Der Büchereulen-Adventskalender 2024

  • Der 1. Dezember von Tom


    Ohne Dich


    Als Tatjana an diesem Morgen im Oktober sehr früh und deshalb noch im Stockdunkeln erwacht, ist ihr sofort bewusst, dass etwas nicht stimmt. Sie spürt, dass Carlo zwar neben ihr liegt, aber als sie in diesem Augenblick instinktiv den Atem anhält und dann lauscht, ist es still - sehr viel stiller, als es sein sollte. Während einem Teil von ihr klar wird, was das bedeuten kann, und ein anderer Teil von ihr diesen Gedanken mit aller Macht zurückzudrängen versucht, wird sie von einer Gänsehaut geflutet, beginnt sie zu zittern, fühlt sie, wie ihre Kopfhaut spannt. Sie tastet hastig mit der linken Hand nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe und mit der rechten kurz darauf viel vorsichtiger nach ihrem Mann, ihrem geliebten Carlo, ihrem Ein und Alles, dem Kern und Zentrum ihres Daseins. Sie berührt seine Wange, dann seinen Hals.


    Er ist kalt.


    *


    „Carlo sitzt auf einer Wolke und schaut uns zu“, sagt Melanie. „Er passt auf dich auf und wartet dort

    auf dich.“

    Tatjana blickt kurz zu ihr und danach, wie Melanie auch, zu Carlos großformatigem, gerahmten Foto,

    das neben der Küchentür hängt und ihn zeigt, wie er in Badeshorts grinsend an einem Strand auf

    Kassandra steht und einen glitschigen Oktopus in die Höhe hält. Sie konzentriert sich sofort wieder

    darauf, den Teig gleichmäßig auszurollen. „Glaubst du das wirklich?“, fragt sie dabei leise.

    Ohne hinzusehen, weiß Tatjana, dass Melanie den Kopf schief gelegt hat. Das macht Mel immer,

    wenn sie sich unsicher ist oder ihr etwas Peinliches passiert ist oder sie sich nicht im Klaren darüber

    ist, ob sie vielleicht einen Fehler gemacht hat. Tatjana liebt ihre kleine Schwester sehr, aber diese

    Naivität nervt sie manchmal. Nein, sogar ziemlich oft.

    Sie greift nach der Plätzchenform für einen Flamingo, obwohl man den Teig irre schwer aus der Form

    bekommt. Da liegen neben den Klassikern wie Tannen, Sternen, Weihnachtsmännern und Rentieren

    außerdem Hasen, Rennautos, Ampelmännchen und solche Dinge, und sogar eine Form für Baby

    Yoda. Irgendwie ist ihr danach, heute Plätzchen in möglichst unweihnachtlichen Konturen

    auszustechen. Carlo hat Weihnachten geliebt, hat sich schon ab Anfang November auf das Fest

    gefreut, und er gehörte zu den wenigen, die nicht entrüstet waren, weil bereits im September

    Dominosteine und Spekulatius in den Supermarktauslagen zu finden waren; ganz im Gegenteil. Und

    er mochte Kekse am liebsten in den richtigen Formen.

    Verdammt. Sie denkt an ihn im Präteritum.


    Etwas tropft auf den Plätzchenteig.


    Mel und sie haben ihren kleinen Bruder verloren, das ist zwar viele Jahre her, blieb aber sehr lange

    präsent, ist es manchmal natürlich heute noch. Sie wusste also, wie hart es ist, wenn man auf

    jemanden verzichten muss, den man sehr geliebt hat und immer noch liebt. Doch sie hat nicht

    ansatzweise auch nur geahnt, wie hart es tatsächlich werden kann.

    Tatjana hebt ihre Hände in die Höhe und geht zur Spüle, um sich das Mehl und die Teigklümpchen

    abzuwaschen.

    „Ich brauche eine Zigarette“, sagt sie.


    Auf dem Balkon ist es feuchtkalt, und es nieselt ein bisschen, aber sie mag die kitzlige Nässe im

    Gesicht. Die neblige Bewölkung hängt tief über der Stadt, berührt beinahe die Dächer der

    fünfstöckigen Gründerzeithäuser, und selbst dort, wo kein Nebel ist, sieht es aus, als läge ein

    Weichzeichner über allem. Viele Fenster und Balkone sind mehr oder weniger festlich geschmückt.

    Ein paar Dutzend Meter weiter, wo die Wohnstraße die Hauptverkehrsstraße kreuzt und eine

    Handvoll Geschäfte den Online-Tsunami überstanden hat, hängen Lichterketten zwischen den

    Häusern, und auf der Fahrbahn spiegelt sich ihr Licht in der Nässe. Wenn Carlo jetzt neben ihr

    stünde, würde er sich vorbeugen, die Dekoration begutachten und kommentieren (er verachtete das

    Blinkibunti, wie er die Farbwechsel und hektischen Flackereien nannte) und er würde dabei glücklich

    lächeln. Hätte gelächelt.


    Sie spürt Melanies Hand auf der Schulter; die kleine Schwester ist ihr leise auf den Balkon gefolgt, das

    hat sie schon immer gemacht, ihr hinterherlaufen. Tatjana greift nach der Hand und drückt sie.

    „Rauchen ist scheiße“, sagt Mel.

    Tatjana nickt. Rauchen ist wirklich scheiße. Sie hatte vor zweieinhalb Jahrzehnten damit aufgehört,

    als Carlo in ihr Leben kam und es auf den Kopf stellte. Nein, er hat es nicht auf den Kopf gestellt,

    sondern auf die Füße, denn erst ab da fühlte sich Tatjanas Leben richtig an. Carlo half ihr, die Kraft

    und das Selbstbewusstsein zu entwickeln, um endlich das zu tun, was in ihr gesteckt hatte, um

    Herausforderungen anzunehmen und sich durchzusetzen, und er machte es sich anschließend zu

    seiner Dauer-Hauptaufgabe, sie bei allem zu unterstützen und zu fördern. Sein eigenes Fortkommen

    wurde bedeutungslos für ihn, ist es aber schon immer gewesen, wie er zu betonen niemals aufhörte.

    Ihr Erfolg war sein Erfolg, ihr Glück war seines.

    Gewesen.


    Großer Gott, würde sie irgendwann aufhören, ihn so schmerzlich zu vermissen? Gibt es eine Zukunft,

    fragt sie sich, in der es nicht andauernd wie blöd wehtut, in der sie nicht in jeder Sekunde sein Fehlen

    spürt, diese Lücke und Leere und diese nicht endenwollende Traurigkeit, die sich genau dort

    befindet, wo er gerade noch war? Für einen Moment fühlt sie sich so, wie sie sich ziemlich oft

    während der vergangenen acht, neun Wochen gefühlt hat: als wäre sie irgendwie eingepackt, als

    hätte sie keinen Kontakt zur Welt um sie herum, obwohl sie in diesem Moment immer noch die Hand

    ihrer Schwester auf der Schulter festhält.

    Tatjana drückt die Zigarette aus und nickt in Richtung Himmel, diesem Einerlei aus Grautönen, hier

    und da von unten beleuchtet. „Meinst du, er sitzt auf so einer Wolke?“, fragt sie. Sie will es nett

    klingen lassen, aber es fällt ihr seit seinem Tod schwer, den Zynismus aus der Stimme zu halten.

    Melanie verzieht das Gesicht, legt den Kopf aber dieses Mal nicht schief. „Das ist doch nur eine

    Metapher“, sagt sie. „Und das weißt du.“

    „Und eine Metapher wofür?“, fragt Tatjana zurück, aber sie will keine Antwort hören, sondern geht

    wieder hinein. Sie muss sich fertigmachen.


    *


    Der Saal ist bis zum letzten Platz gefüllt, wie wahrscheinlich an jedem Abend bis zum zweiten

    Weihnachtsfeiertag, wenn sie das Stück zum letzten Mal in diesem Jahr spielen werden – also in vier

    Tagen. Tatjana wünscht sich, dass jede Inszenierung ständig ausverkauft wäre, aber dieser Wunsch

    ist genauso naiv wie Melanies Metapher mit der Wolke. Die Leute gehen in der Weihnachtszeit in

    Weihnachtsstücke (vor allem in Weihnachtsmusicals), und es gehen viel mehr Leute in

    Weihnachtsstücke als in das restliche Repertoire, so ist das einfach.


    Auf dem Weg ins Theater lief im Autoradio dieser Song aus den Neunzigern, „Ohne Dich“ von Selig,

    mit dieser Zeile „Ich nähte mir einen Bettbezug aus der Zeit, die wir hatten“, und mit diesem Refrain,

    „Es ist so oh-oh ohne Dich, ich will das nicht“, der sie so sehr gepackt hat, dass sie ihr Auto an den

    Straßenrand lenken und sich ordentlich ausheulen musste, obwohl es in dem Lied nur um eine ganz

    normale Trennung geht. Dann ist sie ausgestiegen und hat mit zitternden Fingern eine geraucht, und

    sie hat zum x-ten Mal darüber nachgedacht, ob das alles noch Sinn hat. Ob sie aufhören sollte.

    Mit allem.

    In diesem Moment rief Schleifer an, der Regisseur, und teilte ihr mit, dass Sofie heute ausfällt und

    dass Tatjana als Zweitbesetzung für die Schneekönigin zum Einsatz kommen wird. Ihre Rolle ist

    eigentlich die der Blumenfrau, und Sofie de Bruin hat die Hauptrolle nicht bekommen, weil sie besser

    als Tatjana ist (was nicht der Fall ist), sondern weil sie mit der Intendantin ins Bett geht, aber so ist das am Theater eben.


    Sie hat eine etwas schmalere Figur als Sofie, aber das Kostüm sitzt gut. Es sieht großartig aus und es

    fühlt sich großartig an. Während sie eingekleidet und geschminkt wird, denkt sie an etwas, das Carlo

    unermüdlich wiederholt hat. „Es geht nicht darum, dich so zu fühlen wie deine Figur. Es geht darum,

    das Publikum glauben zu lassen, dass es so ist.“ Ohne diese beiden Sätze hätte sie während der

    vergangen zwei Monate keinen Abend überstanden, obwohl sie keine bahnbrechende Weisheit

    enthalten, sondern etwas, das jeder gute Schauspieler verinnerlicht haben muss, aber sie sieht Carlo

    vor sich, während sie an diese Sätze denkt, sieht ihn sprechen und lächeln und leuchten und mit

    seiner gesamten Kraft an sie glauben. Und dann wird ihr mit einem Mal klar, dass die eigentliche

    Kraft natürlich nicht von ihm kam, sondern immer schon nur von ihr selbst. Sie begreift, dass sie ohne

    diese Unterstützung auskommen muss. Auskommen will. Auskommen wird.

    Weil sie das kann.


    Und dann geht sie auf die Bühne und haut das Publikum komplett aus den Socken.


    Zum ersten Mal seit der Premiere hat sie das Gläschen nach der Show mitgetrunken, hat sich feiern

    und umarmen lassen, sogar von Käthe, der Intendantin, die dabei ziemlich hin- und hergerissen

    dreingeschaut hat, mal ziemlich fröhlich und mal besorgt. Zum ersten Mal seit zwei Monaten waren

    ihre Gedanken nicht unaufhörlich bei ihm, bei dieser Lücke, diesem trichterförmigen Loch in ihrem

    Leben. Zum ersten Mal konnte sie sich über etwas freuen, und sogar auf etwas – zum ersten Mal

    kommt in diesem Moment, als sie aus dem Bühneneingang auf die Straße tritt, sogar ein ganz leicht

    weihnachtliches Gefühl auf, ein Hauch von Geborgenheit. Sie spürt außerdem die klirrende Kälte; die

    Temperatur muss während der vergangenen drei Stunden ganz schön gesunken sein. Tatjana sieht

    zum Himmel, der klar ist und an dem sie schon nach ein paar Sekunden ziemlich viele Sterne

    erkennen kann.

    Und dann entdeckt sie etwas über sich, in großer Höhe zwar, aber es ist eindeutig da: Eine einzelne,

    kleine, ganz schneeweiße Wolke, die das Licht der Stadt zu reflektieren scheint. Im gleichen Moment

    wird sie von hinten umarmt. Natürlich ist ihr Melanie gefolgt, natürlich war sie heute wie an jedem

    Abend seit dieser Nacht mit ihr im Theater. Tatjana kann sehen, dass Melanie auch nach oben

    schaut, zu der kleinen, weißen Wolke.

    „Siehst du“, sagt Melanie.

    Tatjana lächelt, dreht sich etwas zur Seite und umarmt die kleine Schwester.

  • Der 2. Dezember von Breumel


    Himmelspost auf Umwegen


    Als Anne nach Hause kam, fiel ihr sofort das Paket auf: Mit Sternen aus Glitzerfolie beklebt und mit Schneemännern verziert, stach es aus den unpersönlichen Sendungen hervor, welche sonst unter den Briefkästen von unterbezahlten Paketboten deponiert wurden. Hoffentlich fand das keinen ungeplanten Empfänger! Sie warf einen Blick auf das Adressschild. Falls es einer ihrer Flurnachbarn war, könnte sie es mit hochnehmen. Aber Jan Rosenberg? Nie gehört. Ein Blick auf die Klingelschilder war auch nicht erhellend. Die Adresse stimmte, also hatte sich der Paketdienst wohl entschieden, es einfach abzustellen.


    Am nächsten Morgen stand das Paket immer noch da. Und auch am nächsten Abend. Einerseits freute sie sich, dass ihre Hausgemeinschaft ehrlich zu sein schien, aber es tat ihr auch leid um das liebevoll eingepackte Päckchen. Da hatte sich schließlich jemand wirklich Mühe gegeben! Ob die Adresse falsch war? Kurzerhand rief sie am Handy das Telefonbuch auf, aber dort war niemand mit dem Namen in ihrer Stadt verzeichnet. Was natürlich nichts zu sagen hatte – es gab inzwischen genug Leute ohne Festnetzanschluss, oder zumindest ohne Eintrag im Telefonbuch. Und er konnte ja auch fortgezogen sein. Der Absender war auch nicht hilfreich, da stand nur „Christkind“.

    Ob dieser Jan ein Konto auf Social Media hatte? Der Name war eher ungewöhnlich – dachte sie, aber sie fand eine ganze Reihe von Einträgen. Vielleicht hatte er früher hier im Haus gewohnt? Leider kannte sie ihre Nachbarn nur vom Sehen, mehr als ein freundlicher Gruß war nicht ausgetauscht worden. Zu klingeln wäre da eher aufdringlich. Und bei wem auch?

    Auf dem Weg in ihre Wohnung kam ihr der Zufall zu Hilfe: Eine ältere Frau kam ihr entgegen.

    Anne ergriff die Gelegenheit: „Schönen Tag! Können Sie mir vielleicht sagen, ob hier mal ein Jan Rosenberg gewohnt hat?“

    Die Nachbarin lächelte sie freundlich an. „Herr Rosenberg, ja, das war ein netter junger Mann, der mir manchmal die Einkäufe hochgetragen hat. Der ist vor zwei Monaten ausgezogen. Hat vor ihnen in ihrer Wohnung gewohnt.“

    „Wissen Sie, ob jemand seine neue Adresse hat? Es ist Post für ihn angekommen.“

    „Nein, aber das müsste die Hausverwaltung wissen.“

    „Vielen Dank, da frage ich mal nach. Einen schönen Abend noch!“

    „Ebenso.“

    Jetzt hatte sie eine Spur, der sie nachgehen konnte. Heute war es schon zu spät, aber morgen würde sie dort anrufen. Vorausgesetzt, dass das Paket noch im Flur stehen würde.


    Es stand noch im Flur.

    „Hallo, hier ist Frau Tump. Ich wohne in der Siegenstraße 35 und hätte eine Frage.“

    „Wie kann ich weiterhelfen? Ist mit ihrer Wohnung alles in Ordnung?“

    „Ja, danke, alles bestens. Aber können Sie mir sagen, wie ich meinen Vormieter Jan Rosenberg erreichen kann?“

    „Hat er etwas in der Wohnung vergessen?“

    „Nein, aber hier im Hausflur steht ein Paket für ihn.“

    Kurze Stille.

    „Das ist ungünstig. Das ist wohl vom Nachsendeauftrag nicht erfasst worden. Steht denn ein Absender drauf?“

    „Dummerweise nichts brauchbares.“

    „Ich darf ihnen leider auch nichts zur neuen Adresse sagen. Da können wir nur hoffen, dass sich der Absender bei Herrn Rosenberg meldet und dieser nachschaut.“

    „Könnten Sie ihn vielleicht anrufen und Bescheid geben?“

    „Ich versuche es.“

    „Danke! Dann noch einen schönen Tag!“

    „Ebenfalls!“

    Viel hatte Anne nicht erfahren, aber sie hoffte, dass die Benachrichtigung ankommen würde. Und wenn er nachschauen konnte, war er wohl auch nicht weit weggezogen. Sie hatte jedenfalls getan, was sie konnte, und die Frau von der Hausverwaltung würde ihm schon Bescheid geben.


    Oder auch nicht – das Paket stand drei Tage später immer noch im Hausflur. Entweder sie hatte ihn nicht erreicht, es vergessen, oder das Paket interessierte ihn nicht. Letzteres konnte sie sich allerdings nicht vorstellen. Ob sie nochmal anrufen sollte? Wirklich Lust darauf hatte sie nicht. Aber Moment – die Hausverwalterin hatte doch etwas von Nachsendeauftrag gesagt. Nachdem Anne erst seit zwei Monaten in der Wohnung wohnte, sollte der noch aktiv sein. Kurzerhand nahm sie einen Briefumschlag, adressierte ihn an Jan Rosenberg, Siegenstraße 35, und schrieb einen kurzen Brief:

    „Lieber Herr Rosenberg, im Hausflur ihrer alten Adresse wartet ein Paket auf sie. Wenn ich es in Verwahrung nehmen oder ihnen zuschicken soll, rufen Sie mich doch bitte an. Ihre Nachmieterin Anne Tump“

    Darunter schrieb sie ihre Handynummer. Der Kasten vorm Postamt wurde heute noch geleert, dann würde der Brief morgen, spätestens übermorgen bei Herrn Rosenberg sein.


    Zwei Tage später klingelte ihr Smartphone, und es wurde „Unbekannte Nummer“ angezeigt. Erwartungsvoll nahm sie den Anruf an.

    „Anne Tump“

    „Hallo Frau Tump, hier ist Jan Rosenberg. Sie hatten mir einen Brief geschrieben. Wegen eines Pakets.“

    „Ja, schön dass Sie zurückrufen. Hier steht ein weihnachtlich verziertes Päckchen für sie im Flur. Seit ungefähr einer Woche. Leider hatte niemand ihre Kontaktdaten, und es ist auch kein Absender drauf.“

    Ein kurzes Stocken. „Das muss von meinem Onkel sein. Vielen herzlichen Dank, dass sie mir Bescheid gegeben haben. Können sie es in Verwahrung nehmen, bis ich es abholen kann?“

    Anne freute sich. „Kein Problem. Wie weit wohnen Sie denn weg? Ich kann es Ihnen auch zuschicken lassen.“

    „Nicht nötig, ich bin nicht wirklich weggezogen. Nur in eine eigene Wohnung. Könnte ich Samstagvormittag vorbeikommen?“

    „Wie wäre es gegen 11 Uhr?“ Anne war keine Frühaufsteherin.

    „Gerne!“

    „Dann bis Samstag!“


    Anne war aufgeregt. Sie wusste, dass Jan ein junger Mann war, und die Nachbarin hatte ihn als nett bezeichnet, also hatte sie keine Bedenken. Aber sie war neugierig. Wer war der Mensch, den sie eine Woche lang gesucht hatte? Als es klingelte, eilte sie zur Haustür und drückte den Summer, der die Eingangstür freigab. Türspion? Oder gleich öffnen? Sie entschied sich für letzteres.

    Ein gepflegt aussehender junger Mann kam die Treppe hinauf und lächelte sie an. „Frau Tump?“

    „Sagen Sie Anne, sonst komme ich mir alt vor.“

    „Dann müssen Sie Jan zu mir sagen!“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

    Sie schüttelte sie. Warmer, kräftiger Händedruck – passt! „Möchten Sie auf einen Kaffee hereinkommen?“

    „Ich möchte keine Umstände machen.“

    „Macht keine, ich habe gerade eine Kanne aufgesetzt.“

    „Dann gerne!“

    Sie gingen ins Wohnzimmer. Anne holte zwei Tassen und dann das Paket.

    Als Jan es sah, schluckte er und hatte Tränen in den Augen.

    „Alles in Ordnung?“, fragte sie.

    „Ja. Es ist nur – das Päckchen ist von meinem Onkel, bei dem ich aufgewachsen bin. Er war schon leicht dement und hat wohl die falsche Adresse erwischt. Und vor nicht ganz zwei Wochen ist er verstorben. Er muss es kurz vorher aufgegeben haben.“

    „Das tut mir sehr leid. Aber dann ist es sowas wie ein Weihnachtsgruß vom Himmel?“

    Mit feuchten Augen sah er sie an und lächelte. „So ungefähr! Und es bedeutet mir wirklich sehr viel, dass sie sich die Mühe gemacht haben, mich zu erreichen.“

    Sie lächelte auch, froh über ihre eigene Hartnäckigkeit. „Das war so liebevoll geschmückt, es musste einfach zu seinem Empfänger! Jetzt können sie es an Weihnachten unterm Baum öffnen.“

    Er wirkte wieder etwas bedrückt. „Ein Baum lohnt sich für mich nicht. Mein Onkel war mein letzter lebender Verwandter. Aber sein Paket bringt mir nochmal Weihnachten ins Haus.“

    Anne überlegte. Sie fand Jan ziemlich sympathisch. „Meine Eltern sind an Weihnachten auf Kreuzfahrt, ich bin also auch allein. Und habe keine große Lust, den ganzen Abend Plätzchen essend vorm Fernseher zu sitzen. Vielleicht könnten wir ja gemeinsam essen gehen, oder ins Kino.“

    Leicht ungläubig sah er sie an.

