Der Büchereulen-Adventskalender 2024

  • Der 21. Dezember von Johanna


    Die Mädchen, der Weihnachtsmann und wilde Tiere


    Juliana hockte im Schneidersitz auf dem Sofa, ihr Handy in der Hand.

    Seltsamerweise sah sie gar nicht darauf, was äußerst ungewöhnlich war, sondern starrte aus dem Fenster. Der vor ihr stehende Kakao wurde langsam ebenso kalt, wie es draußen wirkte.


    Mathilde, die vor ihr auf dem Teppich saß, an ihrem Kakao schlürfte und bis eben in ihr Rätselheft vertieft gewesen war – sie liebte Rätsel – guckte sie erstaunt an und meinte: „Was ist denn mit Dir los, Du siehst so traurig aus. Ist das Handy kaputt?“


    „Was?“ tauchte Juliana aus ihrer Versunkenheit auf. „Ach ne, ich bin nur wütend und enttäuscht von den blöden Politikern.

    Da freue ich mich schon so lange darauf, bald endlich wählen zu können und dann bringen die mich einfach um meine Wahl, weil die sich schlimmer verhalten, als ihr in eurem Kindergarten.“ Sie blickte auf Marianne.

    Diese ganz empört: „Wir sind nicht schlimm, sondern lieb und klug.“


    „Eben“ sagte Juliana: „ Ihr benehmt euch vernünftiger und lernt es, Euch zu streiten und dann auch wieder zu versöhnen und weiterzuspielen.

    Die „gnädigen“ Damen und Herren Politiker sind genau dazu nicht in der Lage, geben einfach auf, ziehen die Wahl vor und dann noch so bescheuert, daß die dann eben knapp vor meinem 18. Geburtstag stattfindet und ich nun doch nicht mit wählen kann.“


    Madita tröstete sie: „Wenn die alle so blöd sind, freu Dich doch, bei diesem Affenzirkus nicht mitmachen zu müssen. Dafür darfst Du heute wählen was wir spielen wollen, als kleiner Trost.“

    Juliana lächelte ihre kleine Schwester an „ Du hast ja recht, laßt uns jetzt kurz vor Weihnachten nicht an so ärgerliche Dinge denken. Lieber überlegen wir uns, was wir jetzt machen und ob wir dieses Jahr hoffentlich den Weihnachtsmann treffen und mit ihm wieder viel Spaß haben werden.“



    Plötzlich sah Madita erschrocken in den Garten, da sahen es die andern ebenfalls. Am Fenster tauchte das Gesicht eines Rentieres auf.

    „Rudolph“, rief Marianne erfreut, „was machst Du denn hier?“

    „Oh, oh, das kann nichts Gutes bedeuten.“ sprach Mathilde aus, was auch Juliana dachte.

    „Mädels, zieht Euch warm an, wir müssen raus. Daß Rudolph hier alleine auftaucht, bedeutet bestimmt, daß der Weihnachtsmann in Gefahr ist“, raunte Juliana ihren Schwestern zu.

    In Rekordzeit schlüpften die vier Mädchen in ihre Winterjacken, stürzten vor die Terrassentür und sahen Rudolph an.

    Der drehte sich um, stapfte langsam durch den Schnee im Garten in Richtung Wald.

    Im Schlepptau vier Mädchen, die ihm folgten.


    Ein Stück weiter in „ihrem“ Wald, wie sie ihn nannten, entdeckten sie den Weihnachtsmann neben seinem Schlitten liegend auf dem Boden, das eine Bein seltsam abgewinkelt.


    „Wie gut, daß mein lieber Rudolph Euch gefunden hat“, stöhnte der Weihnachtsmann: „Ich glaube, mein Bein ist gebrochen.“

    „Oh nein, Weihnachtsmann, wie konnte das denn passieren?“ fragte Marianne entsetzt, die sich sofort neben ihn setzte und ihm vorsichtig über den Kopf strich.

    „Tja, liebe Marianne, nun hast Du doch noch recht bekommen. Weißt Du noch, wovor Du früher immer Angst im Wald hattest?“


    „Vor Wildschweinen“ platzte Mathilde heraus. „Aber hier gibt es doch gar keine.“

    „Jetzt schon.“ Sagte der Weihnachtsmann. „Da brach völlig unerwartet eins aus dem Gebüsch hervor, als ich kurz vom Schlitten gestiegen bin um..., na Ihr wißt schon.

    Ich hörte es rascheln und knistern, drehte mich um und schon stürmte die Wildsau auf mich zu, stieß mich um und rammte mich am Bein.

    Zum Glück schrie Rudolph laut auf, daß das Schwein von mir ließ.

    Da ich hier direkt bei Euch um die Ecke war, habe ich schnell mein Rentier losgeschickt, Euch zur Hilfe zu holen.“


    „Wie kann das denn nur passieren, ich dachte, Du bist gegen so etwas immun? Das muß ja ein echt gemeines Wildschwein gewesen sein.“ Sagte Madita fassungslos.


    Pragmatisch, wie sie war, warf Juliana ein: „Du mußt ins Krankenhaus, das muß geröntgt und geschient werden.

    Mal sehen, wie wir Dich dort hinbekommen.“


    Sie konstruierten aus Ästen und Zweigen eine Art provisorische Trage, die sie dank Julianas Pfadfindererfahrungen ratz fatz fertigstellten, hievten den Weihnachtsmann vorsichtig erst auf Diese, dann anschließend mit viel Kraftanstrengung auf den Schlitten.


    Und ab ging es ins Krankenhaus.


    Als sie so auf dem Schlitten vorfuhren, staunte die Belegschaft der Notaufnahme nicht schlecht, zum Glück lag Schnee, daß es nicht ganz so seltsam anmutete.


    Der Weihnachtsmann kam auf eine Trage und sofort wurde er hinein gefahren und versorgt.

