einsammelt. Nicht nur Jasons selbst, auch im Ort passiert so einiges, als sich beispielsweise eine Front gegen den Stellplatz für die „Zigeuner“ bildet, als ein Junge aus Black Swan Green im Krieg umkommt, als die geheimnisvollen „Spooks“ neue Mitglieder rekrutieren und als im Hause der Taylors eigenartige Anrufe ankommen. Vor allem aber, als Jason endlich herausfindet, was in seinem Leben viel wichtiger ist, als den Jungen gefallen zu wollen, die von sich annehmen, in der Hierarchie über ihm zu stehen.
„Der dreizehnte Monat“ ist ein von der ersten bis zur letzten Seite ganz und gar zauberhaftes Buch, ein Pageturner mit Herz und Anspruch und ganz viel Weisheit, und einer der besten Romane dieser Art, die mir bislang untergekommen sind.
(Danke Maarten für die Empfehlung!)
ASIN/ISBN: 349924876X |