    Jetzt war Anne ihre Direktheit peinlich. „Natürlich nur, wenn sie noch nichts vorhaben.“

    „Das wäre schön.“ Freude erhellte sein Gesicht.

    „Dann müssen wir aber auch Du sagen!“

    „Gerne!“ Er strahlte. Offenbar gefiel sie ihm auch.

    So unterhielten sie sich noch eine ganze Stunde. Und an Heiligabend verstanden sie sich blendend.


    Im nächsten Jahr gab es kein Weihnachtspäckchen vom Onkel, dafür erhielt Jan ein Geschenk von Anne. Und sie eines von Jan. Allein waren sie auch nicht, denn Jan feierte mit Annes Familie, die bald zu seiner geworden war. Geschenke können eben doch glücklich machen …


    Frohe Weihnachten!

  • Der 3. Dezember von kerlie


    Weihnachtszeitwende


    Erster Advent! Klaus-Hermann riss das Kalenderblatt ab und seufzte. Es war mal wieder so weit. Heute galt es, einen klaren Kopf zu behalten. Wenn alles gut ging, dann würden sie heute einen großen Schritt in Richtung Moderne machen und sich zukunftsfähig aufstellen. Der Himmel wusste, wie viele Veränderungen er schon auf den Weg gebracht hatte, aber in letzter Zeit schien ihn das Leben endgültig zu überholen. Hoffentlich ist es nicht zuviel auf einmal, dachte er, während er den letzten Schluck seines nur noch lauwarmen Kaffees herunterkippte. Und dass er langsam zu alt für sowas war, ging ihm auch noch durch den Kopf. Dann machte er sich auf den Weg.


    Um 15.00 Uhr trudelten die ersten Teilnehmenden ein und gegen kurz vor halb vier stellte Klaus-Hermann zufrieden fest, dass der Raum bis zum letzten Platz gefüllt war. Er atmete noch einmal tief durch und trat dann ans Mikrofon. „Liebe Weihnachtsmänner, liebe Weihnachtsfrauen, ich begrüße euch zu unserer diesjährigen Hauptversammlung, diesmal mit dem Schwerpunkt BNE – also Bescherung in Zeiten nachhaltiger Entwicklungen. Zunächst einmal geht mein herzlicher Dank an Klaus-Rudolf, auf dessen Rentier-Zuchtstation wir in diesem Jahr zu Gast sein dürfen.“ Er wies auf den Gastgeber und es wurde kräftig applaudiert. „Gibt es Anträge auf Änderung der Tagesordnung?“ Eine Weihnachtsfrau aus der zweiten Stuhlreihe machte lautstark auf sich aufmerksam. „Ja, hier! Ich stelle den Antrag, dass der Tagesordnungspunkt vier nach vorne gesetzt wird.“

    Klaus-Hermann schaute auf den Zettel in seiner Hand und stellte fest, dass es sich bei Punkt vier um den Antrag handelte, Bescherungen oben ohne durchführen zu dürfen - also ohne künstlichen Bart. Das konnte ja heiter werden. „Die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte richtet sich nach der Reihenfolge der eingegangenen Anträge,“ erklärte er.

    „Das ist mir egal,“ entgegnete die Antragstellerin. „Und wer legt denn eigentlich fest, dass sich die Tagesordnung nach der Reihenfolge der Anträge richtet, hä?“ Noch bevor Klaus-Hermann antworten konnte, schrie die Kollegin Klaudia-Alice aus der vorletzten Reihe „Alte weiße Männer!“ und erhielt tosenden Applaus von allen anwesenden Frauen. Klaus-Hermann spürte die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn. Ein Tumult, noch bevor es ans Eingemachte ging, war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Er bimmelte energisch mit einer goldenen Glocke und erbat sich Ruhe. „Ich danke für Ihren Einwand. Da wir ohnehin alle TOPs bearbeiten müssen, ist die Reihenfolge tatsächlich ohne Belang. Wenn Sie, liebe Weihnachtsfrauen, sich damit wohler fühlen, können wir die Agenda gerne dahingehend ändern.“ Die Frauen im Raum applaudierten, die männlichen Anwesenden tuschelten oder schüttelten die Köpfe.


    Es folgte eine kurze Debatte über die Notwendigkeit des Tragens eines weißen Rauschebartes zur gelingenden Ausgestaltung einer Bescherung, und am Ende war es vermutlich einem jungen Kollegen zuzuschreiben, dass die Frauen mit einer Stimme Mehrheit ihr Recht bekamen. Klaus-Hermann erinnerte sich gut - dieser junge Mann hatte bei seiner Einstellung im letzten Jahr im Personalbogen kein Kreuzchen bei der Geschlechtsangabe setzen wollen. Das hatte einen Aufruhr gegeben! Wie ist die Welt doch bunt geworden, dachte er.


    „Kommen wir zu Punkt zwei der Tagesordnung,“ führte Klaus-Hermann weiter im Programm, „es geht um die klimaneutrale Logistik. Der Kollege Klaus-Robert hat dazu ein Themenportfolio zusammengestellt. Klaus-Robert – du hast das Wort.“

    Der Angesprochene trat ans Mikrofon. „Wir werden in Zukunft nicht mehr umhinkommen, für unsere Rentiere Biofutter anzuschaffen. Es muss darum gehen, die Ernährung unserer Haupttransporteure saisonal und regional auszugestalten.“ „Und wer soll das bezahlen?“ rief ein Weihnachtsmann alter Schule aus der Menge. Scheinbar zu Recht hatte Klaus-Hermann ihn schon im Vorfeld als einen der Rädelsführer im Widerstand gegen die nachhaltige Entwicklung eingeschätzt.

    „Dazu gibt es einen vielversprechenden Lösungsansatz. Ich weiß, dass es insbesondere für die traditionsbewussten Kolleginnen und Kollegen schwer vorstellbar ist, aber ich halte es für dringend notwendig, unsere Rentierflotte um einige E-Schlitten zu erweitern. Das brächte uns nach etwa vier Jahren wieder auf eine schwarze Null. Der Kollege Klaus-Elon entwickelt dazu gerade einen Businessplan, der euch dann nach dem Fest zugehen wird.“ Das Gemurmel schwoll an, scheinbar gab es wilde Diskussionen. Klaus-Hermann bat um Ruhe.


    „Gut, das ist jetzt noch nicht abstimmungsfähig, aber der nächste Punkt ist ebenfalls brisant. TOP 3: Der veränderte Verpackungsanspruch. Unsere Kundschaft besteht immer vehementer auf nachhaltigen Verpackungsmaterialien, zum Teil soll sogar gänzlich darauf verzichtet werden. Da werden Geschenke in Zeitungspapier verlangt, oder gar in Trockentüchern oder Stoffresten. Dazu eine Anmerkung, Klaudia-Eva?“ Die Angesprochene erhob sich. „Ja, das stimmt. Ich habe gesehen, dass es auf zahlreichen Wunschzetteln den Zusatz gibt: Bitte mit wiederverwendbarer oder ganz ohne Verpackung! Das darf nicht sein! Wir sind doch kein Versandhandel!“ Auch um diesen Punkt der Tagesordnung wurde lange gerungen. Letzten Endes stimmte man für den nachhaltigen Verpackungsmodus, allerdings unter der Bedingung, dass die in der Verpackungsbranche tätigen Elfen und Engel eine entsprechende Fortbildung erhalten sollten, um auf die veränderten Bedingungen vorbereitet zu werden. Klaus-Hermann atmete auf – das war aus seiner Sicht das dickste Brett gewesen.


    „Nun zu Punkt vier der Tagesordnung. Und auch da ist der geschätzte Kollege Klaus-Robert wieder der richtige Ansprechpartner.“ Dieser ergriff erneut das Wort. „Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vielleicht nicht allen bewusst, aber das, was wir bei der Bescherung bislang immer als die „warme Stube“ erlebt haben, gibt es nicht mehr. Wir müssen uns dieser Realität stellen und uns in Zukunft wärmer anziehen. Ich bitte daher um die Zustimmung zur Anschaffung von Thermo-Unterwäsche für die Abteilung Auslieferung, finanziert über den Etat `extreme Herausforderungen´. Aus dem Stimmengewirr war vielfach das Wort `arschkalt´ zu hören und folgerichtig gab es hier eine breite Zustimmung. Klaus-Hermann übernahm wieder. „Dann wünsche ich allen Anwesenden jetzt noch viel Spaß beim abschließenden Get-together mit Glühwein und Plätzchen. Der letzte Tagesordnungspunkt wird nun im open-space-Verfahren durchgeführt. Die Kollegin Klaudia-Annina hat einen Markt-der-Möglichkeiten mit zahlreichen Ständen zum Thema nachhaltiges Schenken vorbereitet. Ich kann von hier aus die Angebote mehrerer Umweltkaufhäuser sehen, das wird bestimmt spannend. Der Kollege Klaus-Fabian steht euch für alle Fragen zu den einschlägigen Online-Second-Hand-Verkaufsplattformen zur Verfügung, ich denke, da ist für jeden was dabei. Euch allen einen schönen Ausklang noch und gutes Gelingen für die kommende Zeit! Schöne Bescherungen!“ Sein erleichtertes Seufzen ging im allgemeinen Stühlerücken unter. Puh! Er war durch! Den Mist sollte nächstes Jahr gefälligst jemand Jüngeres machen, fand er. Vielleicht mal eine Frau. Jetzt wollte er nur noch Glühwein. Mit Schuss!

  • Der 4. Dezember von Paradise Lost


    Weihnachtliches Stricken im Winterchalet am kleinen Schottischen Strandberg mit Tee-Buch-Handlung


    Angela war sehr aufgeregt. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie bereits in der Ferne das Ziel ihrer Reise sehen, glaubte sie zumindest. Vor einigen Tagen hatte sie ein Brief eines Anwaltes erreicht, in dem ihr mitgeteilt worden war, dass ein ihr unbekannter gewisser Mr. Veryrich kürzlich verstorben sei, und sie, weil er ganz alleinstehend war, in seinem Testament bedacht hatte.

    „Liebe Angela, ich bin ganz alleinstehend und möchte daher dich in meinem Testament bedenken. Da ich seinerzeit deines Vaters, deines Bruders, deines Neffen, deiner Großmutter ehemaliger Zimmerkumpel war, fühle ich dir gegenüber innigste Verbundenheit und hinterlasse dir mein Chalet im Norden von Schottland. Ich war dort immer gerne im Winter und im unteren Stockwerk hatte eine ältere Dame früher eine Tee-Buch-Handlung, die aber nun auch schon seit ein paar Jahren leer steht. Vielleicht kannst du ja etwas daraus machen...?“

    Nachdem Angela diese Zeilen noch einmal überflogen hatte, steckte sie den Brief wieder ein und bewunderte die schön verschneite schottische Landschaft vor dem Fenster. Die Ortschaft, die sie erreichen wollte, hieß Cosy Snurrftn und lag auf einem kleinen Berg am Meer, nicht weit entfernt von dem Touristenörtchen Loch McNochnLoch.

    Aus dem Radio ertönten plötzlich bekannte Klänge und sie rief dem Taxifahrer zu: „Könnten sie das Radio vielleicht etwas lauter drehen?“ Er tat ihr den Gefallen und obwohl seine Miene fast unbewegt schien, erkannte Angela doch durch den Rückspiegel an seinen gefurchten buschigen Brauen und den heimlich weggekniffenen Tränen in den Augenwinkeln, dass es ihn tief berühren musste, wie sie mit George Michael gemeinsam die traurige Ballade vom „Last Christmas“ sang.


    Angela war von Beruf Modejournalistin in New York und dort sehr erfolgreich gewesen. Doch da ihre Jugendliebe Bob sie wegen einer älteren Frau verlassen hatte, hielt sie dort nichts mehr. Sie würde nun in die urige schottische Natur gehen um eine andere, zufriedenere Frau zu werden. Nicht mehr getrieben von Ehrgeiz und Geld. Sie freute sich und brummte manchmal schon leise zufrieden vor sich hin, wenn sie daran dachte. Nur so zur Übung.


    Als sie schließlich in Cosy Snurrftn angekommen war, sah es dort aus, als ob alles mit Zuckerguss überzogen wäre. Die Häuser und Autos, die Bäume und ein paar Schafe. Alles wirkte wie verzaubert. Während sie sich noch umsah und versuchte sich zu orientieren, hörte sie hinter sich ein lautes POFF. Sie drehte sich überrascht um und sah einen attraktiven rothaarigen Mann im Schnee liegen. Er war offenbar über einen ihrer Koffer gestolpert, die der Taxifahrer ausgeladen hatte, bevor er verschwunden war. „Oh du meine Güte, das tut mir aber leid, haben sie sich verletzt?“

    Er richtete sich wieder auf und schüttelte sich Schnee von den Kleidern und aus seinen wirklich erstaunlich roten Haaren. „Nah Lassie, alles okay bei mir.“ Er betrachtete sie von oben bis unten. „Sie sind doch bestimmt die Erbin vom alten Veryrich, oder?“ Angela bejahte überrascht und lies sich von dem überaus attraktiven und rothaarigen Mann die Koffer abnehmen. „Ich bin Ewan. Mir gehört hier der "Kleine Bauladenmarkt und Werkzeugbedarf um die Ecke", zwinkerte er ihr zu. Angela war sehr froh, dass sie sich doch in ihrer Sprachapp den Kurs „Argggh ChChCh Haggis – Schottland verstehen und lieben“ gebucht hatte, sonst wäre sie vermutlich verloren gewesen, doch so verstand sie jedes Wort des charmanten Ewan perfekt. Er zeigte ihr den Weg zu dem verschneiten Chalet, das von nun an ihr zu Hause werden sollte. Es wirkte ein wenig einsam und verlassen, ein Stück oberhalb des Dorfes auf dem verschneiten LowerthanHigh.


    Der Schlüssel, den Angela erhalten hatte, passte zum Glück und sie betrat mit ihrem sehr attraktiven Begleiter die hölzerne Hütte. Sie erkannte gleich den abgetrennten Bereich, in dem wohl früher die Tee-Buch-Handlung gewesen war. „Hier war früher eine Tee-Buch-Handlung.“, erklärte Ewan. Angela nickte und pustete sich auf die kalten Hände. „Oh, ihnen ist kalt? Warten sie einen Moment.“ Ewan verschwand und Angela hatte Zeit, sich weiter im Haus umzusehen und ging in den ersten Stock. Abgesehen von der Kälte war es sehr gemütlich eingerichtet, kuschlige Kissen und Deckchen überall, Karomuster in allen Formen und Farben. Sie würde nur ein wenig staubwischen müssen, dann war es der perfekte kleine Rückzugsort, von dem sie immer geträumt hatte. Es waren vielleicht 5 Minuten vergangen, da hörte sie unten Schritte. „Ewan, sind sie das?“ „Aye, ich habe ihnen schnell ein bisschen Holz gehackt“. Als sie wieder unten bei ihm war, lagen ungefähr 50 Holzscheite aufgestapelt neben einem großen Kamin in dem Ewan eben ein lauschiges Feuerchen entzündete. Als er damit fertig war, trat er kurz nahe an sie heran. „Willkommen in Cosy Snurrftn“, raunte er und seine tiefe Stimme klang wie Karamell mit Salz in einer Marshmallow Whiskey Fusion.

    Sie wollte ihm noch ein „Danke“ hinterherhauchen, doch da war er bereits draußen im Schnee verschwunden.


    Für die ersten paar Tage war Angela sehr damit beschäftigt ihre Hütte zu beziehen und bei den Einkäufen im Ort die Einheimischen kennenzulernen. All die Menschen hier waren so freundlich und hilfsbereit und waren rührend um ihr Wohlergehen besorgt. Am besten verstand sie sich mit Bonnie, der netten dicken Verkäuferin aus dem „Kleinen Gemüsetempel am Stückchen Land kurz vor der Klippe“. Sie war herzensgut, aber auch eine ziemliche Klatschbase. Sie hatte Angela sofort unter ihre Fittiche genommen und ihr nach Abklärung ihres Familienstandes die besten Junggesellen des Ortes vorgestellt. Ewan war natürlich darunter. Aber es gab auch noch Robert, den Besitzer des „Kleinen Klemmbausteinladens hinter dem Besucherparkplatz“. Er war ein wenig zurückgezogen und grummelig, aber auch ehrenwert, da er das Geschäft nur so lange führen wollte, bis der Sohn seines verstorbenen Bruders zum Manne herangewachsen war und dessen Erbe antreten würde.

    Rory, der starke, hochgewachsene, schweigsame Bauer einer großen „Kleinen Hühnerfarm am Strandweg“ war Angela inzwischen auch schon über den Weg gelaufen. Sie hatte ihn angelächelt, aber er hatte nur den Blick zum Boden abgewandt und heiser etwas vor sich hingeflucht.

    Theoretisch gäbe es noch einen vierten Kandidaten, Jack Jackington, aber von dem riet Bonnie ihr dringlich ab. Er stammte zwar ursprünglich aus diesem Dorf, aber war später nach London gegangen, wo er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden war. Nun war er wieder da, aber Bonnie warnte Angela. Sie hatte von der Nichte der Wäschefrau seiner Mutter erfahren, dass er bereits viel Bauland in der Gegend erworben hatte und dem nun auch seinen Heimatort hinzufügen wollte. „Und das riecht für mich wie eine Muschel, die schon seit 4 Wochen tot offen am Strand liegt und in die ein paar Möwen reingemacht haben!“, ereiferte sich Bonnie, während sie einem Kind einen Spinatlollie reichte. Angela versuchte sie zu beruhigen „Solange ihr nicht verkaufen wollt, kann doch gar nichts passieren.“ Aber Bonnie blieb skeptisch.


    Als Angela mit dem bewohnbaren Teil des Hauses fertig war, widmete sie sich der Tee-Buch-Handlung. Eine sehr schöne und gemütliche Idee. Man konnte dort Tee trinken und in einem Buch lesen. Oder man kaufte Tee und las ein Buch. Oder man kaufte ein Buch und las im Tee. Die Zukunft schien wieder voller Möglichkeiten und Angela war bereit dafür. In ihrer Freizeit hatte sie sich auf ein altes Hobby ihrer Kindheit besonnen und wieder mit dem Stricken begonnen. Die Wolle der Schafe im Ort hatte eine vorzügliche Qualität und so hatte sie sich mit mehreren Knäueln aus dem „Kleinen Wollladen in der Mitte zwischen Berg und Strand“ eingedeckt. Im Haus hatte sie beim Aufräumen ein Paar Stricknadeln entdeckt, die manchmal mysteriös glitzerten, wenn sie sie in die Hand nahm. So verbrachte sie ihre Abende inzwischen oft vor einem gemütlichen Feuerchen mit hochgelegten Füßen und strickte glücklich vor sich hin. Einzig in der Gesellschaft ihres neuen Freundes Ernie, einer Schildkröte, die ihr bei einem Strandspaziergang nachgelaufen war und der sie nun ein Zuhause geschenkt hatte.

    Es war nicht mehr lange bis Weihnachten und daher bereitete es Angela auch großes Vergnügen das Haus vom Dach bis zum Untergeschoss festlich zu dekorieren mit Tannengrün, Kerzen, glänzenden Kugeln, Spitzkohlblättern und rot-weißen Zuckerstangen. Ewan war sogar vorbeigekommen und hatte ihr ein kleines Weihnachtsbäumchen vorbeigebracht, welches nun wohlig-duftend auf einem kleinen Tischchen stand. Dieser Ort war einfach perfekt für ein glückliches Bilderbuch-Weihnachten, dachte Angela, als sie fertig mit dem Schmücken des Bäumchens war. Ernie kaute zustimmend an einem Stück Spitzkohl.


    Doch bereits am nächsten Tag sollte sie bei einer Bürgerversammlung des Ortes eines Besseren belehrt werden. Jack Jackington hatte diese einberufen lassen, um den Bewohnern von Cosy Snurrftn die Pistole auf die Brust zu setzen. Keiner hatte an ihn verkaufen wollen, damit bedrohten sie den großen Deal, den er mit einem reichen exzentrischen Amerikaner am Laufen hatte, der hier in der Gegend einen Themen-Park eröffnen wollte, in dem genetisch veränderte Highlander von Besuchern bestaunt und gefüttert werden konnten. Der Amerikaner wollte nicht länger warten und drohte Jack auszusteigen. So holte Jack schließlich zum großen Schlag aus:

    „Wenn ihr mir eure Grundstücke nicht verkauft, dann lege ich die Fernwärme-Zuleitungen zu eurem Dorf lahm. Dann könnt ihr schöne Weihnachten feiern, ich habe gehört es soll -20 Grad werden. Da könnt ihr euch ein paar warme Gedanken machen!“ Er lachte unangenehm und ging rückwärts zur Tür hinaus, um so lange wie möglich Blickkontakt zu halten.