    „Wie lieb von Euch, daß Ihr Euren Großvater hergebracht habt, nun müßt Ihr noch ein wenig warten, er wird gut versorgt werden.“

    Madita, ehrlich wie immer, meinte: „Das ist nicht unser Großvater, das ist doch der Weihnachtsmann.“

    „Aha, alles klar“, schmunzelte die Krankenschwester mit einem nachsichtigen Gesichtsausdruck. Sie glaubte natürlich nicht an die Worte der Kinder.


    Eine Stunde später durften sie ins Zimmer. Den Weihnachtsmann zierte ein prächtiger Gips um sein Bein.


    „Geht es Dir besser?“ fragten die Vier.

    „Oh ja, dank Eurer schnellen Hilfe gab es keine Komplikationen, es mußte nichts operiert werden, zum Glück war es ein glatter Bruch.“ Lächelte der Weihnachtsmann schon wieder.

    „Allerdings bekomme ich jetzt ein Problem mit der rechtzeitigen Auslieferung der Geschenke für die Kinder. Den Schlitten kann ich notfalls auch mit Gipsbein führen, nur mit der Kaminkletterei könnte es schwierig werden.“


    „Das ist das geringste Problem, da helfen wir Dir natürlich. Hauptsache, es geht Dir besser.“ Erklärte Juliana.

    „Würdet Ihr das machen? Das ist ja wunderbar. Auf Euch kann ich mich immer verlassen. Ich sehe zu, daß ich hier morgen rauskomme, da muß ich mir noch etwas überlegen. Aber das schaffe ich schon.“ Meinte der Weihnachtsmann, während er sich gedankenverloren über seinen Bart strich.


    „Die halten Dich hier für unseren Opa und glauben nicht, daß Du der Weihnachtsmann bist.“ Sagte Marianne kläglich. „So schnell lassen die Dich bestimmt nicht gehen.“


    „Laßt mich nur machen, Mädels, das bekomme ich schon hin, wenn ich eine Nacht gut schlafen kann.“ Antwortete der Weihnachtsmann.


    Am nächsten Morgen - Rudolph durfte eine ruhige Nacht im Garten der Mädchen , wo er sehr verwöhnt wurde, verbringen – fuhren sie alle gemeinsam den Weihnachtsmann abholen.


    Sie wunderten sich, daß das problemlos möglich war. Ebenso über die heute alle sehr fröhlich und freundlich wirkenden Ärzte und Schwestern, die alle ihren Freund herzlich mit seinem Gehgips verabschiedeten und ihm noch mitgaben, sich zu schonen und Anstrengungen zu vermeiden.



    Dann ging es auch schon los. Geschenke aufladen und an die richtigen Adressaten verteilen, Kamine sichten, klettern, wieder hochsteigen, auf den Schlitten hüpfen.

    Die Mädels machten sich durchaus gut, so als Kaminkletterinnen.

    Nach getaner Arbeit wollten die vier Mädchen gerne noch eine Extrarunde mit dem Schlitten fahren, da er jetzt leichter und flotter unterwegs war.


    Als sie über ihren Wald flogen, kurz über den Baumwipfeln, passierte das Malheur.

    Eine plötzliche Windbö brachte den Schlitten zum Schlingern und Marianne, die gerade vor Freude etwas herum hüpfte, kullerte über den Rand und plumpste vom Schlitten.


    Madita schrie auf, versuchte noch, nach Marianne zu greifen.

    Der Weihnachtsmann leitete sofort eine Rettungsmaßnahme ein, schoß mit dem Schlitten nach unten, um so das Mädchen noch mit dem Schlitten aufzufangen.


    Marianne aber, die ja wie bekannt, immer und überall herum kletterte, war in einer hohen Tanne hängengeblieben und rutschte und kletterte langsam abwärts.


    Kaum war sie am Boden, landete auch schon der Schlitten neben ihr.

    Die Passagiere wollten schon aussteigen, da sahen sie, daß Marianne stocksteif stehenblieb, sich nicht rührte.

    Da bemerkten es auch die anderen. Etwa 50 Meter entfernt stand das fiese Wildschwein und machte sich zum Angriff bereit.


    Juliana hielt Rudolph fest, der sich dem Schwarzkittel entgegenstellen wollte, aber natürlich keine Chance gegen ein wildgewordenes Wildschwein hatte und band die Zügel fest an den Schlitten.


    Mathilde und Madita reagierten intuitiv. Bevor noch das Schwein losrennen konnte, sprangen sie vom Schlitten, machten sich bereit und stellten sich in Position.


    Wie gut, daß sie gerade erst vor ein paar Tagen ihre letzte Karateprüfung absolviert hatten und mental noch so richtig im Kampfmodus waren.

    Das Wildschwein guckte zwar etwas verwirrt, stürmte dann aber auch schon los.

    In dem Moment schnappte sich Juliana Marianne und sprang mit ihr auf den Schilitten.



    Die Wildsau raste auf Mathilde und Madita zu, kam bei den beiden an und sah sich dann unversehens mit etlichen Schlägen, Stößen und Tritten konfrontiert.

    Schlag auf Schlag ging es, die beiden Mädchen wirbelten herum und teilten aus.

    Kurze Zeit später lag das Wildschwein reglos im Schnee.


    „Cool“ krächzte Marianne aus dem Schlitten, die sich, jetzt in Sicherheit, schnell wieder von ihrem Schrecken erholt hatte.

    Frech, wie gewohnt, fragte sie: „ Gibt’s jetzt Wildschweinbraten zu Weihnachten?“

    Dank der langsam abebbenden Anspannung mußten alle befreit lachen.


    Da regte sich plötzlich das Wildschwein, blinzelte böse: „Ihr spinnt doch wohl, mich essen zu wollen. Mit Euch will ich nix mehr zu tun haben, ich wandere aus.“

    Sprach es, stand auf, schüttelte sich und flitzte in den Wald.


    Perplex starrten die vier Mädchen auf die jetzt leere Stelle.

    Konsterniert meinte Madita: „Daß Bären sprechen können, wissen wir ja mittlerweile, aber Wildschweine?“


    „Ok“, vermeldete Mathilde lakonisch. „Dann also wieder Würstchen mit Kartoffelsalat.“

  • Der 22. Dezember von Salonlöwin


    Nachgeschärft


    Samstag, 21.Juni 2025 - Sommersonnenwende - am Rande einer mittleren Großstadt

    Wie viele Menschen mochten an diesem Sommertag in den strahlend blauen Himmel schauen und an Weihnachten denken, überlegte Arnd Boe, als er bepackt mit seinem Fahrrad durch eine lichte Kleingartensiedlung fuhr. Kaum ein Tag würde sich besser für ein Sommerfest eignen als der Tag, an dem die Sonne ihren Höchststand erreichte. Obwohl die Wege zwischen den Gärten versandet waren, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, mit dem Fahrrad hindurchzufahren. In der Ferne hörte er ein Radio und für einen Moment wunderte er sich, warum nicht wie für einen Samstagnachmittag üblich über Fußballspiele berichtet wurde, um sich sogleich an das Saisonende zu erinnern. Stattdessen lief im Radio ein altbekanntes Lied, das offensichtlich nicht nur ihm gefiel, sondern auch dem Radiobesitzer, der den Regler inzwischen weit aufgedreht hatte. Arnd sang leidenschaftlich und lückenhaft mit, während er gleichzeitig verzweifelt versuchte, sich an den Liedtext zu erinnern. Als er jeglichen Gedanken an Alter und Vergesslichkeit weggewischt hatte und kurz abgelenkt war, schlitterte er in eine Hecke und kam beinahe zu Fall. Er blickte an sich und an seinem Rad herunter; glücklicherweise hatten sein Rucksack und die Satteltaschen keinen Schaden genommen, lediglich sein rechtes Knie war aufgeschrammt. Er rief sich zur Ordnung, denn heute ging es nicht um ihn. Als Organisator eines Sommerfests hatte er sich im Hintergrund zu halten und für einen Augenblick dachte er an seine berufliche Versetzung und über den Anlass für dieses Sommerfest nach.

    Gut anderthalb Jahre lag es zurück, dass ihm sein Vorgesetzter auf dem Bürogang begegnet war und ihn mit einer einladenden Geste in sein Büro gebeten hatte. Selbst als langjähriger Mitarbeiter im Kulturamt wusste Arnd die ungewohnt ausladende und freundliche Armbewegung seines Chefs nicht zu deuten, ahnte jedoch, worauf sie hinauslief. Sein Vorgesetzter würde ihm deutlich machen, dass er dieses Mal zu weit mit seiner öffentlichen Kritik am kulturellen Angebot der Stadt gegangen sei. Im schlimmsten Fall drohte ihm eine Strafversetzung ans Ende des Büroganges und anstelle von größeren Events würde er fortan Kleinkunst betreuen. Doch was folgte, hätte er sich nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen können. Der Mann, der bis vor kurzem noch nicht einmal das Dehnungs-E in Arnds Familiennamen erkannte und ihn ausschließlich mit Herrn Bö ansprach, nannte ihn nun vertraulich bei seinem Namenskürzel Abo und erklärte ihm, dass Wahlen bevorständen, die Kassen leer seien und die lokale Politik dringend gute Publicity benötige. Deshalb habe man an höherer Stelle beschlossen, eine Nachbarschaftshilfe ins Leben zu rufen, für die Arnd der richtige Mann sei. Ferner stelle man ihm für seine neue Position ein erstklassiges Lastenrad zur Verfügung, das symbolisch für eine neue Quartierskultur stehe. In seiner Sprachlosigkeit hatte Arnd es gerade noch geschafft, wenigstens diese unsinnige Idee abzuwehren. Mittlerweile hatte er sein im Bauhof zugewiesenes Büro eingerichtet, eine Hausaufgabenhilfe organisiert, einen Schachclub für Rentner ins Leben gerufen und dafür gesorgt, dass das stillgelegte Naturbad unter Leitung einer Behinderteneinrichtung wiedereröffnet wurde.


    Als Arnd das Freibad erreichte, erblickte er als Erstes den Aufsteller, der über das Sommerfest zugunsten der Nachbarschaftshilfe informierte. Dann sah er Bernd, der etwas verloren am Eingang stand, Bekannte begrüßte und ihn ungewohnt umarmte. Sie hatten sich seit dem vergangenen Weihnachtsfest nicht mehr gesehen und kurz erinnerte sich Arnd an den letzten Heiligabend zurück. Wie jedes Jahr hatte er sich am Abend des 24. Dezember zur Weihnachtsparty seines Freundes aufgemacht. Als er am Pepper’s, einer in die Jahre gekommenen Kneipe, ankam, entdeckte er wie all die Jahre zuvor ein DIN A4 großes Poster im Fenster, das einen mit Chilischoten geschmückten Tannenbaum zeigte und ab 22 Uhr „The Hottest Christmas Party In Town“ versprach. Zugegebenermaßen handelte es sich hierbei um die einzige Weihnachtsparty weit und breit, doch an deren Einzigartigkeit und an ihrem Gastgeber zweifelte niemand. Jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, an dem Bernd zu fortgeschrittener Stunde die Schließung seiner Kneipe zum Jahresende verkündete. Der Schock saß tief und Bine, die als Erste ihre Sprache wiederfand, fragte verzweifelt, was nun aus Stammtisch, Sommerfest und Weihnachtsparty werden würde. Er akzeptiere die Kündigung des Pachtvertrags, antwortete Bernd ruhig, um dann noch leiser als bisher hinterherzuschicken, dass er ein Angebot, in seinem alten Beruf als Maschinenschlosser zu arbeiten, erhalten habe und er an seine Rente denken müsse. Noch bliebe ihm genug Zeit dafür. Maja, die inzwischen realisiert hatte, dass es nie wieder eine Weihnachtsparty im Pepper’s geben würde, schluchzte laut und Karsten, der mittlerweile am anderen Ende des Landes lebte und jedes Jahr nur für die Weihnachtsfeier zurückkam, reichte ihr ein Taschentuch. Sie saßen bis tief in die Nacht zusammen und versicherten sich, sich wiederzusehen, auch wenn jeder wusste, dass das Verfallsdatum dieses Versprechens nach ihrer Ausnüchterung am nächsten Morgen bereits erreicht sein würde.