    Alle waren ratlos und fürchteten sich sehr. Sie trauten Jack zu, dass er diese Drohung wahr machen konnte. Er hatte die entsprechenden Beziehungen. „Wir müssen etwas tun!“, rief Ewan heroisch. „Aber was?!“, antworteten die Anderen verzweifelt. „Jemand sollte den Hammel ordentlich verprügeln!“, rief Bonnie. „Hmmm... ich glaube ich habe eine Idee.“, murmelte Angela leise vor sich hin.

    Sie hatte schon öfter beim Stricken mit diesen eigentümlichen glitzernden Nadeln das Gefühl gehabt, als würde es leicht und wie von Zauberhand gehen. Es galt diese Theorie auf die Probe zu stellen ...


    Wenige Tage später, es war der 24. Dezember, erschien Jack, um auf dem Dorfplatz zu verkünden, dass das Ultimatum abgelaufen sei und da weiterhin niemand verkaufen wollte, sie sich nun alles Folgende selbst zuzuschreiben hätten. Bereits auf dem Weg zum Dorfplatz, in seinem sehr teuren Auto, wunderte er sich, dass er hie und da Leute sah, die auf den Dächern ihrer Häuser standen.

    Auf dem Platz empfing ihn eine kleine Abordnung von Einwohnern des Dorfes, die ihm trotzig das Kinn entgegenstreckten. „Tja, ihr habt es nicht anders gewollt. Ihr werdet in den nächsten Tagen und Nächten wohl eng zusammenrücken müssen.“, verkündete er arrogant.

    Angela, die ebenfalls Teil der Abordnung war, trat einen Schritt nach vorne. „Das hätten sie wohl gern, sie schrecklicher Unmensch! Aber wir lassen uns von jemandem wie Ihnen hier nicht erpressen.“ Sie hob einen Arm und wedelte damit, als Zeichen für die anderen. Jack sah sich überrascht und verwirrt um. Plötzlich schienen überall auf den Dächern Leute zu stehen. Sie hantierten jeder an etwas herum und schließlich rollten sich, wie eine Welle aus Flausch, vom Dach eines jeden Hauses riesige Wollmützen herab, so warm und kuschelig, wie man sie nie zuvor sah. Sie hüllten die Häuser ein und sorgten dafür, dass es im Inneren warm blieb. Mit der Macht der magischen Stricknadeln hatte Angela es geschafft, innerhalb weniger Tage, für jedes bewohnte Haus des Dorfes eine solche riesige, gestreifte Mütze zu stricken.

    „Es ist vorbei Jack, ihr Plan ist gescheitert!“, rief Ewan ihm zu und legte einen Arm um Angelas Schultern, so dass ihr ebenfalls so warm wurde wie unter einem gigantischen Wollüberzieher. „Diese wunderbare Frau hat uns alle gerettet, und du verziehst dich jetzt besser!“

    Jack wich zurück, als hätte man ihn geschlagen. „Mein Plan hätte funktioniert, wenn diese nervige Amerikanerin nicht gewesen wäre, verdammt soll sie sein.“ und damit stieg er hastig in sein Auto und fuhr so schnell davon, dass die Reifen quietschten.


    Alle freuten sich sehr, dass der gemeine Fiesling ihnen nichts mehr anhaben konnte und das Dorf gerettet war. Sie veranstalteten eine große Feier mit viel Essen, Trinken und Süßigkeiten. Eben allem, was so zu Weihnachten gehörte. Angela wurde als die große Heldin und Retterin gefeiert und von jedem herzhaft gedrückt und beschenkt.

    Später am Abend, in der Heiligen Nacht, spazierten Angela und Ewan gemeinsam im Schnee und blickten verträumt nach oben, in die sternenklare Nacht. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und Ewan hatte wieder seinen Arm um sie gelegt.

    „Oh Ewan, hast du das eigentlich ernst gemeint, was du vorhin gesagt hast, findet du mich wirklich wunderbar?“ Er nickte und das kleine Grübchen in seinem schottischen Kinn nickte mit. Angela fühlte wieder diese Wärme in sich aufsteigen, und als Ewan sich schließlich über sie beugte und sie zärtlich küsste, da war es ihr, als hörte sie die himmlischen Engelschöre.

    Doch dazu mischte sich plötzlich auch der Klang von kleinen Glöckchen. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. „Ewan, sieh nur!“ Er tat wie ihm geheißen, ließ sie dabei aber nicht aus seinen starken, männlichen Armen.

    „Jetzt ist wirklich Weihnachten.“, flüsterte er.


    Über ihnen flog ein Schlitten am Himmel vorbei, gezogen von Rentieren, die geschmückt waren mit silbernen Glöckchen. Im Schlitten stand eine hohe, kräftige Gestalt. Er winkte herunter und der Wind wehte durch sein langes blondes Haar und ließ seine gefütterte lederne Jacke flattern, so dass man seine makellose, breite, nackte Brust im Mondlicht schimmern sehen konnte. Auf dem Kopf thronte ein gehörnter Helm.

    Es war der Weihnachtswikinger.

    Er lachte laut und tief und mit einem fröhlichen „GOD JUL!“ verschwand er mitsamt seinem Schlitten in die Weihnachtsnacht.


    - THE END -

  • Der 5. Dezember von Marlowe


    Maria und ihr Kind


    Werner schaute hinaus in das Schneetreiben. Na ja, dachte er, wenigstens haben wir diesmal eine weiße Weihnacht. Er dreht sich um und ließ seinen Blick durch sein kleines Lokal schweifen.

    Der Tisch für die alljährliche kleine Heilig-Abend-Feier der Witwer und Junggesellen war festlich gedeckt. Die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten und im offenen Kamin brannten große Holzscheite und verbreiteten eine wohlige Wärme.

    Seit Werner Witwer war, hatte er es freiwillig übernommen, am vierundzwanzigsten Dezember sein Lokal zu öffnen, falls doch noch Reisende oder Weihnachtsmuffel lieber in ein Lokal gehen wollten.

    Doch in den letzten Jahren war das nie der Fall gewesen, die Umgehungsstraße lockte den Verkehr in die nächst größere Stadt und Weihnachtsmuffel gab es in dieser Kleinstadt wohl nicht.

    Trotz geöffneten Lokals war die alljährliche Herrenrunde also doch irgendwie immer eine kleine, geschlossene Gesellschaft gewesen, die ungestört gemeinsam ihren Erinnerungen nachhing.

    Tradition war schon sein legendärer Weihnachtspunsch und stets ein ganz besonderes Essen für diesen Abend und alle freuten sich darauf. Werner genauso, denn er kochte gerne und mit viel Liebe.

    Wehmütig dachte er an früher, als seine Frau noch lebte und das Lokal mit mehr Leben erfüllt war als heute. Die acht Fremdenzimmer waren damals fast immer belegt, doch mit der Umgehungsstraße hatte sich das geändert und als Luise dann starb, kümmerte er sich nicht weiter um diese Art der Einnahme, es wäre ihm auch einfach zu viel Arbeit gewesen. Nur ein Zimmer war immer perfekt und sorgfältig hergerichtet. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass sein Sohn ihn vielleicht doch noch mal besuchen würde.

    Werner seufzte. Seit sieben Jahren, seit der Beerdigung, hatten sie sich nicht mehr gesehen und er glaubte auch nicht wirklich, dass es noch mal dazu kommen würde. Trotzdem, dachte er, die Hoffnung stirbt zuletzt.

    Der große Uhrzeiger der Standuhr in der Ecke zeigte auf die sieben. Noch eine Stunde, dann würden seine Freunde kommen und den jetzt noch stillen Raum mit Leben erfüllen. Er hörte das Pfeifen des Abendzugs, zwei Minuten Verspätung stellte er fest, der letzte Zug für heute und damit war der Ort für die Feiertage vom Leben abgeschnitten, denn Feiertags ging die Bahn wohl davon aus, dass die Bürger des Ortes lieber zu Hause blieben und sie sowieso niemand besuchen wollte. Wer flüchten wollte, konnte einmal am Tag den Bus benutzen.

    Er rührte den heißen Punsch um, kostete davon, goss noch ein wenig Hochprozentigen hinein, kostete wieder und spürte, wie ihm die Hitze langsam in den Kopf stieg. Jetzt war er perfekt. Zufrieden mit sich und der Welt ging er wieder zum Fenster und beobachtete die Schneeflocken, die immer dichter und heftiger durch die Straße zum Bahnhof hin fegten.

    Er sah zwei Gestalten, die sich dem Lokal näherten und wunderte sich. Es war noch zu früh für den geselleigen Abend, seine Freunde wussten, dass er diese Stunde vor dem Beginn für sich brauchte und akzeptierten das und so beschloss er, in die Küche zu gehen.

    Doch die Tür öffnete sich plötzlich und eine junge Frau, dick in Winterkleidung eingemummelt, einen Koffer in der einen Hand und einen kleinen Jungen an der anderen, betraten das Lokal.

    Ein seltsamer Augenblick. Die drei Menschen standen sich gegenüber, starrten sich an und es war, als würde die Zeit kurz still stehen. Dann wischte sich die Frau die Schneeflocken von der Stirn und deutete fragend auf einen Tisch neben dem Kamin. Er nickte und half ihr aus dem Mantel, geleitete die beiden Hereingeschneiten zu dem Tisch und legte die Karte auf den Tisch. Niemand hatte bis jetzt auch nur ein Wort gesprochen, aber irgendwie störte das keinen, im Gegenteil, irgendwie passte es in dieser Situation.

    Nach einer kleinen, zögerlichen Weile und einem heimlichen Blick in ihren Geldbeutel bestellte sie einen Tee und eine heiße Schokolade für den Kleinen. Endlich war der Bann gebrochen und er verwickelte sie in ein kleines Gespräch. Dabei erfuhr er, dass sie niemanden im Ort kannte, sondern weil sie in den falschen Zug eingestiegen waren, diesen hier verlassen mussten und sie nicht wusste, was sie nun machen sollte.

    Er stand hinter dem Tresen und beobachtete die beiden. Er hatte sehr wohl den Fleck unter ihrem rechten Auge bemerkt und genauso die blauen Flecken auf den Händen des Kleinen.

    Einen heißen Punsch in der Rechten ging er zum Tisch, betonte, dass er auf Kosten des Hauses ginge und bot ihr an, doch bei ihm zu übernachten, ein Zimmer wäre frei, was für eine Untertreibung, aber er wollte nicht mehr erklären und er würde sich freuen, helfen zu können. Schließlich sei doch Weihnachten.

    Sie sah ihn lange an, oder war es nur eine Sekunde, später wusste er das nicht mehr und begann zu weinen und gleichzeitig zu erzählen. So erfuhr er von ihrem alkoholabhängigen Mann, den Schlägen und Quälereien und dann, heute, die panikartige Flucht.

    Sie folgten ihm wie in Trance in den ersten Stock, er zeigte ihnen das schöne, gemütliche Zimmer und lud sie für später zum Weihnachtsessen ein.

    Danach ging er sofort zum Telefon und rief seine Freunde an.

    Gegen acht Uhr trafen sie dann nach und nach alle ein.

    Wie immer hatten alle ihre Päckchen dabei und legten sie unter den Weihnachtsbaum.

    Werner ging in die Küche, sah, dass alles perfekt war, stieg in den ersten Stock, klopfte und bat die beiden Gäste nach unten.

    Als sie dann kamen, stellte er sie alle vor. Den Apotheker, den Gemischtwarenhändler, den Rechtsanwalt, den Arzt, den Makler, der immer lustige Geschichten erzählte, den “Baron“, verarmter Adel mit hoher Rente, weil immer im Staatsdienst gewesen und de Sägewerksbesitzer mit der roten Knollennase.

    Das sind Maria und Christopher, stellte er seine Gäste vor und die Neuankömmlinge wurden aufgenommen wie alte Freunde, die endlich mal wieder anwesend waren.

    Der Punsch, das Essen, die Nachspeise, alles opulent und traumhaft wie immer. Die Augen von Maria und ihrem Sohn glänzten vor Freude und Zufriedenheit. Doch dann, nach dem Essen, kam die eigentliche Überraschung. Die Freunde standen auf, wie jedes Jahr und sangen ihr Weihnachtslied. Stille Nacht, Heilige Nacht. Nur für Maria und Christopher diesmal, dann deutete Werner auf die Geschenke und meinte, nun beginne die Bescherung und diese wäre nur für sie. Während sie “Leise rieselt der Schnee“ sangen, beobachteten sie, wie mit zittrigen Fingern Geschenkpapier und Verzierungen entfernt wurden, sahen das Staunen und die Freude in den Augen und empfanden diesen Abend zum ersten Mal als eine wirklich Heilige Nacht.

  • Der 6. Dezember von Marlowe


    Nikolaus 1978


    Es war Nikolaustag 1978, meine Kompanie betreute in diesem Jahr das Behindertenkinderheim in Grassau am Chiemsee. Das Kommando für die Verteilung der Nikolausteller an die Kinder des Heimes wurde mir übertragen und so fuhren wir mit mehreren Kleinbussen dorthin. Einer davon war voll beladen mit wunderschönen und reich bestückten Tellern, mittendrin Hauptfeldwebel Fischer als verkleideter Nikolaus.

    Nonnen, Krankenschwestern und Pflegerinnen erwarteten uns draußen schon mit etlichen Kindern und sie begrüßten uns mit einem Lied. Dann teilte ich die Soldaten in Gruppen ein und schickte sie los. Der Nikolaus wurde von zwei als Engel verkleideten Frauen des Heimes flankiert und ging von Zimmer zu Zimmer.

    Es blieben noch fünf Teller übrig, die ich mir nahm und die Schwester Oberin begleitete mich zu einem Zimmer im Erdgeschoss. Dort standen fünf Gitterbettchen, darin Kinder zwischen zwei und fünf Jahren.

    Als letztes ging ich zu einem kleinen, dreijährigen Mädchen, neben ihrem Bettchen stand ein Stuhl und ich setze mich darauf. Dann hielt ich ihr den Teller hin und sagte: "Schau, das soll ich Dir vom Nikolaus bringen."

    Die Kleine sah mich mit großen Augen an, regte sich aber nicht und sagte kein Wort.

    "Och komm“, sagte ich „nimm es doch." Sie regte sich immer noch nicht. Also sprach ich immer weiter, erzählte ihr, dass ich mit meinen Freunden extra zum Nikolaus gefahren war und wie er sich gefreut hatte, dass wir ihm so viel Arbeit abnahmen und er bestimmt traurig sein wird, wenn sie sein Geschenk nicht nimmt. Während ich leise und sanft auf sie einsprach, spürte ich die Hand der Oberin auf meiner Schulter und sie flüsterte mir ins Ohr: "Lassen Sie es, sie spricht seit über einem Jahr kein Wort."

    Genau in diesem Augenblick streckte die Kleine die Arme aus, griff nach dem Teller und plötzlich war da ein Leuchten in ihren vorher so glanzlosen Augen.

    "Ist das für mich?", fragte sie und sah mich an. Ich drehte mich kurz zur Oberin um und sah, wie sie sich bekreuzigte und das Zimmer verließ. Ich redete noch einige Minuten mit dem Mädchen, dann streichelte ich ihr über den Kopf und sagte ihr, dass ich jetzt dem Nikolaus erzählen würde, wie sie sich gefreut hatte.

    Draußen auf dem Flur stand die Oberin mit etlichen Nonnen und Krankenschwestern und sie sahen mich mit großen Augen an.

    "Ein Wunder!", sagte die Oberin zu mir, nahm mich beim Arm und wir gingen alle in den großen Speisesaal, wo schon Weihnachtsstollen, Kaffee und Tee für uns bereit stand. Die Oberin saß neben mir und konnte sich über dieses wunderbare Ereignis gar nicht mehr beruhigen. Sie meinte ich solle nach der Bundeswehr unbedingt Kindertherapeut werden.

    Ich antwortete nach kurzem Überlegen: "Nein, Schwester Oberin, ich bin nicht Jesus, ein Wunder im Leben reicht mir."

    Erst viel später habe ich mich gefragt, was aus diesem kleinen Mädchen wohl geworden ist, ich werde es nie erfahren.

  • Der 7 Dezember von churchill


    Josef. Maria. Und Gabriel



    Der Josef ist ein Zimmermann,

    ein Praktiker, der dann und wann

    auch an Familiengründung denkt.

    Sein Herz hat er schon lang verschenkt:

    Maria ist so schön und jung

    und bringt tatsächlich frischen Schwung

    in Josefs Junggesellenleben.

    Schon bald soll es die Hochzeit geben.


    Doch nun fragt sie den guten Mann,

    ob sie mal mit ihm reden kann …

    Das irritiert ihn irgendwie.

    Normalerweise fragt sie nie

    und redet pausenlos drauf los.

    Er fragt sich: „Mann, was will sie bloß?“

    Er traut sich nicht, das laut zu fragen

    und hört sich „Aber klar doch“ sagen.


    „Nun, das ist so“. Sagt sie. Und schweigt,

    was Josef wieder einmal zeigt,

    dass Frau‘n, die jungen und die alten,

    nicht allzuviel von Logik halten.

    „Komm sag schon“, spricht der Josef dann,

    „vertrau mir ruhig, ich bin dein Mann“.


    „Ok“, sagt Mary. „Dann pass auf.

    Die Sache nahm so ihren Lauf.

    Es war am Abend. In der Nacht,

    als ich ganz plötzlich aufgewacht.

    Da stand ein blondgelockter Mann

    vor meinem Bett und sah mich an.“


    „Was für ein Mann?“, fragt Josef leis.

    Ihm wird abwechselnd kalt und heiß.

    „Das war der Gabriel. Ein Engel“.

    Der Josef denkt: „Ein frecher Bengel …

    Was hat der Gabriel getan?“

    „Er sah mich erst mal gründlich an

    und sprach nach ewig langer Zeit:

    Maria, sei gebenedeit.

    Ich fragte Gabriel: ich bin WAS?

    Er meinte: Ich erklär dir das.

    Und das hat er dann auch getan.

    Jetzt fangen neue Zeiten an!“

    Josef sieht nen besond‘ren Glanz

    an ihr: „Du, ich versteh nicht ganz …“.

    „Das ist ja nun nicht gerade neu“.

    Maria schaut so lieb und treu

    und meint: „Weil wir grad dabei sind:

    Du, Josef, ich bekomm ein Kind“.


    Der Josef guckt da leicht perplex:

    „Wir hatten doch gar keinen Sex

    und diesen braucht man doch zumeist …“.

    „Das Kind. Es ist vom Heilgen Geist.

    Das hat der Engel mir gesagt.

    Ich hab dann gar nicht viel gefragt

    und meinte nur: Ich bin bereit.

    Im Winter ist es dann soweit …“.


    „Ich kann es trotzdem nicht verstehn“,

    sagt Jupp. „Ich werde dann mal gehn,

    mir anderswo ne Arbeit suchen

    und lieber erstmal Urlaub buchen.

    Ich hab dich lieb, kann dich nicht hassen

    werde dich einfach nur verlassen,

    bevor ich dich gesteinigt seh.

    Denn sowas tut ja höllisch weh.

    So, nun verlass ich diesen Sprengel.

    Dir noch viel Spaß mit deinem Engel …“.


    Er dreht sich um und geht ins Zimmer,

    vermeidet Diskussion. Wie immer.

    Dann trinkt er noch ein Gläschen Wein.

    Schmeckt heute anders. Er schläft ein.

    Im Schlaf erscheint dem Jupp sodann

    - na klar - ein blondgelockter Mann.

    Der stellt sich gleich als Gabriel vor

    und bittet: „Leih mir mal dein Ohr.


    Maria hat mit allem recht.

    Sie ist voll brav. Du denkst nur schlecht.

    Das Kind ist echt vom Heilgen Geist

    und ist, damit du das schon weißt,

    letztendlich wahrlich Gottes Sohn.

    Ich spüre es, du glaubst mir schon.

    Du darfst jetzt nicht ins Kissen flennen

    und fort von deiner Liebsten rennen.

    Genau gesagt: Im Gegenteil

    liegt Glück und Segen, Glanz und Heil.

    Wenn du bei der Maria bleibst,

    mit Frau und Sohn die Zeit vertreibst,

    dann bist du solch ein edler Mann,

    wie Frau sich ihn nur wünschen kann.


    Du wirst ein echter Vater sein,

    mit allen Pflichten, groß und klein.

    Und will Maria abends raus,

    bleibst du bei Gottes Sohn zu Haus“.

    „Ne halt“, sagt Josef, „sie will raus?

    ‘s ist zu gefährlich außer Haus

    für junge und so schöne Frauen,

    man kann ja niemandem mehr trauen!“.

    „Bleib ruhig. Ich geb‘s Wort dir drauf:

    Ich passe auf Maria auf.

    Bin Engel und zu vielem nutz,

    besonders zu Mariens Schutz“.

    Das sagt der blondgelockte Mann

    und lächelt Josef freundlich an.


    „Na gut“, meint Josef. „Sei es so.

    Ich fühl mich irgendwie k.o. …

    Dann bleib ich, nehme sie zur Frau

    doch eins sag ich dir ganz genau:

    Du kannst dem Heil‘gen Geist gern schreiben:

    Auch du musst bei Maria bleiben!“.

    Worauf der Engel überlegt.

    Dann garantiert er tief bewegt:

    „Ich werde gern für alle Zeiten

    Maria schützen und begleiten!“.


    „Dann ist es gut“, denkt Josef brav.

    Er dreht sich um, zählt Schaf um Schaf

    und schläft schon bald so süß und fein

    und tief und fest und arglos ein.


    Erwacht mit einem großen Kater

    als Ehemann und Pflegevater.

    Nun kann (und nicht nur für die Frommen)

    das Reich des Gottessohns gern kommen.