    Als alle Gäste des Sommerfests mit Getränken versorgt waren, setzte sich Arnd zu Bernd auf die oberste Stufe des Nichtschwimmerbeckens und sah in das Gesicht seines Freundes, das erholt und beinahe faltenfrei wirkte. Ob Falten verschwinden konnten? Er wusste es nicht, doch unmöglich schien es nicht. Bernd zeigte auf ihr gemeinsames Spiegelbild im Wasser und bedauerte, dass im Freibad Ausschankverbot für Alkohol herrschte. Dieses Problem ließe sich lösen, entgegnete Arnd und holte aus seiner Satteltasche ein Sixpack irischen Biers, das unverkennbar für das Pepper’s gestanden hatte. Als sie die letzte Dose geleert hatten, gingen sie in Richtung Ausgang. Während sich Bernd mit einem angedeuteten Faustschlag gegen die Brust seines Freundes verabschiedete, zog Arnd aus seinem Rucksack eine leicht geknitterte Papierrolle, auf der eine grüne Baumspitze zum Vorschein kam und überreichte sie grinsend mit dem Hinweis auf ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk.

    Auf dem Weg nach Hause spürte er, wie der Alkohol ihm zu Kopf stieg. Arnd dachte an seinen Chef, den er möglicherweise unterschätzt hatte, an den Nutzen eines Lastenrads und an den vergessenen Liedtext, der ihm nun wieder einfiel und großzügig versprach, dass das Beste vor ihnen läge. Der Mond schien in dieser Nacht außergewöhnlich groß und hell, als wolle er den Weg weisen. Arnd trat kräftiger in die Pedale und spürte wie der leichte Wind seine Müdigkeit vertrieb und plötzlich fühlte er eine unendliche Dankbarkeit für die Freiheit, die ihm sein Beruf bot.



    Nachlese

    Die Geschichte ist meiner Fantasie entsprungen, doch das Pepper’s und Bernd haben tatsächlich existiert, nur unter anderem Namen. Auch das jährliche Sommerfest mit einer Spendenaktion für einen wohltätigen Zweck und die Weihnachtsparty, die ich nie besucht habe, haben stattgefunden. Vor einigen Jahren wechselte der Inhaber der Kneipe und die einzigartige Atmosphäre und das Stammpublikum gingen verloren. Auch mich zog es nicht mehr dorthin. In diesem Jahr wurde der Kneipenbetrieb dann endgültig wegen Zahlungsschwierigkeiten eingestellt. Die Zeit vergeht, was bleibt, sind meine Erinnerungen an einen warmherzigen Menschen, der mich in seiner Kneipe gastlich empfing.

  • Der 23. Dezember von Kristin Lange


    Wie auch in Muttis Haus die Weihnachtsfreude einkehrte


    Schon den ganzen Dezember hindurch klatschen Tiefausläufer aus dem Norden Muttis kleinem Haus den Regen um die Ohren. Draußen ragen kahl und struppig die Zweige des Lebensbaums über den Nachbarszaun. Die glänzenden Erinnerungen, Düfte und Lieder, mit denen Mutti im Vorjahr den Baum so freudig schmückte, holten übers Jahr die Elstern und Spatzen. Was die Vögel verschont haben, das trugen die Herbststürme mit sich davon.


    Struppig sieht es auch auf Muttis Kopf aus. Mutti seufzt und wendet sich von ihrem Zerrbild im Milchtopf ab. Stellt den Topf aufs Abtropfgestell, Nase nach unten. Sitzt dann im Nachthemd am Küchentisch, schlürft ihre Abendmilch mit Honig, die auch heute Nacht vermutlich nicht gegen den schlimmen Husten helfen wird, und betrachtet die breiten, weißen Muttifüße auf den nackten Fliesen, die merkwürdig geformten Zehen. Wie soll da Weihnachtsfreude aufkommen?


    Vielleicht, wenn sie selbst die Freude in die Welt bringt? Viel Zeit dafür ist nicht mehr, morgen ist Heiligabend. Statt schlafen zu gehen, beginnt Mutti Teig zu kneten, sieht sie alle vor sich, wie sie durcheinanderreden und lachen, den Mund voll mit Gewürzkringeln, Vanillekipferl, Sternen mit Zuckerperlen darauf ­… Aber der Teig wehrt sich, macht sich hart und rissig. Sowieso sind weder Zuckerperlen noch Vanillearoma im Haus. Gegen Mitternacht schleudert Mutti den Teigbatzen mit einem Fluch auf den Küchenboden. Überhaupt, wer soll die Plätzchen eigentlich essen? Die Tochter wohnt in Remscheid. Und der, der schon so lange hinter dem Mond wohnt, der wohnt – nun ja, hinter dem Mond. Soll sie sich mit dem Gebäck auf den Marktplatz stellen?


    Mutti weint ein bisschen. Dann weint sie noch ein bisschen, dann putzt sie sich die Nase.

    „Gleich kommt die Fürsorge“, flüstert sie.

    Die Fürsorge, ja. Mutti lächelt. Jugendamt heißt das heute wohl. Mit der Fürsorge drohten die Eltern einst zum Spaß, wenn die Kinder nicht ins Bett wollten. Mutti stellte sich die Fürsorge damals als hagere, streng blickende Dame mit grauem Dutt vor, die eines Tages vor der Tür stehen und den Eltern zeigen würde, wie man Mutti und den kleinen Bruder richtig erzieht.