    Bei allem Tun, bei jedem Schritt

    verbringen sie die Zeit zu dritt.

    Wenn Josef neue Häuser baut,

    der Engel auf Maria schaut.

    Und so entstand vor Jahren eben

    schon das moderne Patchworkleben.

    Das gab‘s und gibt‘s zu jeder Zeit

    von nun an bis in Ewigkeit …

  • Der 8 Dezember von Batcat


    Ein Tag wie kein anderer


    Anita hasste ihren Geburtstag von ganzem Herzen. Alle Jahre wieder wurde sie um „ihren“ Tag betrogen. Denn auch wenn sie ihre Geschenke stets bereits morgens zum Frühstück erhielt, wurde der ganze Tag von „diesem anderen Fest“ überschattet. Dem, das sie nicht so besonders gerne mochte, weil es ihrem großen Tag Jahr für Jahr den Rang ablief.


    Sie hatte noch nie an ihrem Geburtstag eine richtige Geburtstagsparty mit ihren Freunden oder der Familie gefeiert. Immer musste sie ein paar Tage warten und selbst dann waren alle noch feiermüde.


    Warum musste sie auch ausgerechnet am 24. Dezember Geburtstag haben – was für ein Pechvogel sie doch war. Und sie konnte noch nicht mal ihren Eltern einen Vorwurf machen, denn eigentlich hätte sie ein „Valentinskind“ sein sollen. Doch sie hatte sich nicht an den errechneten Geburtstermin gehalten und sich bereits etliche Wochen früher auf den Weg gemacht. Was ihr natürlich auch stets unter die Nase gerieben wurde, wenn sie sich deswegen beklagte.


    Und dieses Jahr stand auch noch ihr 30. Geburtstag an. Jeder fragte schon, wann und wie sie ihn denn feiern wollte, doch um ehrlich zu sein: sie wollte gar nicht. Was für einen Sinn hatte es denn, am 27. oder 28. Dezember eine „große Sause“ zu planen? Alle waren noch platt und vollgefressen von den Feiertagen oder waren zu ihren Eltern heimgefahren und gar nicht in der Stadt. Und danach war es auch schon wieder schwierig, weil dann alle mit Silvesterplanungen und -einkäufen beschäftigt waren.


    Also beschloss sie, einfach gar nichts zu machen. Dieses Jahr würde die Party einfach ausfallen. Auch Geschenke wollte sie keine, so konsequent war sie: Ganz oder gar nicht. Je länger sie darüber nachdachte, desto sympathischer wurde ihr dieser Gedanke. Es gab zwar erst einen kleinen Aufruhr, als sie dies verkündete, doch schließlich akzeptierten Freunde und Familie ihren Entschluss zähneknirschend.


    Mit Erleichterung machte sie sich an die Weihnachtsvorbereitungen. Dieses Mal konnte sie die Vorbereitungen viel mehr genießen, denn diesmal machten sich Weihnachten und Geburtstag endlich einmal nicht gegenseitig Konkurrenz.


    Dieses Jahr hatte sie den Weihnachtstag erstmals nur für sich alleine. Sonst war der Tag ja immer recht gehetzt gewesen: zwischen Geburtstagsbrunch, Weihnachtsgottesdienst und Bescherung bei den Eltern war sie kaum zur Ruhe gekommen. Diesmal gönnte sie sich ganz gemütlich ein Schaumbad, bei dem sie mit einem Gläschen Sekt auf sich selbst anstieß. Dann faulenzte sie den Tag ohne schlechtes Gewissen in ihrem ältesten Sweater, bevor sie sich abends in Schale warf und mit den Geschenken zu ihren Eltern fuhr, um gemeinsam mit der Familie Weihnachten zu feiern.


    Als sie beim Haus vorfuhr, fiel ihr sofort auf, dass die Lichterketten am Haus noch gar nicht brannten. Komisch, das musste ihr Vater vergessen haben. Was noch seltsamer war: auch aus dem Wohnzimmerfenster drang kein Lichtschein. Sonst hatte man den Weihnachtsbaum durch die bodentiefen Fenster immer schon vom Gartentürchen aus sehen können. Sie sah auf die Uhr. Nein, sie war nicht zu früh dran, sondern auf die Minute pünktlich.


    Anscheinend war etwas eingetreten, was Anita noch NIE bei ihren Eltern erlebt hatte: sie waren noch nicht mit ihren Vorbereitungen fertig. Grinsend klingelte Anita. Ihre Mutter öffnete die Türe, noch in der Schürze, und umarmte sie flüchtig. Ihr Vater wuselte ebenfalls noch in der Küche herum. „Alles Gute, Kind... entschuldige, aber wir sind grad noch in den letzten Zügen mit dem Essen... geh doch schon mal ins Wohnzimmer und nimm Dir ein Gläschen Sekt!“


    Feixend ging Anita den Gang entlang. Dass sie das noch erleben durfte, dass ihre Eltern, Mr & Mrs Perfekte Gastgeber, noch nicht mit den Vorbereitungen fertig waren.


    Anita knipste das große Licht an und in dem Moment, in dem sie realisierte, dass wirklich kein Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stand, brach um sie herum auch schon großes Tohuwabohu los: Luftschlangen flogen durch die Luft, ein Schwall bunter Ballons stieg hinter der Couch hoch und ein vielstimmiges „Happy Birthday“ erklang, während aus allen Ecken des Raumes und aus dem angrenzenden Esszimmer eine Unzahl an Personen strömte: alle ihre Geschwister waren da, ihre Großeltern … und alle ihre Freunde! Grinsend kamen ihre Eltern aus der Küche, hoch erfreut, dass ihnen die Überraschung gelungen war. Anita war so überrascht, dass ihr jegliche Worte fehlten. Doch dann brach sie vor Freude in Tränen aus: alle verzichteten auf ihre Bescherung, auf Weihnachten... und das alles nur für sie! Was war sie nur für ein Glückspilz, dass sie diese Familie und diese Freunde hatte!


    Natürlich hatten ihre Eltern ein tolles Geburtstagsessen gezaubert und den Eßplatz mit Girlanden und allerhand Geburtstagsgedönse dekoriert. Die Party war ebenso lang wie lustig. Erst in den frühen Morgenstunden verzogen sich die Gäste mehr oder weniger angesäuselt nach einem ganz wunderbaren Fest.


    Anita ließ sich nur zu gern dazu überreden, in ihrem alten Kinderzimmer zu übernachten – fahrtauglich war sie definitiv nicht mehr. Am nächsten Tag wachte sie erst spät auf. Als sie ins Wohnzimmer hinunter kam, rieb sie sich verwundert die Augen: an gewohnter Stelle stand der liebevoll geschmückte und festlich illuminierte Weihnachtsbaum. Darunter lagen zahlreiche Geschenke. Der Tisch war festlich gedeckt und weihnachtlich dekoriert. Aus der Küche roch es bereits nach der Gans, die es bei ihnen traditionell sonst an Heiligabend gab.


    Ihre Mutter kam mit einem Becher Punsch aus der Küche zu ihr: „Frohe Weihnachten, Schatz!“


    „Frohe Weihnachten, Mama. Und Danke, dass ihr mir meinen größten, heimlichen Wunsch erfüllt habt!“


    „Wir haben uns überlegt... das war unfair, Deinen Geburtstag all die Jahre immer hinten an zu stellen. Wir können das gerne künftig immer so machen, zumindest im Familienkreis“


    „Nein, Mama! Ich hab einmal gespürt, wie toll es ist, an seinem Geburtstag wirklich im Mittelpunkt zu stehen und weiß jetzt, wie das ist – aber ich brauche das nicht immer. Schließlich ist der Geburtstag nur für einen selbst etwas ganz Besonderes. Weihnachten sollte aber für jeden etwas Besonderes sein.“

  • Der 9. Dezember von Sinela


    Vom Weihnachtsmann, Rentieren, Eseln und einem Maultier


    "Gustav, wo bist du?"

    Die ältere Frau schaute sich im Wohnzimmer ihres kleinen Hauses, das am Nordpol stand, um. Doch ihren Mann konnte sie dort nirgends entdecken. Wo zum Geier steckte er bloß? Mirijam drehte sich um und ging hinaus in den Flur. Ihr Blick fiel die Treppe hinauf auf die Tür zum Schlafzimmer. Er würde doch nicht? Oder doch? Entschlossen nahm sie die Stufen in Angriff, öffnete die Tür und tatsächlich - da lag ihr Mann im Bett und schlief. Das durfte ja wohl nicht wahr sein!

    "Gustav", rief sie, doch ihr Mann rührte sich nicht. Sie ging zum Bett und schaute ungläubig auf den Bauch, der ihr wie eine überdimensionale Weihnachtskugel entgegen ragte. Konnte das sein? War er schon wieder größer geworden oder täuschte die Decke, die darüber lag? Egal, jetzt musste sie erst mal sehen, dass sie den Weihnachtsmann wach bekam, denn er wurde gebraucht. Entschlossen packte sie ihn an den Schultern und rüttelte kräftig.

    "Gustav! Jetzt wach doch endlich auf, zum Donnerwetter nochmal!"

    "Geh weg, ich bin müde", murmelte der Weihnachtsmann und wollte sich von seiner Frau wegdrehen, was aber von seinem dicken Bauch verhindert wurde.

    "Nichts da, du stehst jetzt auf der Stelle auf und machst dich auf den Weg. Die Kinder überall auf der Erde warten schon auf dich!"

    Der Weihnachtsmann setzte sich auf.

    "Wie, was, ist heute etwa 'Heiligabend'?", fragte er noch leicht schlaftrunken.

    "Wie kommst du nur darauf, mein lieber Mann, heute ist doch Frühlingsanfang", antwortete seine Frau ironisch.

    "Dann ist es ja gut, dann kann ich ja noch eine Weile schlafen."

    "Untersteh dich! Natürlich ist heute 'Heiligabend'! Und jetzt raus aus dem Bett, unter die Dusche, anziehen und etwas essen, bevor es auf die Reise geht."

    "Essen? Hört sich gut an, ich komme sofort."

    Mirijam ging zur Schlafzimmertür und schaute ihrem Mann hinterher, der gemütlich in Richtung Badezimmer ging. Wenn er 'Essen' hörte, hielt ihn nichts mehr. Aber so ging es nicht weiter, denn er hatte tatsächlich wieder zugenommen, das hatte sie jetzt deutlich sehen können. Gleich nach Weihnachten würde sie ihn auf Diät setzen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.



    Eine Stunde später ging der Weihnachtsmann mit wiegenden Schritten in Richtung Stall. Leise summte er "Silent night - holy night" vor sich hin, während er den Sack mit den Geschenken zum Schlitten schleppte, der von den Kobolden bereits vor den Stall gezogen worden war. Doch schnell ging ihm die Luft aus und er blieb kurz stehen, um mehrmals tief durchzuatmen. Meine Güte, war die Luft eisig, weshalb er dann doch lieber weiterging, die Geschenke auf den Schlitten legte und dann den Stall betrat, wo ihn die Rentiere schon sehnsüchtig erwarteten. Sie freuten sich schon auf den heutigen Ausflug.

    "Los kommt, stellt euch vor den Schlitten, damit ich euch anspannen kann und wir endlich loskommen. Wir sind schon spät dran."

    "Und wessen Schuld ist das", grummelte das Rentier mit der roten Nase vor sich hin.

    "Hast du etwas gesagt Rudolf?"

    Doch das Rentier beachtete den Weihnachtsmann gar nicht, sondern ging hinaus in die Nacht und stellte sich an seinen Platz vor dem Schlitten. Die anderen Rentiere folgten ihm und Gustav legte ihnen das Geschirr an. Dann stieg er auf sein Gefährt, setzte sich auf den Sitz, nahm die Zügel und gab den Rentieren das Zeichen zum Losfliegen. Diese setzten sich in Bewegung, wurden schneller, doch dann wurden sie wieder langsamer und blieben letztendlich stehen.

    "Hey, was ist denn jetzt? Warum fliegt ihr nicht los?"

    Rudolf drehte sich schwer atmend um.

    "Der Schlitten ist zu schwer, den werden wir nicht in die Luft bekommen. Du musst Ballast abwerfen."

    "Ich kann doch keine Geschenke hier lassen, die Kinder warten doch darauf. Nein, das geht auf gar keinen Fall! Ihr müsst euch einfach mehr anstrengen, dann klappt das auch mit dem Fliegen!"

    "Mehr anstrengen? Mehr anstrengen?" Rudolf war außer sich. "Schau dir mal deine Rentiere an, die japsen immer noch nach Luft, obwohl wir jetzt schon wieder eine Weile hier herumstehen. Wir fliegen so nicht und damit basta!"

    "Du verweigerst mir den Gehorsam? Mach dich aus dem Geschirr und geh in den Stall! Du bist die längste Zeit mein Leit-Rentier gewesen! Geh mir aus den Augen, aber schnell!"

    Doch Rudolf blieb stehen, er nahm seinen Job als Leittier nämlich sehr ernst. Er würde seine Kumpels nicht mit diesem schweren Schlitten losfliegen lassen, da war ein Unfall vorprogrammiert. Und so starrten sich das Rentier und der Weihnachtsmann mit bösen Blicken an, keiner war bereit nachzugeben.

    "Was ist denn hier los, warum seid ihr immer noch hier?"

    Mirijam war von dem Geschrei auf den noch immer am Nordpols stehenden Schlitten aufmerksam geworden und war vom Haus herbeigeeilt, um zu sehen, wo das Problem lag.

    "Der da will nicht losfliegen, weil den Rentieren der Schlitten zu schwer ist", ereiferte sich der Weihnachtsmann. Worauf seine Frau seufzte, die Diät kam wohl leider zu spät. Zumindest für diesen Abend.

    "Könntet ihr nicht noch zwei oder drei Rentiere zusätzlich vor den Schlitten spannen?"

    "Sind keine mehr da", grummelte Gustav.

    "Dann nimm halt in Gottes Namen die beiden Esel und das Maultier."

    Der Weihnachtsmann schaute seine Frau ungläubig an.

    "Spinnst du? Da mache ich mich doch komplett lächerlich damit."

    "Entweder das oder du kannst keine Geschenke verteilen. Was ist dir lieber?"

    Gustav schluckte. Auch wenn es ihm schwerfiel, seine Frau hatte recht, das Verteilen der Geschenke hatte absoluten Vorrang, auch vor seinen Befindlichkeiten.

    "Na gut, geht ja wohl nichts anders. Rudolf, zurück zum Stall, neu einspannen."

    Das Rentier mit der roten Nase nickte zufrieden, da hatte die Frau des Weihnachtmanns eine gute Idee gehabt. Aber die Esel und das Maultier würden direkt vor dem Schlitten eingespannt werden, die Rentiere hatten ein Anrecht auf die vorderen Plätze.



    Wolfgang und Dieter liefen in leichten Schlangenlinien durch die kleine Siedlung. Die Fenster der Häuser waren dunkel, nur die Weihnachtsbeleuchtungen in den Gärten und an den Balkonen verbreitete noch etwas Stimmung.

    "Ich glaube, wir hätten nicht so viel von dem Glühwein trinken sollen?", sagte Dieter mit schwerer Stimme. "Irgendwie ist mir total schummrig."

    "Du verträgst halt einfach nichts", antwortete ihm sein Bruder, "mir geht es prächtig."

    "Warte mal, ich glaube, ich muss ..."

    Dieter blieb stehen, beugte sich vornüber, worauf sein Magen einen Großteil des getrunkenen Glühweins wieder von sich gab. Der junge Mann richtete sich wieder auf und wischte sich mit einem Jackenärmel den Mund ab. Wolfgang war indes zwei oder drei Schritte weitergegangen und sah - während Dieter sich übergab - hinauf in den Himmel. Und rieb sich die Augen, schaute nochmal hin und rieb sie sich nochmals. Doch alles Reiben änderte nichts an dem, was er sah.

    "Dieter, schnell, schau hinauf in den Himmel! Da fliegt der Weihnachtsmann."

    "Du spinnst doch, den gibt es doch gar nicht!"

    "Wenn ich es dir sage! Der Schlitten mit den Rentieren .. aber Moment mal, da sind ja auch zwei Esel und ein Maultier .."

    "Du bist wirklich besoffen, das bildest du dir nur ein. Esel und Maultiere, der Weihnachtsmann fliegt immer mit Rentieren - was erzähle ich da eigentlich, es gibt ihn doch gar nicht. Los komm, lass uns nach Hause gehen, mir ist kalt."

    Dieter ging weiter, sodass Wolfgang nichts anderes übrig blieb, als ihm zu folgen, hatte sein Bruder doch den Schlüssel zur gemeinsamen Wohnung. Aber ein letzter Blick zum Himmel musste sein, aber außer vielen Sternen und einer schmalen Mondsichel konnte Wolfgang nichts mehr sehen. Er schüttelte den Kopf, da hatte ihm der Glühwein wohl einen Streich gespielt. Weihnachtsmann! Wolfgang lachte, als würde es diesen geben! Vielleicht sollte er in Zukunft doch weniger trinken.



    Gustav schaute sich im Wohnzimmer der Familie Pallas um. Schön war es hier, das Sofa und die Sessel sahen sehr gemütlich aus, der Weihnachtsbaum war wunderschön geschmückt, ebenso das Fenster. Der Weihnachtsmann hatte die Geschenke für die Kinder - ein neunjähriger Sohn und seine um ein Jahr jüngere Schwester - bereits unter den Baum gelegt und ging jetzt zum Kamin, um wieder hinauf auf das Dach zu klettern. Schnaufend und ächzend wand er sich nach oben, erreichte den Rand des Schornsteins und war bereits mit dem Oberkörper im Freien, als es plötzlich nicht mehr weiter ging. Egal wie stark Gustav sind wand, sein Bauch wollte einfach nicht weiter nach oben rutschten. Er steckte fest! Das war ihm in all den Jahren auch noch nie passiert! Was um Gottes willen sollte er denn jetzt machen? Er schaute sich um und sein Blick fiel auf seine Rentiere. Natürlich, das war die Lösung!

    "Rudolf, komm her".

    Das Rentier mit der roten Nase drehte sich zum Weihnachtsmann um.

    "Hast du nicht was vergessen?"

    "Komm sofort hierher, zum Donnerwetter!"

    Rudolf rührte sich nicht von der Stelle. Die anderen Rentiere - und natürlich auch die Esel und das Maultier - blickten zwischen ihm und ihrem Herrn hin und her. Das Leittier ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen.

    "Ich warte immer noch".

    Der Weihnachtsmann grummelte und fluchte vor sich hin. Aber es war ihm klar, dass er am kürzeren Hebel saß und rang sich dann zu einem "bitte komm her Rudolf" durch, obwohl er innerlich fast platzte.

    "Na also, geht doch", sagte das Rentier und gab seinen Kumpels das Startzeichen, worauf sich die Rentiere - und die Esel und das Maultier - in Richtung Kamin in Bewegung setzten.

    "Ich brauche deine Hilfe, ich stecke fest. Könnt ihr euch so hinstellen, dass ich mich an den Kufen des Schlittens festhalten und ihr mich herausziehen könnt?"

    Alle nickten und brachten den Schlitten in Position. Gustav hielt sich fest und gab den Befehl zum Ziehen. Aber seinem Bauch gefiel es in dem Kamin, weshalb er sich nicht von der Stelle rührte. Die Rentiere - und die Esel und das Maultier - ächzten vor Anstrengung und letztendlich verließen den Weihnachtsmann die Kräfte und er ließ los. Worauf der Schlitten sich schlagartig in Bewegung setzte und sich in die Luft empor schwang. Doch Rudolf drehte schnell um und schon landete er wieder auf dem Dach. Was allerdings eine Schneelawine auslöste und die weiße Pracht landete mit einem lauten "Plumps" auf dem Boden neben dem Haus. Doch keiner von ihnen achtete darauf, alle überlegten sie angestrengt, was sie tun konnten, um von hier fortfliegen zu können - natürlich mit dem Weihnachtsmann.



    Doch der "Plumps" war nicht ungehört geblieben. Der Sohn des Hauses war aufgewacht, ging ans Fenster und hörte sonderbare Geräusche vom Dach. Bertram, von allen nur Bertie genannt, ging leise zur Tür seines Zimmers, öffnete diese und huschte ins Zimmer seiner Schwester, das seinem gegenüberlag. Sophie schlief tief und fest und er musste sie mehrmals leicht schütteln, bis sie endlich aufwachte.

    "Was ist denn los, was willst du mitten in der Nacht?"

    "Auf dem Dach ist jemand", flüsterte Bertie. "Lass uns nachschauen, vielleicht ist das ja der Weihnachtsmann."

    Seine Schwester war mit einem Mal hellwach. Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte schnell in ihre Hausschuhe und die beiden gingen langsam und leise, damit sie ihre Eltern nicht aufweckten, hinauf in den zweiten Stock. Die Fenster der Zimmer hier gingen auf das Dach hinaus und als sie dort hinausschauten, stockte ihnen der Atem - es war tatsächlich der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren. Und zwei Eseln und einem Maultier? Verdattert sahen sich die beiden an.

    "Ich sage dir, das glaubt uns kein Mensch!"

    "Schau mal, ich glaube, der Weihnachtsmann steckt in unserem Kamin fest. Los komm, wir müssen ihm helfen."

    "Wie sollen wir das denn machen?", fragte Bertie.

    "Ich habe schon eine Idee. Warte hier, ich bin gleich wieder da."

    Sophie schlich sich hinab in die Küche, holte eine Stofftasche aus der Schublade und ging in den Vorratsraum, wo sie alle Flaschen mit Salatöl aus dem Regal holte und einpackte. Auf dem Weg nach oben dachte sie sogar noch daran, sich ihre Straßenschuhe anzuziehen und brachte auch ihrem Bruder seine mit. Als sie wieder bei ihm ankam, grinste dieser.

    "Du siehst aus wie ein Packesel. Was hast du denn da alles mitgebracht."

    "Deine Straßenschuhe, denn wir müssen auf das Dach hinaus und .."

    "Spinnst du? Das mache ich garantiert nicht! Alles ist voller Schnee und es ist rutschig. Wenn du da runterfällst, bist du tot."

    "Du meine Güte, was bist du nur für eine Memme! Dann mache ich es halt allein."

    Sophie ging zum Fenster, öffnete es und kletterte hinaus.

    "Los, gibt mir die Stofftasche, mach schon."

    Bertie ging zum Fenster, hob die Tasche hoch und schaute hinein.

    "Salatöl? Was willst du denn damit?"

    "Das wirst du schon sehen", sagte Sophie, schnappte sich die Tasche und ging vorsichtig in Richtung des Kamins.

    "Oje, da kommt ein Menschenkind", sagte Rudolf.

    "Nein, nein, das darf mich auf keinen Fall sehen. Mach irgendwas!"

    "Zu spät", antwortete Rudolf.

    "Hallo Rudolf, hallo Rentiere, hallo Esel und hallo Maultier" grüßte Sophie die Tiere vor dem Schlitten, bevor sie sich Gustav zuwandte. "Hallo Weihnachtsmann. Ich habe gesehen, dass du ihm Kamin stecken geblieben bist und möchte dir helfen."

    Sophie stellte die Stofftasche in den Schnee und holte eine Flasche Salatöl heraus.

    "Ich denke, wenn wir dich damit einölen, müsstest du aus dem Kamin herauskommen."

    Rudolf und die anderen Tiere nickten anerkennend. Das Menschenkind war wirklich clever. Dem Weihnachtsmann indes war nicht so wohl bei der Sache, denn er wusste, dass Mirijam schimpfen würde, wenn er mit total öligen Klamotten nach Hause kommen würde. Er seufzte. Es half ja nichts, da musste er dann einfach durch.

    "Das ist eine gute Idee Sophie. Leere nur alle Flaschen über mich drüber" - was Sophie sofort in Angriff nahm. Eine Flasche nach der anderen kippte sie über dem Weihnachtsmann aus und als alle leer waren, ging sie vorsichtig zurück zum Fenster, wo sie stehenblieb. Die Rentiere - und die beiden Esel und das Maultier - zogen den Schlitten wieder zum Weihnachtsmann, welcher sich abermals an den Kufen festhielt. Die Tiere zogen an, zogen mit aller Kraft und mit einem lauten "Plopp" flutschte Gustav wie der Korken aus der Weinflasche aus dem Kamin hinaus und landete genau auf dem Sitz des Schlittens. Welcher sich sofort in die Luft erhob, eine Ehrenrunde über dem Haus drehte, um dann in den Himmel zu fliegen. Sophie verfolgte ihn mit ihren Augen, bis er am Horizont verschwand. Dann kletterte sie zurück ins Haus, wo sie ihr Bruder sprachlos anschaute. Sie grinste ihn an.

    "Erzähl bloß Mama und Papa nichts davon, sie würden uns eh nicht glauben."

    Bertie nickte und die beiden gingen zurück in ihre Zimmer. Sie schliefen trotz des aufregenden nächtlichen Abenteuers schnell ein und träumten vom Weihnachtsmann, Rentieren, Eseln und einem Maultier.



    Der Weihnachtsmann indes träumte von saftigem Braten mit Klößen und Rotkohl. Von Eiscreme, Keksen und anderen leckeren Sachen. Mirijam hatte ihm nämlich nach seiner Rückkehr klipp und klar gesagt, dass nach Weihnachten eine Diät fällig war - und zwar für ihn. Ach ja, das Leben als Weihnachtsmann war wirklich hart.

  • Der 10. Dezember von Claudia Kociucki


    Fehlfarbe


    Er stach mir gewissermaßen mit seiner Spitze ins Auge. Ich war an meinem ersten Urlaubstag früh morgens aufgebrochen, um Nazaré zu erkunden. Nach ein paar Minuten war ich an dem Aussichtspunkt angelangt, von dem aus man von der Steilklippe der Oberstadt den kompletten unteren Teil des Ortes überblicken konnte. Malerisch. Der Bildausschnitt, der sich mir zuerst bot, bestand zu einem Drittel aus hellblauem Himmel, zu einem Drittel aus dunkelblauem Ozean und zu einem Drittel aus weiß getünchten Häusern mit rot gedeckten Dächern. Es gab kein Grün – bis auf ihn. Mitten aus dem Wirrwarr der engen Straßen da unten ragte ein Nadelbaum hervor. Majestätisch.

    „Seht her“, raunte der Tannenkönig den Gebäuden zu, „ich bin weit über euch hinausgewachsen, während ihr zerfallt und zerbröckelt.“

    Abends thronte er dunkelgrün in der Mitte des Aquarells, das ich in mein Reisetagebuch malte.

    Ich sah ihn täglich. Wenn ich im Atlantik Richtung Land schwamm, von der Strandpromenade aus zur Kabelbahn spazierte oder mit meinem Mietwagen stadtauswärts fuhr, zog er meinen Blick auf sich. Magnetisch. Warum gab es hier im Ort dieses gigantische Nadelgewächs, das aussah wie ein Weihnachtsbaum? Ich folgte seiner Spur durch die Gassen und fand seine Geschichte in dem kleinen Apfelladen von Opa Tiago. Sie erklärt sich beinahe von selbst, wenn man sich vor Augen hält, dass Portugal am äußersten Rand Europas liegt und seine Bewohner seit jeher auswanderungsfreudig waren. Kein Wunder, so sagt man, haben sie doch „den Kontinent im Rücken, die Spanier im Nacken und die Nase im Wind“. Der Atlantik hatte die große Seefahrernation schon immer hinaus in die Ferne gelockt. Heutzutage kehren viele zurück, zumindest für die Sommermonate. Gerne bringen sie eine Erinnerung aus der Fremde mit, die für sie zur Heimat geworden ist. Meistens.


    +++


    Die kleine Carolina saß am Küchentisch in Bergkamen und weinte bitterlich.

    „Ihr seid so gemein!“

    Mussten ihre Eltern ihr unbedingt ihren sechsten Geburtstag verderben? Mussten sie ihr ausgerechnet heute sagen, dass sie in den Sommerferien zurück nach Portugal gehen würden? Dass sie dort eingeschult werden würde. Dort, wo sie nicht zuhause war?

    „Versteh doch, Lininha, ich habe hier keine Arbeit mehr!“ Mama nahm Carolina auf den Schoß. „Ich kann nicht weiter als Schneiderin in der Fabrik bleiben, fast alle werden entlassen. Zudem soll Papa den Laden von Opa in Nazaré übernehmen.“

    „Opa ist krank, ich weiß … aber meine Freundinnen sind hier!“

    So ging es Abend für Abend: Carolina schluchzte, Mama schluchzte irgendwann mit, Papa schwieg und ging mit dem Hund Gassi, bis sich die Lage beruhigt hatte. Bis der Sommer kam.


    Dann hieß es Abschied nehmen: vom Vorschulkindergarten, den Freundinnen, dem Spielplatz an der Ecke und von Tommi aus dem ersten Stock. Auf der zweitägigen Umzugsfahrt überdies von der Tante, die seit über als zwanzig Jahren in einem Dorf bei Saarbrücken lebte, das fast vollständig aus portugiesischen Familien bestand. Carolina saß auf der Rückbank, und die ersten sechs Jahre ihres Lebens verblassten mit jedem der knapp 2500 Kilometer. Ihre Schullaufbahn würde statt in einer ehemaligen Bergbaustadt in Deutschland in einem ehemaligen Fischerdorf in Portugal beginnen. Das hatte sie sich anders vorgestellt.


    Die ersten Monate an der Silberküste waren trotz allem angenehm gewesen: Carolina hatte im Nachbarhaus sofort eine Freundin zum Spielen gefunden. Abends ging die Familie zum Strand herunter, sah dem Sonnenuntergang zu und hielt sich an den Händen. Der Herbst war milder und trockener als in Westfalen, und die Sonne wärmte Carolinas Herz. Manchmal.


    Schnell kam die Adventszeit. Carolina vermisste die Lebkuchen, die Zimtsterne und ihre Schallplatte mit den deutschen Weihnachtsliedern. Am meisten fehlte es ihr, mit Laub zu rascheln, mit Kastanien zu basteln, durch Pfützen zu springen und auf Schnee zu warten.

    „Ach, Mama“, seufzte Carolina, „ich will Weihnachten haben!“

    „Weihnachten gibt es überall auf der Welt“, tröstete die Mutter.

    „Ja, es ist aber nicht wie zuhause!“, beschwerte sich die Tochter.

    „Du bist jetzt hier zuhause!“

    Daraufhin blieb Carolina stumm, denn sie wollte die Mama nicht enttäuschen.


    Opa Tiago war nicht verborgen geblieben, was das Mädchen so traurig machte. Er hatte sich gedacht, dass das passieren könnte. Seitdem sein Sohn damals mit seiner Frau ausgewandert war, hatte der alte Mann eine besondere Überraschung vorbereitet für den Fall, dass sie einmal remigrierten. Es hatte Zeit gebraucht. Zeit und Wasser.


    Schließlich nahte das Weihnachtsfest. Die prunkvolle Messe nachts in der Wallfahrtskirche, die erwartete Carolina mit Freude – auch wenn sie die Kirchenlieder noch nicht auf Portugiesisch mitsingen konnte. Weihnachtsstimmung kam bei ihr dennoch nicht auf, zumal es mit rund fünfzehn Grad erheblich wärmer war als in Bergkamen. Auch waren das Meeresrauschen und der Sand zwischen den Zehen nicht sehr weihnachtlich, fand Carolina.

    „Das Jesuskind ist auf sandigem Boden großgeworden“, sagte die Oma.

    „Das gilt nicht“, sagte Carolina. Außerdem stünde nirgendwo in der Bibel, dass Jesus mit seinen Jüngern eine Sandburg gebaut hätte!

    „Carolina!“, schalt die Oma und bekreuzigte sich.


    +++


    Dass es in Nazaré sogar zwei Tannenbäume gab, wusste am Anfang nicht. Als ich im zweiten Jahr erneut die Stille des frühen Morgens für einen Spaziergang nutzte und die Treppe zur Oberstadt hinaufstieg, machte ich Rast auf der Hälfte des Weges. Ich setzte mich auf eine Bank in der Felswand und genoss das aufgeregte Schreien der Möwen, die sich um die Fischkadaver rund um die Boote stritten. Die Sonne kam von links über den Hügel und tauchte den Himmel, den Ozean und die Häuser zweihundert Meter unter mir in ein leuchtendes Gelb. Da fielen sie mir auf, die Tannen. Sie sahen zu mir hoch und empörten sich, wie ich sie für ein und denselben Baum hätte halten können.

    Schimpft ihr nur, dachte ich, ich habe meine Lektion ja gelernt: Zuweilen bedarf es einer anderen Perspektive und einer Pause, um etwas Neues zu entdecken.

    Die Tannen standen nur ein paar Gassen voneinander entfernt, bislang hatte ich lediglich die eine in der Nähe des Strandes gesehen. Merkwürdig. Sie war kleiner und breiter als ihr Pendent, welches weiter oberhalb stand. Sie schaute sogar mehr wie ein Weihnachtsbaum aus, war insgesamt spitzer.


    +++


    Carolina Großelternpaare lebten beide in Nazaré. Die Opas waren auf exakt die gleiche Idee gekommen und hatten vor vielen Jahren jeder heimlich eine Tanne gepflanzt. Da sie niemals miteinander redeten und nicht einmal grüßten, wenn sie sich sahen, weil sie sich nicht leiden konnten, erfuhr es niemand. Bis Carolina mit ihren Eltern das erste Weihnachtsfest in Nazaré feierte und natürlich all ihre Großeltern besuchte.

    Es war das schönste Weihnachtsfest, das Carolina je gefeiert hatte. Sie lernte ihre vier Omas und Opas richtig kennen, und das Gute daran war: Die merkten ihrerseits, dass sie doch nicht so verschieden voneinander waren, wie sie lange Jahre gedacht hatten. Wenn die Liebe zu Carolina sie verband – was sprach dagegen, den uralten Streit beizulegen?


    +++


    So kam es, dass zwei Tannenbäume ein kleines Mädchen glücklich machten und gleichzeitig zwei Familien wieder zusammenbrachten.

    Das alles ist viele Jahre her, und Carolina ist mittlerweile Inhaberin des kleinen Obstladens. An der Wand hängen zwei Fotos ihrer Großeltern, aufgenommen vor dem kleineren und dem größeren Nadelbaum. Schwarz-weiß natürlich. Ich habe nie einen schmackhafteren Apfel gegessen als an dem Tag, als Carolina mir die Geschichte zu den beiden Bildern erzählte.

    Sollte ich jemals zur Weihnachtszeit hier sein, werden sich die Nazarenos wundern, warum an den Ästen der Tannen zwei glitzernde Kugeln hängen. Apfelgrün natürlich.



    *aus dem soeben erschienenen Buch … und wieder kam Weihnachten so plötzlich! Lichterkettenliteratur ohne Lametta – Claudia Kociucki

    *Claudia Kociucki lebt (wieder und noch) in ihrer Heimat, dem Ruhrgebiet. Ihre Seelenheimat und ihr liebster Platz zum Schreiben aber ist Portugal, wo auch einige der Geschichten und Gedichte verortet sind. Viele hat sie schon veröffentlichen können, doch eigentlich schreibt sie, um ihre Texte auf die Bühne zu bringen – solo oder zu zweit. Hierfür hat sie ein eigenes Lesebühnenformat entwickelt: eine Mischung aus Lesung, Theater, Kabarett und Spoken Word Poetry. Neben dem Schreiben spielt Claudia Kociucki Theater, malt und spielt Klavier. Sie bloggt, moderiert und engagiert sich im Vorstand der Deutschen DepressionsLiga.

  • Der 11. Dezember von baro


    Der Vertrag


    Atlanta, Dezember 2024


    Da sitzt er. Alleine, Hände in Handschellen, ein kahler, weißer Raum, nur ein Edelstahltisch vor ihm, auf einem ungemütlichen, ungepolsterten Stuhl. Und eine Lampe, die ihn blendet. Er kann die gegenüberliegende Seite des Tisches nicht genau erkennen.


    Nordpol, Mai 1931


    Sehr geehrter Herr Weihnachtsmann,


    Im Rahmen unserer alljährlichen Marketingstrategie kommen wir mit einem einzigartigen Angebot auf Sie zu. Die Welt wird düsterer, sie ist im Griff der Weltwirtschaftskrise, vielen Menschen fehlt ein Grund für Freude im Leben, obwohl es auf der Welt doch genug Gründe für Fröhlichkeit gibt. Unter anderem soll dies mit unserer Coca-Cola unterstrichen werden, für einzigartige Momente. Unser Anspruch ist es, allen Menschen den Genuss von Coca-Cola zu ermöglichen, “within an arm's reach of desire”, wie unser Präsident Robert W. Woodruff zu sagen pflegt. Um diesem Ziel näher zu kommen stellen wir uns dabei Sie als unseren zukünftigen Markenbotschafter zur Weihnachtszeit vor. Im Gegenzug unterstützen wir Sie dabei natürlich mit unseren Ressourcen, um die stressige Zeit für Sie zu erleichtern.


    Bitte betrachten Sie das beigelegte Sixpack Coca-Cola als kleine Aufmerksamkeit, best served chilled, aber das sollte bei Ihnen ja kein Problem sein.


    Hochachtungsvoll,

    Archie Lee und Haddon Sundblom

    The Coca-Cola-Company


    Der Weihnachtsmann knüllte den Brief zusammen. “Was für eine Frechheit. Aufgeblasene Wirtschaftsschnösel. Die Welt versinkt im Abgrund, die Menschen leiden, während durch das große Geld gleichzeitig das Empire State Building gebaut wird. Und da kommt eine reiche Firma, und möchte Freude verbreiten. Das ist mein Job, ich lasse die doch nicht auf meinem Schlitten mitfahren.” Er grummelte noch etwas weiter vor sich hin und legte sich bald schlafen.


    Am folgenden Morgen setzte er sich an den Schreibtisch. Er breitete Atlas und Rechenschieber vor sich aus, dazu die große Einsatztabelle seiner fünf Schlitten und Rentier-Gespanne. Damit er punktgenau seine vielen Termine im Dezember unterbringen konnte, benötigte er eine genaue Aufstellung der Flugrouten, Standorte der Ersatz-Gespanne, Lagerplätze für die Geschenke und natürlich mobile Wichtel für die Rentier-Pflege. Jedes Jahr wurde es anstrengender, aufwändiger, und er musste früher anfangen. Da fiel sein Blick auf den zerknüllten Brief…


    Atlanta, Dezember 2024


    Die Tür knallt zu. Eine Polizistin tritt auf ihn zu, kann er gegen das blendende Licht erkennen. Ironischerweise hat sie eine Flasche Coke in der Hand.

    “Wie kamen Sie nur auf die Idee, in einen Hochsicherheitsbereich einzudringen. Was wollten Sie dort überhaupt? Die Überwachungskameras zeigen, dass sie kein Profi sind. Der stumme Alarm ging so schnell los, wir konnten Ihnen sogar ein paar Minuten zuschauen.”

    “Natürlich bin ich Profi.”, entgegnet der Weihnachtsmann empört. “Was meinen Sie, in wie viele Gebäude ich nachts klettere? Normalerweise lasse ich aber etwas da.”

    Patricia seufzt. Wieder ein Typ, der sich als Weihnachtsmann ausgibt. "Also, was wollten Sie dort? Warum sind Sie in die Firmenzentrale von Coca-Cola eingebrochen?”

    Der Weihnachtsmann bewegt seine Hände, als wolle er auf eine Armbanduhr schauen. Die Handschellen klirren gegen den Tisch.

    “Können wir das alles ein bisschen schneller machen? Ich erzähle Ihnen ja alles. Aber im Dezember ist immer ziemlich viel los bei mir. In fünf Stunden muss ich in Stockholm sein.”

    Ein lautes Lachen. “Sie sind in fünf Stunden nirgendwo. Diese Firma ist voll mit Anwälten, da sind wir schön vorsichtig, alles nach Vorschrift. Aber gegen schnell habe ich nichts, im Dezember machen wir genug Überstunden. Da kann ich vielleicht meine Frau mal überraschen, wenn ich pünktlich zu Hause bin.”


    “Also, wo soll ich anfangen. Es war einmal im Jahr 1931, ich kann mich noch genau erinnern.” fängt der Weihnachtsmann an, und Patricia stöhnt innerlich, der pünktliche Feierabend scheint in weite Ferne zu rücken. “Mitten im Mai saß ich an der Planung für den Dezember, Flugrouten, Rentier-Versorgung, und alles weitere. Im Mai. Der Stress wurde einfach immer mehr. Und da bekam ich dieses verlockende Angebot von der Coca-Cola-Company, dass sie mir die Ressourcen der Firma zur Verfügung stellen wollten, wenn ich ihre Werbefigur werde. Mein erster Impuls war natürlich, erbost abzusagen, ich solle das Gesicht einer kapitalistischen Firma werden? Aber naja, mir wuchs einfach alles über den Kopf. Ich meine, Coca-Cola hatte den Anspruch, jeden erreichen zu können mit ihrem Vertriebsnetz, da konnte mir so viel Arbeit abgenommen werden. Ich bin doch nicht der Weihnachtsmann, um mich mit Logistik zu beschäftigen, mir geht es um fröhliche Gesichter, glänzende Kinderaugen.” Der Weihnachtsmann erzählt weitschweifend über die Gründe für die Zusammenarbeit, doch Patricia wird schnell klar, am Ende ist es Bequemlichkeit, die sich der Weihnachtsmann vor sich selbst rechtfertigt.

    “Aber in den letzten Jahren ist mir dann klar geworden, Weihnachten ist nicht mehr das Fest, dass es mal war, es geht nur noch um höher, schneller, teurer. Weihnachten ist das Fest des Kapitalismus, und da hat mein Gesicht für diese Brause”, dabei blickt er angewidert auf die mittlerweile leere Flasche in Patricias Hand, “einen hohen Anteil. Und bevor zukünftig eine KI meinen Job bei Coca-Cola übernimmt, wollte ich dieses Jahr einen Coup zu Weihnachten starten. Ich stehle das Geheimrezept aus dem Hauptquartier in Atlanta und stelle es unter jeden Weihnachtsbaum, den ich erreichen kann. Dann ist es aus mit einer der größten Marken dieser Welt und ich bin wieder frei.”


    Einige Stunden später liegt Patricia bei Anne auf dem Sofa, den Kopf in ihrem Schoß. “Es wird immer schlimmer mit den Verrückten. Heute musste ich schon wieder zwei Überstunden schieben, weil ein Kerl meinte, er sei der Weihnachtsmann, hätte 1931 einen Vertrag mit Coke unterschrieben und wollte sich jetzt rächen. Er wollte das Geheimrezept unter …”, weiter kam sie nicht. Anne verschloss ihren Mund mit einem Kuss. Und so schnell waren alle Gedanken an die Arbeit vergessen.