    Mutti hockt sich hin, trennt einen Teigkrümel vom Batzen ab und legt ihn dem Weberknecht hin, der seit Jahren in der Ecke hinter dem Gummibaum wohnt.

    „Keksteig, Keksteig“, murrt der Weberknecht – so wie er stets murrt, über alles, was Mutti ihm anbietet, eine Rosine, eine Haferflocke, ein Stückchen Scheiblette – und zieht sich in den Schatten des Pflanztopfes zurück.


    In dieser Nacht kann Mutti nicht schlafen. Das liegt zum einen am Husten und zum anderen an einer Idee, die ihr nicht aus dem Kopf will – eine seltsam tröstliche Vorstellung davon, wie sie, Mutti, einfach im Bett liegen bleibt. Für immer! Wie irgendwann zwischen den Jahren die Tochter an der Tür klingelt und dann, als niemand öffnet, die Tür aufbrechen lässt … Werden nicht viele alte Menschen in ihren Betten, Sesseln, Badewannen gefunden? Kalt und starr und viel zu spät? Und bereuen dann die Kinder nicht, dass sie so selten kamen und nach Mutter oder Vater sahen?

    Bald graut der Morgen. Tapfer bleibt Mutti liegen, obwohl sie dringend auf die Toilette müsste. Und noch einen Haken hat ihre schöne Fantasie: Es ist eine Fantasie. Die Tochter wird nicht kommen. Niemand wird –

    Es klingelt.


    Zuerst will Mutti nicht aufstehen. Sie hält die Luft an und spitzt die Ohren. Es klingelt wieder, diesmal länger, nachdrücklicher. Mutti rappelt sich auf, tappt durchs ungeheizte Schlafzimmer und den zugigen Flur und öffnet. Eine kleine, rundliche Frau unbestimmten Alters steht da und lächelt Mutti an. Ihre Haare stehen ihr feucht vom Kopf ab.

    Mutti will etwas sagen, aber da ist der Blick der Frau schon zu Muttis nackten Füßen gewandert, und ihre Miene wird streng.

    „Aber sofort Puschen an!“, sagt sie.

    Und da, obwohl die Frau so völlig anders aussieht und ihre Stimme so viel wärmer und dunkler klingt, als Mutti es sich immer vorgestellt hat, erkennt Mutti sie, und das Herz schlägt ihr bis zum Hals.

    Es ist die Fürsorge.


    Mutti hat ihre Hausschuhe angezogen, war auf der Toilette und eilt zurück zu ihrem Besuch. Die Fürsorge sitzt am Küchentisch, blickt um sich – ein wenig missbilligend, wie es Mutti scheint – und sieht aus wie jemand, der vielleicht gern Kaffee hätte. Sogleich macht sich Mutti an der Maschine zu schaffen.

    „Was ist das da unten eigentlich?“, fragt die Fürsorge, als Mutti zwei Becher mit dampfendem Kaffee, dazu Milch und Süßstoff, auf den Tisch stellt.

    Mutti folgt dem Blick der Fürsorge und spürt, wie sie rot wird. „Plätzchenteig“, murmelt sie.

    Die Fürsorge steht auf, klaubt den Teig vom Boden und bringt ihn zum Tisch. Mit leicht angewiderter Miene zupft sie Krümel und Staubflusen von dem Batzen in ihrem Schoß, trinkt zwischendurch von ihrem Kaffee.

    „Sind Zuckerperlen im Haus?“, fragt sie. Sie schaut auf und in Muttis Gesicht. „Vanillearoma? Lebkuchengewürz? Irgendetwas?“

    Mutti schluckt und schweigt.

    Die Fürsorge kippt den letzten Schluck Kaffee hinunter und steht auf. „Es ist Heiligabendmorgen, neun Uhr dreißig“, sagt sie. „Ziehen Sie sich an, wir haben Arbeit vor uns.“ Sie seufzt leise. „Viel Arbeit.“


    Acht Stunden später glänzt und blitzt Muttis Stube. Den ganzen Tag über haben die beiden Frauen gebacken und aufgeräumt, den Müll hinausgetragen, Pfandflaschen und Altglas in die Abseite verbannt und Staub gesaugt – sogar auf den Fußleisten und an der Decke. Selbst die Türen hat Mutti abgeseift! Zuletzt geht sie mit einem feuchten Lappen über die Bilderrahmen auf dem Sims. Aus dem Rahmen ganz rechts schaut der zu ihr empor, der jetzt hinter dem Mond wohnt, aber mit einem ernsten und irgendwie förmlichen Blick, den er zu Lebzeiten nie trug, jedenfalls nicht, wenn er Mutti anblickte.


    Die Fürsorge verteilt eine Handvoll Teelichter auf der Anrichte und setzt auch einige zwischen die Kakteen auf der Fensterbank. Als sie damit fertig ist, klingelt es wieder an der Tür, und wieder geht Mutti hin, um zu öffnen. Vor der Tür stehen drei Männer.

    Und die erkennt Mutti sofort. Weil sie genau so aussehen, wie Mutti sie als Kind vor sich gesehen hat: hochgewachsen, die langen Gestalten etwas gebeugt in den regengrauen Gewändern, die Köpfe umhüllt von Wolkendunst. Nur die Augen der Männer, die hat sie sich nicht so strahlend vorgestellt.

    „Fröhliche Weihnachten“, sagt der erste Mann. Er ist etwas außer Atem, denn er schleppt einen großen Topf vor sich her. „Wir haben Hühnersuppe mit.“

    „Und Hustensaft“, sagt der zweite und hebt einen kleinen Plastikbeutel hoch.

    „Und Glühpunsch und Aquavit“, sagt der dritte, der mit einem noch größeren Topf beladen ist, einem richtigen Kessel. „Müsste aber noch mal kurz auf den Herd. Also, der Glühpunsch jetzt.“

    „Jau“, sagt der erste Mann. „Die Suppe auch.“ Und dann, als ob es nötig wäre, sich vorzustellen: „Wir sind die Tiefausläufer aus dem Norden. Können wir reinkommen?“ Er schaut skeptisch zum Himmel. „Soll noch ordentlich was geben heute Nacht.“


    Zu den ersten Gästen gehören auch einige Geister der Vergangenheit. Sie flattern durcheinander, kicherig und aufgedreht. Die Geister der Zukunft dagegen sind eher träge und schweigsam, dabei aber hübsch durchscheinend, und Mutti und ihre Gäste machen sich einen Spaß daraus, in sie hineinzugreifen und sich in ihrer Mitte die Hände zu schütteln oder mit Glühpunsch anzustoßen. Etwas verspätet trifft die Langeweile ein, eine recht farblose, dafür aber umso kräftiger parfümierte Person, die ankündigt, sich heute einmal vergnügen zu wollen, aber so richtig. Zwei Schneemänner von der Art, wie Mutter sie als Kind baute, mickrig und unförmig, mit Nasen aus krummen Zweigen statt aus Möhren, weil immer dann, wenn Mutti einen Schneemann bauen wollte, keine Möhre da war.

    Und viele, viele andere. Bald ist Muttis Stube voller Gäste. Nach der Hühnersuppe und Muttis gar nicht so üblen Plätzchen werden die Möbel beiseite geräumt, um Platz zum Tanzen zu schaffen. Versonnen schaut Mutti zu, wie die Tiefausläufer aus dem Norden die Tische und Stühle rücken, sich dabei lachend Anweisungen zurufen – und wie es wohl wäre, denkt Mutti, wenn einer der Tiefausläufer sie … oder sie den zweiten … oder gleich alle drei, wo sie sie schon mal zusammen hier hat? Und die Augen dieser grauen Männer so strahlen? Und Muttis Wangen sich so anfühlen, wie die Bäckchen der Langeweile nach zwei Bechern Punsch aussehen?

    „Ist nur Spaß“, sagt Mutti leise. Sie ist ans Fenster getreten, sieht durch die verhalten fallenden Flocken zum Mond hinauf und haucht ihm einen Luftkuss zu.


    Und Spaß, den hat Mutti an diesem Weihnachtsabend! Die Geister der Zukunft erweisen sich als eine nicht durchgehend miserable Kapelle, und einer der Tiefausläufer zieht Mutti nun vom Fenster fort und wagt eine Polka mit ihr. Die Langeweile und die Fürsorge probieren einen Tanz, den sie in einem amerikanischen Gangsterfilm gesehen haben wollen und bei dem man barfuß oder wenigstens in Socken sein und die Hände ein ums andere Mal in eleganten Bewegungen vor der Nasenspitze vorbeiführen muss. Die Schneemänner versuchen sich an einem Kasatschok, fallen aber zum Johlen und rhythmischen Klatschen der Zuschauer immer wieder um und verlieren ihre Nasen. Sogar der Weberknecht ist aus seiner Ecke hervorgekrochen und schwingt seine acht Tanzbeine in einer irren Tarantella.


    „Ist es nicht wundervoll, dass wir uns endlich richtig kennenlernen?“, fragt Mutti ihn zu vorgerückter Stunde. „Nach all der Zeit, die wir zusammen wohnen? Wie viele Jahre sind es jetzt eigentlich?“

    Längst haben sie Brüderschaft getrunken, Mutti mit dem Hustensaft, auf den sie vorsichtshalber umgestiegen ist, der Weberknecht mit einem Klaren. Er hat sich als lustiger Bruder entpuppt, als großartiger Erzähler von Anekdoten aus seiner Jugend, über die Mutti nur staunen kann.

    „Ich bin jedes Jahr ein anderer“, sagt der Weberknecht.

    Zum zigsten Mal kneift Mutti sich in den Arm, aber nein, sie träumt nicht. Das Fest, die Gäste, ihre Gesichter und das Lachen, die Musik, sanfter und gedämpfter jetzt, als werde auch sie allmählich müde, die Lichter und der Duft von Punsch und Hühnersuppe über allem, und dass Weihnachten ist und draußen der Schnee in immer dichteren Flocken vom Himmel fällt: Es ist wahr. Es ist alles, alles wahr.

  • Der 24. Dezember von Blanche


    Die Nacht vor Weihnachten


    Müde starrte Janet auf den blinkenden Cursor auf dem Bildschirm ihres Computers. Ein leeres Blatt. Seit mittlerweile sieben Jahren arbeitete Janet in der Redaktion der Eulen-Post. Bis morgen müsste sie das Editorial geschrieben haben. Nach dem Volontariat bei einer örtlichen Zeitung hatte sie einen Teilzeit-Job in ihrer Lieblingszeitschrift ergattert. Langsam hatte sie sich hochgearbeitet und seit etwa einem Jahr war sie Chefredakteurin.


    Die Eulen-Post erschien monatlich und war die größte Zeitung für Neuerscheinungen im Buchbereich. Dabei legte die Redaktion seit einigen Jahren besonderen Wert darauf, nicht nur die klassischen, etablierten Verlage zu empfehlen. Bewusst wurde darauf geachtet, auch kleine, unabhängige Verlage aufzunehmen. Ganz neu war im laufenden Jahr auch eine Rubrik für Self-Publish-Autor:innen aufgenommen worden. Und neben der Print-Ausgabe erschien zusätzlich zum Jahresende eine Online-Sonderausgabe mit den besonderen Empfehlungen und Aus- und Rückblicken.


    Täglich erreichten dutzende Nachrichten die Redaktion. Buchempfehlungen, Anfragen, Angebote zu Rezensionsexemplaren… All das nahm so viel Zeit in Anspruch, dass eines auf der Strecke blieb: Das Lesen. Die Qualität der Beiträge sank, wurde oberflächlicher, um weiterhin die gleiche Anzahl an Ausgaben zu schaffen.