    Anmerkung: Das Ziel, “within an arm's reach of desire”, wurde 1926 vom Präsidenten Robert W. Woodruff ausgegeben, der danach noch viele Jahre für die Coca-Cola-Company verantwortlich war. Archie Lee beauftragte den Illustrator Haddon Sundblom für die Zeichnung des Weihnachtsmanns für eine Marketingkampagne, Sundblom zeichnete von 1931-1964 für die Weihnachtskampagnen.

  • Der 12. Dezember von Marlowe


    Kasimir und die Eisvögel


    Viele Menschen haben in ihren Wohnungen oder Häusern Mitbewohner, von denen sie oftmals gar nichts wissen. Nein, keine Mäuse oder Spinnen, Fliegen oder Ameisen. Nein, ich rede von einen Wichtel.


    Manche Wichtel sind sehr schweigsam und leise. Sie sprechen nicht mit den Menschen und erledigen alles ganz heimlich. Egal ob sie uns eine Freude machen oder einen Streich spielen. Aber es gibt auch einige, die sind nicht so scheu. Und genau so ein Wichtel wohnt bei mir.


    Er heißt Kasimir und ich hätte ihn nicht entdeckt, wenn ich meine Möbel vor einiger Zeit nicht umgestellt hätte. Ich hatte die Kommode an der einen Seite mehr in die Mitte gerückt und sah plötzlich eine kleine Tür, mit einem Fensterchen darin und davor eine kleine Leiter die zu dieser Türe über der Bodenleiste führte.


    „Das ist ja ein Ding,“ murmelte ich, kniete mich hin und versuchte, die kleine Türe zu öffnen. Aber bevor ich sie wahrscheinlich aus Versehen herausgerissen hätte, wurde das Türchen von innen aufgerissen und da stand ein momentan sehr verschlafen aussehender, langbärtiger und sehr zorniger kleiner Wichtel vor mir und funkelte mich mit seinen kleinen Äuglein unter der roten Wichtelmütze an. „Ja also wirklich, was soll denn das,“ rief er und drohte mir mit seiner kleinen Faust. „Dieses Gepolter und dieser Krach, ich brauche auch meine Ruhe und meinen Schlaf!“ Rief das und schlug mir die Türe vor meiner Nase wieder zu.


    Das war ja wirklich ein tolles Ding, stellte ich für mich fest. Ich hatte gedacht, die Kinder vom Vormieter hätten das da hin gemalt, aber nein, es war echt. Ich hatte tatsächlich einen richtigen, lebenden Wichtel in meiner Wohnung. Jetzt wusste ich, wer mir immer wieder meinen Sachen auf dem Schreibtisch herum rückte, das ich sie nicht mehr da fand, wo ich sie hingelegt hatte. Oder auch der Salzstreuer, mit dem ich mehr als einmal meine Suppen versalzen hatte, weil er nicht richtig fest verschraubt war, hatte nun eine Erklärung gefunden.

    „So nicht,“ sagte ich laut und klopfte vorsichtig an die Wichteltür. Langsam ging die Türe auf. „Lass uns mal miteinander reden,“ sagte ich schnell, bevor er es sich anders überlegte. Da stand er nun wieder vor mir, aber nicht mehr so wütend wie vorher. „Schon gut,“ meinte er. „Entschuldige mein Schimpfen, ich habe es nicht so gemeint. Ich heiße übrigens Kasimir und bin mit Dir zusammen hier eingezogen.“


    „Aha,“ sagte ich. „ Und wo hast Du vorher gewohnt,“ fragte ich ihn dann. „Beim Weihnachtsmann, am Nordpol, aber der meinte dann, es wäre mal Zeit für mich, woanders zu wohnen, für eine kleine Weile sozusagen.“


    Das kam mir komisch vor. „Wieso für eine kleine Weile, ist das üblich für einen Wichtel vom Nordpol?“


    Ich hatte es mir vor der Wichteltür bequem gemacht, stützte mich auf ein Sofakissen und sah ihn fragend an. Er war plötzlich sehr verlegen. „Naja, weißt Du, ich habe den Weihnachtsmann verärgert und da hat er mich verbannt, aus dem Weihnachtsland direkt hierher.“


    „Und was hast Du angestellt, dass Du gleich verbannt wurdest? Das interessierte mich jetzt schon sehr.“


    Kasimir setzte auf die Türschwelle seiner kleinen Türe, ließ die Beinchen baumeln und erzählte:„ Das war so, der Weihnachtsmann hat ein Hobby. Die Trolle müssen ihm ab und zu einen Eisblock heranschaffen und dann schnitzt er daraus einen Eisvogel. Er kann das sehr gut und diese Eisvögel sind wirklich wunderschön. Und eines Tages, er war unterwegs um Geschenkpapier einzukaufen, da kam eine Fee zu Besuch. Ich sollte mich um die Fee kümmern, bis der Weihnachtsmann wieder zurück war und wir spielten ein wenig miteinander und dann zeigte ich ihr die wunderschönen Eisvögel. Sie war total begeistert und als es Zeit für einen Tee wurde, bedankte sie sich bei mir und schenkte mir einen Wunsch, der in Erfüllung geht.


    Also wünschte ich mir, dass die Eisvögel fliegen könnten. Ich dachte, der Weihnachtsmann würde sich auch darüber freuen. Sie erfüllte mir den Wunsch, die Eisvögel wurden lebendig, begannen sich zu putzen, breiteten dann ihre Flügel aus und schwupps, flogen sie in einem Schwarm los und kreisten am Polarhimmel herum. Es war wunderschön anzusehen, sie glitzerten und strahlten funkelnd und blinkend.


    Es war so schön. Ich konnte mich gar nicht beruhigen, so sch nicht mehr, denn der kam mit seinem Transportschlitten herangesaust und flog mitten in die Eisvögelschar. Die waren so erschreckt, dass sie immer höher flogen und dadurch kamen sie leider der Sonne zu nahe. Du kannst Dir denken was dann passierte, sie schmolzen und kamen als Schneeflöckchen wieder zurück.


    Der Transportschlitten kippte bei der Landung um und das ganze Geschenkpapier flog durch die Gegend. Das war dann nicht mehr lustig. Erst musste ich alleine alle Papierrollen einsammeln und dann wurde ich vor allen Wichteln, Trollen und Elfen verwarnt und verbannt, weil ich dauernd so einen Unsinn gemacht habe. Sagte jedenfalls der Weihnachtsmann, dabei habe ich es doch immer nur gut gemeint.“


    Er blickte mich traurig an. „Deshalb bin jetzt hier und warte auf die Nachricht, dass ich wieder zurück darf.“ Er seufzte tief. „Aber ich glaube, das dauert noch was, der Weihnachtsmann war schon sehr sauer!“

    Tja, so war das mit Kasimir. Mein Wichtel wohnt jetzt solange bei mir, bis er wieder ins Weihnachtsland darf. Er darf aber gerne noch lange bleiben, denn er weiß viel zu erzählen. Und vielleicht erzähle ich Euch dann diese Geschichten, dann haben wir alle was davon.

  • Der 13. Dezember von Ingrid Haag


    Spitzbuben


    Karl wendet das Päckchen hin und her. Hundert Gramm geschälte gemahlene Mandeln sollen es seinen Notizen nach sein, aber von geschält ist hier nichts zu lesen. Ob das wichtig ist?

    „Herrschaftszeiten, wird schon passen“, sagt er so laut, als wolle er sich Mut zurufen. Er feuert das Päckchen in den Einkaufskorb und nimmt die weiteren Zutaten aus dem Regal. Vanillezucker, Puderzucker, Mehl, wie im Spitzbubenrezept aufgeführt, das er bei den Küchenengeln im Internet gefunden hat. Einfach hat da gestanden und ausgezeichnet. Hoffentlich stimmt beides!

    „So ein Umstand, dieses Weihnachten.“ Karl reibt sich den Nacken. Wieso hat er sich nicht bremsen können? Gastgeber an Heiligabend, für die Familie, das ist ihm so leicht über die Lippen gegangen. Und die Überraschung in den Augen seiner Tochter hat ihn noch angespornt. Er hat mit seinen Kochkünsten angegeben und auf den erstklassigen Schweinebraten mit Knödeln verwiesen. Bettina hat gelacht und schließlich zugestimmt.


    „Das hast jetzt davon, du alter Depp.“ Das Lachen will Karl nicht recht gelingen. In seinem Schwung hat er übersehen, dass es an Heiligabend nicht nur um den Braten geht. Es muss Weihnachtsplätzchen geben, natürlich selbst gebacken. Spitzbuben, Vanillekipferl, Makronen, wie jedes Jahr. Er nimmt seine Brille ab und reibt sich ausgiebig die Augen. Seit er geschieden ist, kocht er mit Leidenschaft. Aber gebacken hat er noch nie. Für sein Stück Kuchen – und für den Ratsch mit der feschen Besitzerin – pilgert er jeden Sonntag ins Café Luise. Aber Plätzchen? Die kann er unmöglich kaufen, die Blöße gibt er sich nicht. Nicht vor Luise und nicht vor seiner Familie. Vor allem Spitzbuben muss er haben, Bettinas Lieblingsplätzchen. Schon als kleines Mädchen hat sie jeden einzelnen Spitzbuben mit Sorgfalt in Einzelteile zerlegt und genussvoll gegessen. Enkelin Anna macht es ganz genau wie ihre Mama. Ohne Spitzbuben kein richtiges Weihnachten!

    Mit einer Flasche von dem Chianti, den er rechtzeitig vor dem großen Abend testen will, beendet Karl die Einkaufsrunde und ordnet seine Sachen in den Rucksack. Er setzt die Mütze auf, zieht seine Handschuhe über und radelt nach Hause. Es ist kalt und feucht geworden, der Schnee lässt vor dem zweiten Advent auf sich warten.


    Tags darauf geht es in Karls Küche hoch her. Kater Toni sitzt auf der Eckbank, bereit, sich jeden Moment in Sicherheit zu bringen.

    „Sacklzement!“ Karl reißt die Balkontür auf, in eine Mehlwolke gehüllt. Er zerrt an der Chefkoch-Schürze und rauft sich die verbliebenen Haare, bis sie in alle Richtungen abstehen.

    „Butter schaumig schlagen“, schnaubt er und deutet sich an die Stirn. „Butter. Schaumig! So ein Schmarren!“

    Aus den Zutaten solle er nach Rezept rasch einen Teig kneten, steht im Rezept. Aber was bedeutet denn rasch? Der traurige Haufen auf seiner Arbeitsplatte sieht so gar nicht aus, als ließe er sich zu irgendetwas kneten.

    „Himmelherrgott!“ Karl ballt die Hände zu Fäusten und schnauft, wütend über sich selbst, die Küchenengel und die ganze Welt. Toni macht einen Satz und verzieht sich ins Wohnzimmer. Feuchte Luft strömt in die Küche und kühlt Karls Gemüt. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen schiebt er den Haufen von der Arbeitsplatte in den Mülleimer, wäscht sich gründlich die Hände und schafft es nach dem sechsten Läuten ans Telefon.

    „Servus, Vater! Wie geht es voran?“

    Karl nuschelt etwas von sehr gut laufenden Vorbereitungen für das Festessen. „Gerade bin ich beim Plätzchenbacken“, schiebt er hinterher und kreuzt sicherheitshalber die Finger hinter dem Rücken. „Die Spitzbuben kommen als Nächstes dran.“

    Nachdem das Gespräch beendet ist, schenkt er sich ein gekühltes Augustiner ein, nimmt einen langen Schluck und wischt sich den Schaum vom Mund. Die Hochstimmung nach Bettinas Juchzer ist vorbei. „Herrschaftszeiten! Wäre ich bloß rechtzeitig verreist!“


    Am nächsten Morgen reißt ihn das Telefon aus dem Tiefschlaf.

    „Guten Morgen, Schlafmütze! Hast du Lust auf einen Spaziergang?“ Karls müdes Knurren scheint seine gute Freundin nicht zu irritieren. „Auf geht's. Die Sonne scheint, ich habe Croissants gebacken und brauche dich als Testesser.“

    Karl springt aus dem Bett wie ein Jungspund, schlagartig wach. Toni, der seit einer Weile hungrig auf dem Vorleger sitzt, macht einen Satz zur Seite.

    Eine Stunde später spazieren Karl und Sieglinde am Isarufer entlang. Die Wintersonne hat die feuchte Luft erwärmt, Jogger und Radler teilen sich die Wege mit Spaziergängern, es riecht ganz leicht nach Grillgut.

    „Schön ist es heute, fast wie im Frühling“, seufzt Karl und wünscht sich exakt dorthin. Nach einer Pause ergänzt er vorsichtig: „Wie soll man denn dabei in Weihnachtsstimmung kommen?“

    Sieglinde weicht einem Jogger in kurzen Hosen aus. „Bestimmt gibt’s in den Läden bald Schokohasen.“

    „Weißt was?“ Karl wirft ihr einen Seitenblick zu. „Ich werde heute Plätzchen backen. Für die Stimmung.“

    „Plätzchen. Du.“ Sieglinde sieht ihn mit so großen Augen an, dass er fast beleidigt ist.

    „Magst mitmachen?“ Er legt all seine Überzeugungskraft in die Frage. „Für die Stimmung, meine ich.“


    Zwei Wochen später, kurz vor dem vierten Advent, hat es endlich begonnen zu schneien. „Leise rieselt der Schnee“, trällert Karl, öffnet die Balkontür und lässt frische Winterluft in die überhitzte Küche. Er drückt seinen Rücken durch und nimmt die Schürze ab. Die Spitzbuben sind endlich im Ofen. Zeit durchzuatmen. Karl füllt zwei Gläser mit Chianti und prostet Sieglinde zu.

    Sie fährt sich mit dem Handrücken über die leicht bemehlte Stirn. „Das wird ein Fest, Karl! Auf den eifrigsten Weihnachtsbäcker aller Zeiten.“

    Er nimmt einen kräftigen Schluck. In den letzten Tagen haben sie Wunder vollbracht. Also, Sieglinde hauptsächlich, muss er zugeben. Bunt glasierte Butterplätzchen, Kokosmakronen, Vanillekipferl und jetzt die Spitzbuben nach dem Rezept aus dem Internet. Seine Wohnung duftet süß und weihnachtlich. Karl fühlt einen Kloß im Hals und räuspert sich. An Heiligabend werden seine Lieben alle Lieblingsplätzchen auf dem Teller finden. Sieglinde wird ihm dabei helfen, hat sie versprochen. Sogar gern, wie es ausschaut.


    Den Haarkranz geglättet, in weißem Hemd und seiner roten Merry-Christmas-Schürze steht Karl am 24. Dezember in der Küche vor dem Schweinebraten. Aus dem Wohnzimmer klingt mehrstimmiges Gelächter, gemischt mit Gläserklirren und Weihnachtsmusik. „Jingle bells, jingle bells, jingle all the way“, singt Karl, leiser als sonst, und wiegt sich im Takt.

    „Für deinen Schwiegersohn gleich eine Scheibe mehr.“ Sieglinde, im grünen Samtkleid appetitlich anzusehen, knufft ihn in die Seite und hält ihm einen Teller entgegen.

    Karl legt nach, bis nur noch ein Rest Fleisch übrig ist, über den sich Toni später freuen wird. Der Braten ist ein voller Erfolg. Enkel Maxi hält mit den Erwachsenen mit, und sogar Anna hat Opas Knödel mit Bratensoße probiert.

    „So, jetzt ist es so weit. Jetzt kommt der Höhepunkt.“ Karl wischt den Schweiß von der Stirn, legt die Schürze ab und holt die Platte, auf der er am Nachmittag einigermaßen kunstvoll die Plätzchen arrangiert hat, aus der Speisekammer. Sieglinde hat die Gäste ins Wohnzimmer dirigiert. Sie serviert den Chianti und Kirschsaft für die Kinder. Karl stellt die Platte vorsichtig mitten auf den Couchtisch und blickt betont lässig in die staunende Runde.

    „Papa, du bist ein Schatz!“

    „Die hast du aber nicht selbst gemacht, oder?“

    „Oh, schau, Mami, rosa Herzplätzchen!“

    „Die Makronen schauen perfekt aus, wie bei Mama!“

    „Mensch, sogar Spitzbuben gibt es!“

    Die Stimmen klingen durcheinander. Karl kann nur ein „Selbstverständlich!“ in die Runde werfen. Bettina strahlt. Sieglinde zwinkert ihm zu.


    Eine Stunde später haben alle ihre Geschenke ausgepackt und Ruhe gefunden. Maxi und sein Vater hängen über der neuen Spielekonsole, die elektronischen Geräusche mischen sich mit dem Weihnachtskonzert der Regensburger Domspatzen. Anna sitzt zwischen Bettina und Sieglinde auf der Couch und kämpft sichtbar gegen den Schlaf. Vielleicht liegt das auch an dem neuen neongrünen Schlafanzug, den Karl erst beim zweiten Hinschauen irgendwie schön findet. Toni thront zwischen Geschenkpapier und Sofakissen und schaut den Damen zu, die jedes einzelne Plätzchen begutachten und mit genussvollen „Mmh“ und „Aah“ verzehren.

    Karl lehnt sich in seinem Ohrensessel zurück, ein Glas Chianti in der Hand. Er betrachtet seine Gäste und seufzt glücklich. Alle Anspannung ist von ihm abgefallen. Beseelt steht er auf, tritt ans Fenster und schaut auf die schneebedeckten Isarauen. „Herrschaftszeiten“, murmelt er. „Ich glaube, das mache ich nächstes Jahr wieder!“

  • Der 14. Dezember von belladonna


    Last Christmas


    Last Christmas, I gave you my heart…“, von September bis nach Weihnachten ist dieser

    Ohrwurm von Wham! allgegenwärtig und erst recht in diesem Jahr zu seinem 40. Jubiläum.

    Man entkommt ihm einfach nicht: ob im Autoradio, in den Geschäften oder auf dem

    Weihnachtsmarkt, überall bohrt er sich einem früher oder später in den Gehörgang. Die einen

    lieben diesen Song, die anderen hassen ihn, aber für mich hat er einen ganz besonders

    perfiden Beigeschmack, denn ob ihr es glaubt oder nicht, dieses Lied erzählt meine

    Geschichte.


    Last Christmas…


    Es war im Dezember 1984. Ich war 19, stand kurz vor dem Abitur und war zum ersten Mal so

    richtig verliebt. Daniela hieß sie und saß in meinem Englischkurs zwei Reihen vor mir, was es

    mir nahezu unmöglich machte, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, weil ich regelmäßig

    in Kontemplation ihres wunderbaren Rückens und ihrer langen, dunkelbraunen Locken

    versank. Im Englisch-Unterricht hatten wir uns einige Wochen zuvor auch näher kennen

    gelernt, als das Losglück uns für eine Partnerarbeit zusammenbrachte. Dieses Projekt brachte

    es mit sich, dass wir uns auch privat einige Malen trafen. Da uns das Englisch-Thema beide

    nicht so wirklich interessierte, unterhielten wir uns mehr über andere Dinge und stellten fest,

    dass wir durchaus einige Gemeinsamkeiten hatten. Wir mochten die gleichen Filme, hörten

    beide gerne Queen und fanden das Leben in unserer Kleinstadt gleichermaßen öde.


    Als wir schließlich unser Referat fertig hatten, hatte ich mich rettungslos in Daniela verliebt

    und war der festen Überzeugung, dass sie mich ebenfalls mochte. Zumindest nahm sie meine

    Einladung, die überstandene Präsentation unseres Referats bei einer Pizza in unserem

    Stammlokal neben der Schule zu feiern, bereitwillig an. Dass sie wie ich am liebsten Pizza

    mit Salami und Champignons aß und sowohl Thunfisch als auch Ananas auf einer Pizza für

    ein Verbrechen an der Menschheit hielt, war für mich ein weiterer Hinweis, dass wir

    füreinander bestimmt waren. Wir verbrachten einen lustigen Nachmittag zusammen und

    waren uns beim Abschied einig, dass wir uns in Zukunft öfter treffen wollten.


    An den Wochenenden war ein Teil der Oberstufe regelmäßig im Rudel unterwegs und diesen

    Unternehmungen schloss sich nun auch Daniela immer öfter an, meist in Begleitung ihrer

    Freundin Kerstin. Daniela um eine Verabredung zu zweit zu bitten, dazu war ich zu

    schüchtern. Also himmelte ich sie weiter an und war glücklich, wenn sie zufällig neben mir

    saß oder spontan meine Hand ergriff, um beim Disco-Laufen im Eisstadion nicht das

    Gleichgewicht zu verlieren. Insgeheim zermarterte ich mir jedoch das Gehirn, wie ich ihr

    zeigen sollte, dass sie mehr für mich war als nur eine Kumpel-Freundin und dass ich gerne

    mit ihr zusammen sein wollte.