    Und das machte sich bemerkbar. Die Verkaufszahlen der Eulenpost waren rückläufig. Immer weniger User gaben Geld für etwas aus, das in Zeiten von Tiktok und Instagram nur einen Klick entfernt war.


    Janet rieb sich die Stirn. 22:59, 23.12.2024 las sie unten rechts auf ihrem Computer. Ihre Smartwatch hatte längst aufgegeben, sie an Bewegungsminuten zu erinnern. Auf ihrem Handydisplay waren zahlreiche ungelesene Nachrichten von Signal in der Vorschau. “Wie lange musst du heute arbeiten?” “Fred ist beim Warten auf dich eingeschlafen, er hatte gehofft, dass du ihm noch eine Geschichte vorliest. Ich hoffe, du bist bald zu Hause.” David war ein so geduldiger Partner. Seit einem Jahr, seit ihrer Beförderung, übernahm er die Kindererziehung ihres gemeinsamen Sohnes alleine.


    Die meisten Menschen lagen zu Hause gemütlich auf ihrem Sofa, oder waren anderweitig beschäftigt. Sie dachte kurz an ihre Freundin, die vor kurzem die Nachtschicht auf der Intensivstation begonnen hatte. Vier Nächte lagen vor ihr. Janet schloss kurz die Augen. Das war wenigstens eine sinnstiftende Arbeit. Menschen versorgen, ihnen helfen, so gut es geht. Sie schloss für einen Moment die Augen. Was tat sie hier eigentlich? Sie würde über Nacht sowieso nicht fertig werden.


    Plötzlich zuckte Janet zusammen. Eine Tür war ins Schloss gefallen. Was war da los? Ihr Herz klopfte schneller, als ihr alle möglichen Szenarien durch den Kopf schossen. Ein Einbrecher? Ein Kollege, der etwas vergessen hatte?


    Mit hämmernden Herzen stand Janet auf. Ihr Knie knackte und erst jetzt merkte sie, wie steif sie geworden war. Auch ihr Rücken meldete sich, wie um zu sagen: Kümmere dich mal mehr um dich. Sie schob den Gedanken beiseite, als sie aus ihrer Bürotür vorsichtig in den Flur spähte. Nichts zu sehen. Sie blinzelte gegen die Dunkelheit des Ganges, bis sie das leichte Flackern bemerkte, das durch die Glastür der kleinen Büroküche stammte. Einen Moment stockte sie. Das sah aus… wie eine Kerze? Verdammt, hatte da drin etwa jemand eine Kerze angelassen und diese war jetzt umgefallen und hatte etwas in Brand gesteckt?

    Ihre Schritte beschleunigten sich, als sie zur Tür stürzte und sie aufriss.

    Dann erstarrte sie.


    Eine Kerze brannte auf dem Tisch. Daneben stand ein Teller mit Plätzchen. Eine Tasse Tee dampfte verführerisch und erfüllte den Raum mit einem wunderbaren Duft. Janet versuchte für einen Moment, die Szene vor sich aufzunehmen und ihr einen Sinn zu geben, als sie die Gestalt am Fenster bemerkte.

    Ein langes, hellblaues Kleid reichte der zierlichen Gestalt bis zum Boden.

    “Hallo Janet, möchtest du eine Tasse Tee mit mir trinken?", begrüßte die dunkelhaarige Frau Janet mit einem Lächeln.

    Janet blinzelte dümmlich und runzelte die Stirn. “Wer…” sie musste sich räuspern. “Wer sind Sie? Und mit Verlaub, wie sind Sie herein gekommen? Was machen Sie hier?”

    Die Frau lächelte weiterhin. “Ich bin für dich her gekommen. Du wirkst, als könntest du eine Pause gebrauchen.”

    Janet schüttelte den Kopf. “Wenn Sie jetzt gehen, dann verzichte ich auf eine Anzeige wegen Einbruchs und ich rufe auch nicht die Polizei.”

    “Meinst du, die Polizei kommt wegen eines Geistes?”

    Janet seufzte. “Was reden Sie da. Ich sehe Sie doch leibhaftig vor mir stehen.” Mutig ging Sie einen Schritt in den Raum hinein. Der Duft war wunderbar. Rose… und Marzipan. Ihr Lieblingstee.

    “Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht. Ich bin hier, um dich an die Vergangenheit zu erinnern.”

    “Der Geist der… Was? Wollen Sie hier so ein Charles Dickens Ding abziehen?” Janet schüttelte den Kopf.

    “Jetzt setz dich doch einfach und atme tief durch. Und dann erzähl mir, warum du so spät noch in der Arbeit bist, anstatt bei deiner Familie zu Hause.”

    Für einen Moment war Janet noch sprachlos. Dann seufzte sie und schloss für einen Moment die Augen. Sie musste träumen. So ein Unsinn. Doch die Müdigkeit übermannte sie und sie setzte sich auf den Stuhl, der einladend neben der Teetasse stand.

    Die Frau - der Geist? - trat neben sie und setzte sich ebenfalls. “Wenn du nicht aufpasst, wirst du verlieren was dir wichtig erscheint. Und du hast verloren, was dir einst viel Freude bereitet hat.”


    Janet sah der Dampfwolke zu, die aus ihrer Tasse stieg. Stimmte das? Sie tat doch so viel für ihre Familie. Und für die Zeitschrift. Und überhaupt.

    Erneut sprach die Frau. “Lass mich dir zeigen, was ich meine.” Sie wies in Richtung der Tür. Janet wandte den Kopf. Das Licht hatte sich verändert und anstelle des Flurs war plötzlich ein Wohnzimmer zu sehen. Licht schimmerte und ein Kind lachte. Wie an einem Faden gezogen, erhob sich Janet wieder und ging langsam auf die Tür zu. Neugier? Unglaube? Was auch immer es war, etwas zog sie magisch an.