    Am letzten Adventswochenende wagte ich einen ersten Schritt. Thomas feierte seinen

    Geburtstag im Partykeller seiner Eltern und ich hatte ihn überredet, auch Daniela und Kerstin

    einzuladen. Der Abend verlief wie alle unsere Partys damals, es gab allerlei zu essen und zu

    trinken, dazu einen selbstgemachten Weihnachtspunsch, und irgendwann trauten sich die

    ersten auf die Tanzfläche. Auch Daniela und Kerstin tanzten und so sprang ich, befeuert vom

    Punsch, über meinen Schatten und wagte ebenfalls ein paar rhythmische Verrenkungen. Ich

    hatte mich gerade zu Daniela vorgearbeitet und tanzte um sie herum, als irgendein Spaßvogel

    das Licht dimmte, langsame Musik auflegte und laut rief: „Schwof-Runde!“ Vor Schreck

    wäre ich fast über meine eigenen Füße gestolpert, doch da legte mir Daniela die Hände auf die

    Schultern und ehe ich es mich versah, standen wir eng umschlungen da und wiegten uns im

    Takt zur Musik. Ich war im siebten Himmel und hätte am liebsten die Zeit angehalten, aber

    natürlich ging irgendwann das Licht an und die Musik wurde wieder schneller. Am liebsten

    hätte ich jetzt etwas Schlaues gesagt, um Daniela weiter festhalten zu können, aber leider fiel

    mir nichts Besseres ein als „Magst du auch was trinken?“, worauf sie nur „Ja gerne!“

    antwortete, sich umdrehte und losging Richtung Buffet. Wir tanzten an diesem Abend noch

    einige Male miteinander, aber nicht mehr mit Tuchfühlung, und somit hatte ich den richtigen

    Moment, Daniela näherzukommen, wieder einmal verpasst.


    In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen, was nicht nur an dem vielen Punsch in

    Kombination mit Thomas‘ Chili con Carne lag. Ich grübelte und grübelte, was ich wegen

    Daniela unternehmen sollte. Endlich, in den frühen Morgenstunden, beschloss ich, ihr ein

    Weihnachtsgeschenk zu besorgen und zusammen mit einer passenden Weihnachtskarte zu

    überreichen, auf der ich ihr meine Gefühle offenbaren würde.


    … I gave you my heart…


    Dann kam der 24. Dezember. An diesem Tag traf sich die Oberstufe traditionell mittags auf

    dem Weihnachtsmarkt, bevor der am Nachmittag seine Pforten schloss und wir uns alle den

    mehr oder weniger nervigen Weihnachtsritualen unserer Familien stellen mussten. Ich war am

    Tag zuvor noch losgezogen und hatte einen Schal gekauft, der wunderbar weich war und toll

    zu Danielas Haarfarbe passte. Den restlichen Nachmittag hatte ich damit verbracht, mir einen

    Text für die Weihnachtskarte zu überlegen, der nicht zu schwülstig war und doch ausdrückte,

    was ich ihr sagen wollte. Dieses Geschenk hatte ich nun griffbereit in meiner Jackentasche

    und wartete auf den richtigen Augenblick, um es Daniela ungestört überreichen zu können.

    Als der Besitzer des Glühweinstandes uns gegen drei Uhr zu verstehen gab, dass nun

    endgültig Feierabend sei, bot ich Daniela an, sie noch nach Hause zu begleiten. Sie nahm

    erfreut an und hakte sich sogar bei mir unter, was ich als gutes Zeichen wertete. An der

    Straßenecke vor ihrem Haus blieb ich stehen und holte das Päckchen aus meiner

    Jackentasche. „Frohe Weihnachten!“, sagte ich und schob hinterher: „Ist nur ne Kleinigkeit!“

    Für diesen letzten Satz hätte ich mich schon wieder in den Allerwertesten beißen können.

    Daniela sah mich überrascht an: „Oh, danke schön, das ist ja lieb von dir! Darf ich es schon

    aufmachen?“ „Ja, natürlich, mach ruhig auf!“ erwiderte ich und sah gespannt zu, wie sie

    vorsichtig das Geschenkpapier löste und den Schal herausholte. „Der ist ja schön, vielen

    Dank!“ Sie strahlte mich an und gab mir spontan einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich den

    Schal umlegte und bis zur Nasenspitze darin verschwand. „Die Karte lese ich später in Ruhe,

    okay? Ich glaube, ich muss jetzt rein, meine Großeltern sind bestimmt schon da.“ „Äh, ja,

    klar, natürlich…“, murmelte ich, weil ich mal wieder nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

    „Hauptsache, der Schal gefällt dir! Und frohe Weihnachten!“ Doch da hatte sie sich schon

    zum Gehen gewandt. „Kommst du morgen Abend eigentlich auch zur Weihnachtsdisco?“, rief

    ich ihr noch hinterher. „Ja, klar!“. Sie drehte sich noch einmal kurz um und winkte mir zu.

    „Ich freu mich schon – immer nur Verwandtschaft ist so öde! Bis morgen!“ Damit

    verschwand sie ins Haus.


    Ich lief wie auf Wolken nach Hause. Das hatte doch prima geklappt – sogar geküsst hatte sie

    mich! Wenn das nicht der Beweis war, dass Daniela mich wirklich mochte, dann wusste ich

    auch nicht mehr weiter. Vom Heiligen Abend, dem Weihnachtsessen und der Bescherung

    bekam ich nicht viel mit, auch den Kommentar meiner Oma, ich würde ja strahlen wie das

    Jesuskind persönlich, nahm ich nur mit einem Grinsen zur Kenntnis. Mein schönstes

    Weihnachtsgeschenk hatte ich bereits bekommen, alles andere konnte mir egal sein.


    But the very next day, you gave it away.


    Der erste Weihnachtsfeiertag zog sich diesmal wie Kaugummi, da ich es kaum erwarten

    konnte, abends die anderen aus meinem Jahrgang und natürlich Daniela in der Diskothek zu

    treffen. Natürlich bestanden meine Eltern darauf, dass ich mit ihnen und Oma nach dem Essen

    noch eine Runde Karten spielte, aber als auch das überstanden war, schwang ich mich auf

    mein Fahrrad und radelte im Eiltempo zur Disco, die schon gut besucht war. Im Innenraum

    glitt mein Blick suchend über die Menschenmenge. Etliche meiner Freunde waren schon da,

    aber wo war Daniela? Da blieb mein Blick an einem Pärchen hängen, das in einer Ecke stand

    und hingebungsvoll knutschte. Es waren Daniela und ein Typ, den ich als Stefan aus dem

    Wirtschafts-LK identifizierte. Die beiden schienen die Welt um sich herum vergessen zu

    haben und küssten sich so innig, dass selbst mir klar wurde, dass sie das nicht zum ersten Mal

    taten. Ich war wie vom Donner gerührt. Das durfte doch nicht wahr sein! Daniela und Stefan?

    Ausgerechnet dieser Schnösel und ewige Besserwisser? Und wie um alles in der Welt hatte

    ich das nicht bemerken können? Am liebsten hätte ich wahlweise losgeheult oder auf Stefan

    eingeprügelt, doch da beides keine Option war, drehte ich mich nur wortlos um und floh nach

    draußen. Weihnachten war für mich gelaufen und eigentlich auch alles andere, denn wie sollte

    ich nach dieser Schmach jemals wieder Daniela gegenübertreten?


    Die Weihnachtsferien verbrachte ich in meinem Zimmer. Ich war fertig mit der Welt, wollte

    niemanden hören und sehen und vergrub mich in meine Abivorbereitungen. Ich verstand

    immer noch nicht, wie ich mich so in Daniela hatte täuschen können – war ich wirklich so

    blind vor Liebe gewesen, dass ich nicht gemerkt hatte, dass sie längst mit einem anderen

    zusammen war? Und dann schenkte ich ihr auch noch mein Herz zu Weihnachten!

    Vermutlich hatte sie sich köstlich amüsiert, als sie in ihrem Zimmer meine Karte mit der

    sorgfältig formulierten Liebeserklärung las. Jetzt war mein Herz fort, an seiner Stelle befand

    sich nur noch ein kalter Eisklumpen und ich fühlte mich innerlich wie gefroren.


    This year, to save me from tears…


    Tja, wie ging die Geschichte weiter? Nicht ganz so romantisch wie bei George Michael. Ich

    brachte die Zeit bis zum Abitur noch mehr schlecht als recht hinter mich, wobei ich Daniela

    aus dem Weg ging, wo ich nur konnte, was an unserer kleinen Schule nicht ganz einfach war.

    Danach trat ich meinen Zivildienst in einem Sanatorium auf einer Nordsee-Insel an, möglichst

    weit weg von zu Hause und allem, was mich an Daniela erinnerte.


    Zu Weihnachten kam ich nach Hause, und obwohl die ganze Misere nun schon ein Jahr her

    war, fühlte ich nach wie vor einen Stich in der Brust, wenn ich Daniela aus der Ferne sah, was

    sich leider nicht immer vermeiden ließ. Die Weihnachtsdisco allerdings schenkte ich mir,

    stattdessen fuhr ich möglichst schnell wieder an die Nordsee zurück.


    … I’ll give it to someone special.


    Auch das hat nicht so ganz funktioniert. Ich war schon immer ein eher introvertierter,

    schüchterner Typ und das Erlebnis mit Daniela hat mir für lange Zeit die Lust auf weitere

    Beziehungsabenteuer genommen. Nach dem Zivildienst studierte ich Meeresbiologie und

    verbrachte anschließend etliche Jahre an der Küste und auf verschiedenen Inseln – je

    einsamer, desto besser. Mein „someone special“ in dieser Zeit wurde eine Labrador-Hündin

    namens Ashley, die mich lange Jahre treu begleitete.


    Erst gut 30 Jahre nach jenem fatalen Weihnachten habe ich den Glauben an die Liebe

    wiedergefunden dank einer lieben Kollegin, die mich nicht aufgab, sondern mir ihre Zeit, ihre

    Zuneigung und schließlich auch ihr Herz schenkte. Und mittlerweile kann ich auch wieder

    „Last Christmas“ hören, ohne dass es mir sofort kalt den Rücken hinunterläuft.


    So long!

  • Der 15. Dezember von SiCollier


    Weihnachtswünsche



    Die Weihnachtszeit ist die Zeit der Wunder, zumindest wenn man den Aussagen in einschlägigen Filmen Glauben schenkt. Und in der Tat - die Wunder geschehen da dann auch. Aber im wirklichen Leben? Wo bleiben da die Wunder? Alles nur Wunschdenken?


    Manche Weihnachtswünsche können einfach nicht erfüllt werden, egal wie festlich die Lichter leuchten oder wie schön der Weihnachtsbaum ist.“*


    Diese Bemerkung fällt in den ersten Minuten des Weihnachtsfilmes „My Grown-Up Christmas Wish“, und er wird mit derart melancholisch-traurigem Unterton gesprochen, daß man weiß: dieser Satz ist wahr. Aber wenn schon im Film nicht alle Wünsche erfüllt werden können, wie dann im „wirklichen Leben“?


    „Manche Weihnachtswünsche können einfach nicht erfüllt werden...“


    Bevor man nun alle Hoffnung aufgibt, lohnt es sich, den Blick auf das erste Wort „manche“ zu lenken. Zu den unerfüllbaren Wünschen gehört, gerade in der heutigen Zeit, sicherlich der nach dem Frieden in der Welt. Wenn man sich umsieht: auf jeden Fall unerfüllbar. Egal wie viel Schnee an Weihnachten fällt (oder auch nicht fällt), wie sehr man bittet, betet oder sich wünscht. Selbst bei Lukas heißt es „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lukas 2.21, Einheitsübersetzung 2017). Schon damals gab es also eine Einschränkung.


    Bleiben die etwas kleineren Wünsche.


    „Manche Weihnachtswünsche können einfach nicht erfüllt werden...“


    Wie war das eigentlich früher mit den Weihnachtswünschen? Jahre, vielleicht Jahrzehnte ist es her, da waren sie überschaubar, paßten auf ein Blatt Papier, „Wunschzettel“ genannt, der auf recht seltsamen Wegen, so wurde es einem jedenfalls gesagt, den Weg zum Nordpol fand, wo der Weihnachtsmann wohnen sollte, der diese Wünsche dann erfüllen konnte. So sehr man auch wissen wollte, wie denn ein solcher Brief an den dorthin gelangen konnte, ist es doch nie gelungen, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Abends draußen auf das Fensterbrett gelegt, war der Zettel am nächsten Morgen auf wundersame Weise verschwunden. Nun denn. Aber schon damals wurden nicht alle Wünsche erfüllt, auch wenn sie jedes Jahr aufs Neue auf dem Wunschzettel Platz fanden. Vielleicht waren es zu viele Wünsche, der Schlitten war voll, sie paßten nicht mehr in den Sack hinein oder was es da noch für Gründe gegeben haben mochte.


    Und so vergingen die Jahre, die Magie verblaßte, die Wünsche änderten sich, wurden „erwachsener“, rationaler, erfüllbarer. Meistens jedenfalls. Wirklich meistens?


    „Manche Weihnachtswünsche können einfach nicht erfüllt werden...“


    Im Liedtext „My Grown-Up Christmas List“** gibt es so eine Liste nicht erfüllbarer Wünsche. Na ja, sie könnten schon erfüllt werden, wäre die Welt eine andere als sie nunmal ist. Keine neuen Kriege, jeder sollte einen Freund haben, das Gute gewinnt immer etwa. Wunschdenken halt.


    Aber es gibt noch eine andere Art von Wünschen, die sich nicht erfüllen lassen.


    Weihnachten ist ursprünglich das Fest der Geburt des Herrn. Wenn ein Kind geboren wird, entsteht eine Familie (im traditionellen Sinne gesehen). Wohl nicht zuletzt deshalb hat sich Weihnachten als ein - oder auch zu dem - Fest der Familie entwickelt. Aber auf eine Geburt folgt, so sicher wie das Amen in der Kirche, unweigerlich ein Tod. Wenn sich die Familie früher versammelte, konnte durchaus eine stattliche Anzahl an Personen, klein wie groß, zusammen kommen. Man feierte, war fröhlich oder besinnlich, und wie immer gab es mindestens ein Mal Streit, mehr oder weniger heftig, bis sich spätestens beim „Stille Nacht, Heilige Nacht...“ alle wieder vertrugen und einträchtig beieinander waren. Vielleicht sind die Erinnerungen im Rückblick verklärt, auf jeden Fall sind es gute Erinnerungen.


    Doch die Jahre vergingen, die Zeiten änderten sich, man selbst änderte sich, und die gemeinsamen Weihnachten auch. Neue Menschen kamen hinzu, aber seltsamerweise erweiterte sich der Kreis nicht auf Dauer. Im Gegenteil. Immer wieder blieb ein Stuhl leer, ein Platz frei, entstand eine Lücke, die nie mehr verschwinden würde. Die Reihen „drüben“ füllen sich.


    Manche Weihnachtswünsche können einfach nicht erfüllt werden, egal wie festlich die Lichter leuchten oder wie schön der Weihnachtsbaum ist.“*


    So treffen an Weihnachten gegensätzliche Themen aufeinander: Freud und Leid, Geburt und Tod, Zeit und Ewigkeit. Ob diese Tage und Wochen auch deshalb so enorm emotional aufgeladen sind? Schon immer waren? Mir fallen da die Weihnachtskonzerte von Meistern wie Arcangelo Corelli, Giuseppe Torelli oder auch Pietro Locatelli ein, die all das (auch) zu beinhalten scheinen. Was bleibt also? Wenn auch nicht alle Weihnachtswünsche erfüllbar sind, sollte man sich auf das Wesentliche, auf die Wesentlichen, besinnen: Weihnachten geht es nicht um Dinge, es geht um Menschen, es geht um Gefühle. Und um die Zeit, die wir miteinander verbringen. Denn so sehr man sich das wünschen mag, verpaßte Zeit miteinander ist durch nichts mehr zurückzubringen.


    Und so sollte man sich den Weihnachtswunsch, Zeit miteinander zu verbringen, sich Zeit mit anderen zu schenken, erfüllen, solange man es noch kann. Denn wie schon Santa einmal sagte: „Die besten Geschenke haben keine Schleifen.“*




    * Originaltexte im Film „My Grown-Up Christmas List“:

    „Some christmas wishes just can't be granted, no matter how bright the lights or how beautiful the tree.“ (Stelle: ca. 2'40“)

    „The best gifts don’t have bows.“ (Mehrfach im Film)

    ** = „My Grown-Up Christmas List“ von David Foster/Linda Thompson-Jenner

  • Der 16. Dezember von Booklooker


    “Mit wem sprichst du?" Irritiert lugte Neele an mir vorbei, um die Person zu sehen, mit der ich gerade gesprochen hatte.

    "Mit der Frau, die mir gerade diesen Brief in die Hand gedrückt hat." Im Gewimmel des Weihnachtsmarktes versuchte ich, die ältere Dame auszumachen, die unvermittelt vor mir gestanden hatte und mir wortlos den blassbauen Brief, den ich in der Hand hielt, in die Hand gedrückt hatte. Er trug keinen Empfänger und keinen Absender. Was hatte das zu bedeuten? Ich hatte noch versucht, ihr etwas darüber zu entlocken, aber sie war einfach davon gegangen.

    "Da war keine Frau neben dir." stellte Neele fest. "Du immer mit deinen Geschichten."

    "Und wo soll er auf einmal hergekommen sein? Ich habe ihn ja nicht aus meiner Jackentasche gezaubert."

    "Das würde ich dir auch noch zutrauen." lachte Neele. "Komm, lass uns mal einen Glühwein trinken gehen. Ich habe Durst und mir ist kalt." Schon verschwand sie im Getümmel und ließ mich, ohne sich umzublicken, stehen.

    Unser Weihnachtsmarkt war ziemlich klein und bestand fast nur aus Fress- und Getränkebuden, so dass ich meist auf einen Besuch verzichtete. Dieses Jahr hatte Neele sich gewünscht, dass wir ihren Geburtstag erst auf dem Weihnachtsmarkt feierten, wenn man das überhaupt feiern nennen konnte, und anschließend in ihrem Lieblingsrestaurant ausklingen ließen.

    Dick in meine warme Jacke eingemummelt und mit Mütze auf dem Kopf suchte ich mir meinen Weg durch die Menge in Richtung Glühweinstand. Verdammt, war das kalt. Gestern waren es noch erträglich gewesen, doch über Nacht hatte es geschneit. Ich liebte Schnee, aber nicht, wenn man stundenlang auf der Stelle stand und sich die Beine abfror. Auch jetzt rieselten kleine Flocken vom Himmel, die diesen Ort zu einem heimeligen Ort hätten machen sollen. Doch gerade heute nervte mich diese heile Welt.

    Als ich den Tisch erreichte, an dem Neele bereits mit zwei Tassen dampfenden Glühweins auf mich wartete, stellte ich fest, dass sich noch jemand zu uns gesellt hatte. Ole, Neeles Freund, der eigentlich beruflich unterwegs sein sollte und den nun wohl doch eher zurückgekommen war. Enttäuschung machte sich in mir breit. Wenn ich mit den beiden Zeit verbrachte, fühlte ich mich immer überflüssig. Neele und Ole waren durch ein unsichtbares Band verbunden, das mich auf eine Art ausschloss, die ich nicht benennen konnte. Ich wusste, dass dies keine Absicht von den beiden war, aber ich konnte es trotz allem manchmal nur schwer ertragen. Heute schien so ein Tag zu sein.

    "Hey, Conny! Alles klar?" Ole umarmte mich freundschaftlich.

    "Hi Ole. Ich wusste gar nicht, dass du im Lande bist. Wolltest du nicht in Frankreich auf Geschäftsreise sein?" Dann hättest du uns nicht bei unsrem Zweierdate gestört. Neid ist kein schönes Gefühl. Ich merkte, wie ein leicht schmerzhaftes Ziehen von meinem Magen bis hinauf zu meinem Herzen hocharbeitete. Ich hatte gedacht, dass ich zumindest heute Neele für mich haben würde. An normalen Tagen gab es die beiden nämlich nur im Doppelpack. Sie ähnelten sich von Tag zu Tag mehr in ihrer Art zu sprechen und auch in ihrer Art zu denken. Als hätte ein tückischer Virus von ihnen Besitz ergriffen.

    Ole zuckte mit den Achseln. "Der Auftrag war schneller beendet als ich dachte. Ich bin gerade eben erst angekommen und direkt zu euch geeilt." Er sah Neele mit einem verliebten Blick an. Ich konnte das nicht mehr lange ertragen. Ob ich eine Krankheit vortäuschen sollte, um nicht mit zum Essen zu müssen?

    "Was steht eigentlich in dem Brief?" fragend sah Neele mich an. Ach ja, der Brief. Ich hielt ihn immer noch in der Hand. Jetzt spürte ich, dass meine Hand zu Eis gefroren war. Wie konnte es sein, dass ich das bis gerade nicht bemerkt hatte?

    "Warte mal kurz, ich habe noch nicht reingesehen." Ich nestelte an dem Umschlag herum, steckte den Finger in die Lücke, die am oberen Rand entstanden war und öffnete den Umschlag, indem ich den Finger entlang des oberen Teils des Briefumschlags zog. "Heute um 20 Uhr am Marktplatz. Ich warte am Brunnen auf dich. Sei pünktlich." Ratlos sah ich Neele und Ole an. "Was soll denn sowas?"

    "Gib mal her." Neele riss mir den Umschlag aus der Hand und riss, wie ich Sekunden zuvor, die Augen auf. "Wer ist das?"

    "Woher soll ich das wissen? Ich sehe auch keinen Absender auf dem Umschlag." Ich merkte selbst, dass ich nicht fair zu ihr war, aber diese Frage war einfach dämlich.

    "Am besten gehen wir gemeinsam hin. Wer weiß, vielleicht ist das ein Massenmörder, der es auf Singlefrauen abgesehen hat." Ja, danke, bohr noch in der Wunde herum.