    Ein jüngeres Kind saß mit einem Buch in einem sehr bequemen Sessel. Janet erinnerte sich an diesen Sessel. An den ganzen Raum. Es war das Wohnzimmer ihrer Großmutter. Sie ließ den Blick über den Weihnachtsbaum schweifen. Als Kind hatte sie die ganzen Weihnachtstage nur gelesen. Alle neuen Bücher waren direkt verschlungen worden. Das war noch eine Zeit gewesen…

    Der Geist der vergangenen Weihnacht trat neben sie. “So lange Zeit hast du die Welt um dich herum ausgeblendet und deine Liebe zu Büchern entdeckt. Wann hat das aufgehört?"

    Janet musste für einen Moment überlegen. “Seit ich nichtmehr aussuchen kann, was ich lese. Ich muss auf Abruf das lesen, was neu ist. Was wir für die Zeitung benötigen… Viele Bücher bleiben dabei aber liegen. Ich bin Abends oft so erledigt, dass ich es nicht schaffe ein Buch aufschlagen. Und natürlich ist da noch Fred. Und David. Um beide muss ich mich abends kümmern.”


    “Aber das tust du nicht”, sagte eine andere Stimme und Janet entdeckte einen Mann im mittleren Alter auf der anderen Seite des Raumes. “Du bist hier. Es ist spät Abends, kurz vor Weihnachten, und du bist nicht bei denen, die dir wichtig sind.”

    Er trat näher. Janet wollte gerade argumentieren, doch er schüttelte den Kopf. “Ich bin der Geist der gegenwärtigen Weihnacht. Du kannst mir nichts erzählen.” Die Szene um sie herum veränderte sich. Sie erkannte ihr eigenes Wohnzimmer. David saß auf einem der Sessel, Brille leicht schief und die Augen geschlossen. Ein Buch lag auf seinem Bauch. Er musste eingeschlafen sein, während er noch auf sie gewartet hatte. Sein Handy lag neben ihm, der Chat mit ihr offen.

    Früher in ihrer Beziehung waren sie oft zusammen so da gesessen. Beide in ihren Sesseln, mit Decke und Buch. Wann war das zuletzt der Fall gewesen? Auch, dass sie etwas gelesen hatte, einfach nur weil sie wollte, und nicht weil es für die Arbeit war?


    Janet ließ den Kopf hängen. Es stimmte. Sie sollte zu Hause sein. Aber die Ausgabe musste morgen fertig sein. Die digitale Version der Weihnachtseule erschien immer am 24. Dezember, passend zur Bescherung. Es war die erste Ausgabe unter ihrer Leitung. Das konnte nicht schief gehen.

    “Ich wollte ja nach Hause. Aber ich bin einfach nicht früher dazu gekommen, alles fertig zu bekommen. Und meine Mitarbeitenden wollte ich auch nicht länger da behalten als nötig.”

    “Du musst lernen Hilfe anzunehmen.” Eine dritte Stimme sprach und eine ältere Dame trat hinter ihr in den Raum. “Sonst wirst du es bereuen.”


    Plötzlich war David verschwunden. Auch der Weihnachtsbaum, und einige der Möbel. Allgemein wirkte der Raum plötzlich karg und unbewohnt. Ein Bild stand auf einem Sideboard und Janet starrte darauf. Ein junger Mann war zu sehen, zusammen mit einem gealterten David. Ein Studentenhut zierte den Kopf.

    “Weil du so viel arbeitest und eine Deadline halten musstest, hast du seinen Uniabschluss verpasst”, erklärte die ältere Dame. “Niemand wird mehr auf dich warten, weil andere Dinge immer wichtiger waren.”

    Janet schwieg erschüttert und starrte auf das Bild. War sie wirklich so schlimm geworden? Ja, sie arbeitete viel. Aber so schlimm? Dabei hätte sie es nicht so weit kommen lassen müssen. Ihr Team hatte angeboten, beim Feinschliff zu helfen. Aber sie hatte abgelehnt, ihr eigener Perfektionismus wollte allen zeigen, dass sie die Stelle zurecht bekommen hatte.

    Vielleicht war es an der Zeit, nicht mehr nur an den alten Sachen festzuhalten? Sie lächelte die drei Geister an. “Ihr habt recht. Ich sollte mich wieder mehr auf mich besinnen und nicht auf das, was ich glaube, dass andere von mir erwarten.” Sie sah sich um und während sie sich drehte, verschwand der Raum um sie herum und sie stand im Flur der Redaktion.


    Sie hörte einen Schlüssel in der Tür. Josefine, die beinahe so lange in der Redaktion arbeitete wir Janet selbst, öffnete vorsichtig die Tür und lächelte unsicher. “Ich war auf dem Rückweg von einer Weihnachtsfeier und habe gesehen, dass hier noch Licht brennt. Da dachte ich… naja. Ich weiß, du hast mich weg geschickt. Aber du solltest auch nicht mehr hier sein.”

    Janet lächelte und winkte ab. “Das sollte ich wirklich nicht. Und weißt du was? Ich gehe jetzt auch. Und im Zweifelsfall, gibt es dieses Jahr keine Weihnachtseule, sondern eine Silvestereule.”

    Josefine starrte sie an. “Im Ernst? Du hast so viel Arbeit schon da rein gesteckt!”

    “Ich weiß. Aber… Ich glaube, ich sollte dringend an meinen Prioritäten arbeiten.”

    “Das habe ich dir schon ein paar Mal gesagt. Was ist passiert, dass du das jetzt plötzlich einsiehst?”

    “Ach… Sagen wir einfach, ich sollte wieder mehr lesen, worauf ich Lust habe, und vielleicht den einen oder anderen Klassiker. Nächstes Jahr gibt es auf jeden Fall eine Sonderausgabe zu Charles Dickens.”


    In diesem Sinne wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest mit vielen Büchern und einen guten Rutsch ins neue Lesejahr 2025!