    Seit ich mich vor vier Jahren von Torsten getrennt hatte, war kein neuer Partner in Sicht. Ich konnte mich nicht mehr vorbehaltslos für Männer öffnen, weil er mir übel mitgespielt hatte. Er hatte mich belogen und betrogen und mich immer öfter spüren lassen, wie wenig ich ihm wert war. Sowas wollte ich nicht noch mal erleben. Auf der anderen Seite fehlte mir ein Partner, nicht nur fürs gemütliche Zusammensein, sondern auch, um Alltagsdinge zu besprechen oder zusammen schöne Dinge zu erleben. Es gab da auch jemanden, den ich sehr mochte, aber im Laufe der Jahre und der negativen Erfahrungen war ich schüchtern geworden und hatte mich bisher noch nicht getraut, einen ersten Schritt zu wagen.

    ***

    Ein paar Glühweine später sah Neele auf die Uhr. "Wir sollten mal los, dein Date findet gleich statt."

    "Ich weiß ja nicht, aber ich glaube, ich werde da nicht hingehen. Das ist sicher nur ein Gag von irgendwem und ich mache mich zum Affen." In Wahrheit hatte ich Angst mich zu blamieren. Wovor wusste ich nicht, aber möglich war es doch, oder nicht?

    "Jetzt komm, es wird nicht so schlimm werden."

    "Du solltest es dir wenigstens ansehen." stimmte nun auch Ole mit ein. "Wenn es dir suspekt vorkommt, kannst du immer noch gehen."

    "OK, wir gehen rüber, aber wenn ich mich nicht wohlfühle, gehen wir direkt wieder." Die beiden nickten ernst und wir zogen los.

    Als wir um die Ecke bogen, bot sich mir das zur Weihnachtszeit übliche Bild. Das historische Rathaus im Stil der Neorenaissance, das ich so sehr liebte, erstrahlte im Licht tausender kleiner Birnchen, die Gemütlichkeit ausstrahlen ließen. In der Mitte des Marktplatzes stand der Brunnen, der stilistisch zum Gebäude passte. Zu dieser kalten Jahreszeit war das Wasser zu Eis gefroren und glitzerte im Schein der altertümlichen Lampen, die ebenfalls auf das Rathaus abgestimmt waren und die rund um den Platz aufgestellt waren. Der Anblick ließ in mir eine Wärme entstehen, die mich wohlig aufseufzen ließ.

    Neben dem Brunnen stand Chris, mein Nachbar und winkte mir zu. Bisher hatte ich immer nur kurze Pläuschchen im Hausflur mit ihm gehalten, hatte aber direkt festgestellt, dass ich mich sehr zu ihm hingezogen fühlte. Kurz fragte ich mich, ob der Brief von ihm sein würde, mein Herz machen einen kleinen Hüpfer, doch dann beschloss ich, der Realität ins Auge zu sehen. Dieser Mann war einfach zu klug und zu gutaussehend, um mich wirklich zu bemerken oder mich gar als seine Freundin sehen zu wollen.

    Ich ging langsam auf ihn zu, da er immer noch winkte und ich wohl nicht unbehelligt zu meinem Date gehen konnte. Wenn da überhaupt wer kam und der Brief nicht nur ein Streich gewesen war.

    "Hey Conny, hast du meinen Brief bekommen?" Brief? Jetzt doch?

    Mein Mund wurde trocken und ich hatte das Gefühl, dass ich einen riesigen Kloß im Hals hatte. "Ich habe einen Brief bekommen, aber der war wohl eher nicht von dir, oder?"

    "Hellblau, mit einer Zeitangabe und Ort, übergeben von einer älteren Dame? Du wärst nicht hier, wenn du ihn nicht bekommen hättest, oder?" Da hatte er recht. Was ich darauf sagen sollte, wusste ich jetzt auch nicht. Daher guckte ich ihn nur dümmlich an.

    "Nachdem du auf all meine subtilen Anspielungen, uns mal bei einem romantischen Date zu treffen, nicht eingegangen bist, dachte ich, Weihnachten steht vor der Tür. Da kommt doch eine Überraschung gerade richtig, oder?" Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Wie blöd ich gewesen war. Auf Anhieb fielen mir mindestens drei Anspielungen ein, die ich als Scherz abgetan hatte. Als seine Art, charmant zu Frauen zu sein.

    "Also, möchtest du mit mir ausgehen?"

    "Natürlich. Es gibt nichts auf der Welt, was ich in diesem Moment lieber tun würde."

    Vergessen waren Neele und Ole, die vermutlich mit einem Lächeln im Gesicht beobachtet hatten, wie Chris und ich gemeinsam in Richtung Weihnachtsmarkt abzogen.

  • Der 17. Dezember von R. Bote


    Weihnachten auf der Autobahn


    Besorgt schaute Henrys Vater zum Himmel, der sich mehr und mehr zuzog. „Verflixt“, meinte er, „da kommt gleich was runter!“ „Du meinst, es schneit?“, vergewisserte Henry sich. „Ist doch super! Und wir haben doch Winterreifen, oder?“

    Es war der Morgen des 24. Dezember, und sie waren dabei, die letzten Kleinigkeiten ins Wohnmobil zu packen. In ein oder zwei Stunden wollten sie losfahren in den Winterurlaub: Erst zu einer Tante, die in Thüringen wohnte, und am nächsten Tag weiter nach Oberbayern, wo es ebenfalls Verwandte gab. An Silvester würden sie zurückfahren, Henrys Eltern mussten nach Neujahr direkt wieder arbeiten.

    „Wir schon“, bestätigte Henrys Vater die Vermutung wegen der Reifen. „Aber es sind bestimmt wieder genug Leute mit Sommerreifen oder total abgenudelten Schluffen unterwegs. Schätzte, wenn’s wirklich anfängt zu schneien, dann wird’s Abend, bis wir bei Tante Cornelia sind.“ Eigentlich wollten sie am Nachmittag schon da sein, um noch bei den Vorbereitungen für die gemeinsame Weihnachtsfeier zu helfen. Henry freute sich darauf, vor allem, weil er seinen Cousin Julius, der wie er zehn Jahre alt war, sowieso so selten sah. Er war nicht so besorgt wie sein Vater, Winterreifen waren doch vorgeschrieben, oder?


    ***


    Als Henry mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Adriana losfuhr, hatte es tatsächlich zu schneien begonnen. Es schneite sogar recht ordentlich, und auf dem Boden hatte sich schon eine zwei oder drei Zentimeter dicke Schneeschicht angesammelt. Dem Wohnmobil konnte das nichts anhaben, und Henrys Eltern, die sich am Steuer ablösen würden, waren gute Autofahrer.

    Doch schon in der Stadt merkte man, dass nicht alle so gut vorbereitet waren. An einer Ampel kam der Wagen vor ihnen beim Anfahren kräftig ins Rutschen, und als sie an einer Einmündung vorbeifuhren, sah Henry einen Lieferwagen, der offenbar in die am Straßenrand geparkten Fahrzeuge geschlittert war.

    Auch auf der Autobahn war es zäh, schon als sie auffuhren, rollten die Autos dicht an dicht mit geringer Geschwindigkeit. „Hoffentlich sind die alle nur unterwegs, um noch Geschenke zu kaufen!“, sagte Henrys Mutter. An der übernächsten Ausfahrt lag ein Einkaufszentrum, wenn es die Mehrheit der Menschen in den anderen Autos dorthin zog, würden sie also bald wieder zügiger vorankommen.

    Tatsächlich fuhren an der betreffenden Ausfahrt viele Autos von der Autobahn ab, und auf der Abfahrtsspur staute es sich zurück. Aber auch als Henry und seine Familie daran vorbei waren, ging es nur unwesentlich schneller voran. Henrys Vater vermutete, dass einfach zu viele dieselbe Idee gehabt hatten wie er und Henrys Mutter: Sie hatten am Vortag noch gearbeitet und nur für die Tage zwischen Weihnachten und Silvester Urlaub genommen.


    ***


    Durch den zähen Verkehr waren Henry und seine Familie nach einer halben Stunde schon deutlich hinter dem Plan. Das war nicht nur die Masse an Autos, auch der Schnee schien daran mehr Anteil zu haben, als Henry gedacht hätte. Gestreut worden war offenbar noch nicht, und Henry fragte sich, wie jetzt überhaupt noch ein Streufahrzeug durchkommen sollte.

    Und dann ging plötzlich gar nichts mehr. Der Verkehr stockte, und keines der vielen Rücklichter, die Henry vor ihnen sehen konnte, rührte sich. „Da ist irgendwas passiert“, vermutete Henrys Vater seufzend. „Unfall oder so. Das kann dauern.“

    Henrys Mutter holte ihr Handy aus der Handtasche, um im Internet die Verkehrsmeldungen abzurufen. „Hier steht noch nichts“, stellte sie fest. „Stockender Verkehr auf drei Kilometern, aber nichts mit Stau.“ „Kommt vielleicht noch“, meinte Henrys Vater. „Die sind ja auch drauf angewiesen, dass es einer meldet, und vielleicht veröffentlichen sie das dann auch gar nicht direkt, sondern erst, wenn sie genug Meldungen haben, dass sie sicher sind, dass da keiner Blödsinn meldet. Kommt ja bestimmt auch vor.“

    Die Antwort gab es fünf Minuten später, denn da wurde aus der vergleichsweise harmlosen Meldung eine, die Potenzial hatte, es in die Nachrichten zu schaffen. Die Autobahn war dicht, und zwar gründlich, und es war nicht abzusehen, wie lange. Gleich mehrere LKW waren an einem Anstieg liegengeblieben, niemand wagte eine Prognose, wann die Strecke wieder frei sein würde.

    Schnell würde es auf jeden Fall nicht gehen, das war klar, und die Nachrichten, die zur vollen Stunde im Radio kamen, bestätigten es: Die LKW hatten sich kreuz und quer ineinander verkeilt, und noch wusste niemand, wie man dieses Knäuel wieder entwirren sollte. Selbst wenn man bereit war, ein paar Kratzer und verbogene Bleche hinzunehmen, zusätzlich zu den Blechschäden, die schon passiert waren, musste man erst mal einen LKW finden, den man als Ersten rausziehen konnte. Es durfte ja auch nicht passieren, dass ein Laster dadurch ins Rutschen kam und womöglich die wartenden Autos rammte, die nicht zurückweichen konnten. Auch die Tanks durften nicht aufgerissen werden, und vielleicht hatte auch einer der LKW eine gefährliche Ladung. Nicht auszudenken, wenn ein Tanklaster explodierte oder eine Ladung aus schweren Metallrollen oder Kabeltrommeln den Berg hinunterrollte!


    ***


    Die Wartezeit zog sich. Inzwischen standen sie seit zwei Stunden an derselben Stelle, und nichts deutete darauf hin, dass es demnächst weitergehen würde. Trotzdem fand Henry die Situation ganz erträglich, das war der Vorteil des Wohnmobils. Essen und Getränke würden ihnen so schnell nicht ausgehen, es gab eine Heizung, die unabhängig war vom Motor, eine kleine Küche und ein Klo. In einem der Fächer über dem Tisch lagen Bücher, Karten- und Brettspiele, es würde also auch nicht langweilig werden. Adriana hockte auf dem Boden und spielte mit ihren Puppen, die die Reise natürlich mitmachten.

    Andere hatten es nicht so gut, sie saßen deutlich beengter in ihren PKW und mussten sich überlegen, wie oft und wie lange sie den Motor laufen lassen konnten, um zu heizen. Viele, die keine so lange Strecke hatten fahren und am gleichen Tag wieder hatten zu Hause sein wollen, hatten sicherlich auch kaum oder gar nichts zu essen und zu trinken dabei.

    Um zu verhindern, dass jemand in seinem Auto erfror, rückten Feuerwehr, Rettungsdienste und THW mit kleinen Trupps aus, die die Menschen mit heißem Tee und warmen Wolldecken versorgten. Die Sachen zogen sie auf Schlitten hinter sich her, während sie sich von Auto zu Auto vorarbeiteten. Auch bei Henry und seiner Familie hatten sie angeklopft, aber die fühlten sich gut versorgt. Trotzdem waren sie dankbar, dass es Menschen gab, die sich dieser Mühe unterzogen, um anderen zu helfen. Die Helfer hatten sich ihren Heiligabend doch bestimmt auch anders vorgestellt, als mit dem Schlitten die Autobahn entlangzulaufen und Tee auszuschenken!


    ***


    Henry wusste, dass es eigentlich verboten war, auszusteigen, wenn man mit dem Auto im Stau stand. Aber in dieser Situation, wo es noch Stunden dauern konnte, bis sich etwas rührte, hielten sich viele nicht daran, und es war wohl auch unvermeidlich, irgendwann mal auszusteigen. Wer so lange saß, brauchte zwischendurch ein paar Minuten Bewegung, und irgendwann auch ein Klo; da waren die PKW natürlich nicht so gut ausgestattet wie ein Wohnmobil.

    Eher zufällig beobachtete Henry, wie an einem Auto hinter ihnen, vielleicht zwanzig Meter entfernt, die hintere rechte Tür geöffnet wurde. Ein Mädchen stieg aus, wobei es sorgfältig schaute, ob kein Einsatzfahrzeug den Seitenstreifen entlanggeprescht kam, oder ein Auto, dessen Fahrer glaubte, so schneller wegzukommen. Es huschte über den Seitenstreifen, kletterte über die Leitplanke und ging dahinter in die Hocke. Für den Moment sah Henry nur den blonden Haarschopf, während ihm kurz durch den Kopf ging, dass es für das Mädchen ziemlich kalt sein musste hintenrum.

    Erst als das Mädchen fertig war und wieder über die Leitplanke stieg, sah er, dass er es kannte. Davon ab, dass er es bis dahin nur von der Seite und von hinten gesehen hatte, lag es wohl daran, dass er nicht damit gerechnet hatte, hier im Stau ein bekanntes Gesicht zu sehen.

    Inga ging seit Beginn des Schuljahres mit ihm in eine Klasse. Viel wusste er nicht über sie, und sie hatte ihn auch nicht nennenswert interessiert. Die Jungen gaben sich insgesamt nicht viel mit den Mädchen ab und umgekehrt; außerdem war Inga oft mit Freda und Marisa zusammen, und die konnte Henry nicht leiden. Er fand die beiden zickig, und sie hatten nur irgendwelche TikTok-Stars im Kopf. Natürlich hatten beide auch selbst einen Account, obwohl sie das noch gar nicht durften. Ob Inga da aktiv mitmachte, wusste Henry nicht, aber zumindest hielt es sie nicht davon ab, die Pausen mit Freda und Marisa zu verbringen.


    ***


    Inga hatte es offensichtlich eilig, zurück ins Auto zu kommen, und bemerkte Henry nicht, der nur den Kopf aus dem Seitenfenster des Wohnmobils gestreckt hatte. Einerseits war Henry erleichtert deswegen, er wusste nicht, was passiert wäre, wenn sie ihn erkannt hätte. Andererseits fühlte er etwas, von dem er erst mit Verzögerung begriff, dass es so etwas wie Enttäuschung sein musste. Auch wenn er lesen konnte, irgendwie war es doch langweilig, es wäre schön gewesen, jemanden zu haben, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte. Er war nicht mit Inga verfeindet, und sie waren in der gleichen Lage; da hätten sie sich schon für eine Weile zusammenraufen können.

    Fünf oder zehn Minuten rang er mit sich. „Hinter uns ist Inga aus meiner Klasse“, erzählte er dann. „Nicht direkt, so sieben oder acht Autos sind noch dazwischen. Ich hab sie gesehen, weil sie mal raus musste. Darf ich hingehen und sie fragen, ob sie rüberkommt? Dauert doch bestimmt noch lange, bis wir weiterfahren können, da können wir was spielen oder so.“

    Seine Eltern überlegten nicht lange. Sie kannten Inga nicht, aber sein Vater kannte Ingas Mutter von den Elternabenden. Da war sie ihm zumindest nicht unsympathisch aufgefallen, und was die Tochter betraf, verließ er sich auf Henrys Urteil. Wenn der meinte, dass er sich die Langeweile mit Inga zusammen vertreiben wollte, dann war das okay.

    Als warf Henry sich die Jacke über und machte sich auf den Weg. Ganz wohl war ihm nicht – was, wenn Inga nicht wollte, wenn sie ihn auslachte? Oder, noch schlimmer, wenn er sich geirrt hatte, und sie war es gar nicht, sondern nur ein Mädchen, das ihr zufällig ähnlich sah?

    Aber um umzukehren, war es zu spät. Wie hätte er das seinen Eltern erklären sollen? Also ging er weiter und näherte sich dem dunklen Kombi, in dem Inga saß. Auf der Autobahn herumzulaufen fühlte sich merkwürdig an, und er hatte das Gefühl, dass er aus jedem Fahrzeug angestarrt wurde. Allerdings war er nicht der Einzige, Inga war ja auch gerade kurz draußen gewesen, und an der Mittelleitplanke lehnte ein Mann und rauchte.

    Er erreichte das Auto und sah, dass Inga auf der Rückbank lag, die Füße in Socken gegen die Scheibe auf der anderen Seite gestemmt, und auf ihrem Handy schrieb. Was, konnte er nicht lesen, weil die Scheibe leicht beschlagen war, und wenn er es hätte sehen können, hätte er versucht, nicht hinzuschauen. Er hätte auch nicht gewollt, dass sie ihm über die Schultern schaute, während er mit einem seiner Freunde schrieb, obwohl er keine Nachrichten verschickte, für die er sich hätte schämen müssen.

    Ingas Eltern sahen ihn, maßen dem aber keine Bedeutung bei. Sie kannten Henry nicht, konnten sich also allenfalls wundern, dass dessen Eltern ihm erlaubten, offensichtlich ohne Not das Auto zu verlassen. Da der Verkehr aber stand und Henry nicht auf dem freien Seitenstreifen lief, sahen sie keinen Grund, einzugreifen.


    ***


    Inga zuckte zusammen, als er an die hintere Seitenscheibe klopfte; sie hatte ihn offenbar nicht kommen sehen. Sie setzte sich auf, drehte sich um und riss die Augen auf, als sie Henry sah. Wahrscheinlich hatte sie damit gerechnet, dass es noch mal die Leute vom Sanitätsdienst waren, die nachfragen wollten, ob alles okay war.

    „Du?“, wunderte sie sich, nachdem sie die Scheibe heruntergelassen hatte. „Was machst du hier?“ „Wir stehen auch im Stau“, erklärte Henry. „Ich hab dich eben gesehen, als du kurz draußen warst.“ Inga wurde leicht rot, anscheinend war es ihr peinlich, dass er ihren Ausflug ins Grüne mitbekommen hatte, obwohl es doch natürlich war, dass sie irgendwann mal musste. „Ich wollte fragen, ob du mit deinen Eltern zu uns rüberkommen willst“, fuhr Henry fort. „Wir fahren mit dem Wohnmobil, da ist’s wärmer und bequemer.“

    Mit dieser Einladung überraschte er sowohl seine Klassenkameradin als auch deren Eltern. Irgendwo konnte Henry verstehen, dass Inga nicht sicher war, ob sie ja sagen sollte, sie wusste von ihm bestimmt nicht mehr als er umgekehrt von ihr. Wie sie ihn einschätzte, hätte er nicht sagen können; er selbst hätte von sich gesagt, dass er in keine Richtung herausragend war, keiner der Jungen, die eher negativ auffielen, noch einer von denen, um deren Freundschaft sich alle rissen. Er hatte Freunde und kam mit den meisten Klassenkameraden gut aus, aber es gab andere, die mehr im Mittelpunkt standen. Aber es konnte natürlich sein, dass Inga einen völlig anderen Eindruck von ihm gewonnen hatte, er wusste ja auch nicht, worauf sie achtete.

    Schließlich nickte sie und lächelte. Sie schien sich zu freuen, offensichtlich hatte sie keinen so schlechten Eindruck von ihm, zumindest nicht so, dass sie es vorgezogen hätte, weiter im eigenen Auto zu bleiben. „Darf ich?“, fragte sie ihre Eltern.


    ***


    Ingas Eltern hatten nichts dagegen, dass Inga mit Henry ging. Selbst wollten sie zunächst bleiben, sie waren nicht sicher, ob sie das Auto einfach stehen lassen konnten. Natürlich war das eigentlich nicht erlaubt, aber dieser Stau war nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Henrys – und sicherlich auch Ingas – Eltern verfolgten die Meldungen, hier würde sich noch über Stunden nichts rühren. Um die LKW wieder auseinanderzuziehen, wurde schweres Gerät gebraucht, und selbst wenn das endlich eintraf, würde es noch ein Akt sein, bis die Fahrbahn wieder frei war. Hinten hatte die Polizei begonnen, die Autos drehen und gegen die eigentliche Fahrtrichtung zur Ausfahrt zurückfahren zu lassen, aber auch das würden sich ziehen. Damit es dabei keine Unfälle gab, durften immer nur wenige Autos gleichzeitig wenden, und es waren tausende, die sich angesammelt hatten. Henry und seine Familie waren im vordersten Viertel des Staus, würden also mit am längsten ausharren müssen.

    Vor diesem Hintergrund rangen sich schließlich auch Ingas Eltern durch, die Einladung anzunehmen. „Ein Auto weniger, wo sie Tee verteilen müssen“, meinte Ingas Vater trocken. „Und wir sind ja nicht weit weg. Wenn sich der Stau auflöst, sehen wir das, lange bevor wir dran sind.“ „Zur Sicherheit können wir ja einen Zettel hinter die Scheibe legen“, schlug Ingas Mutter vor. „Damit sich keiner wundert. Habt ihr was zu schreiben im Wohnmobil?“

    Das war wirklich das kleinste Problem, Inga malte die Nachricht mit Kugelschreiber auf ein Blatt von Adrianas Zeichenblock. Henry begleitete sie, als sie kurz zum Auto zurücklief, um den Zettel hinter die Windschutzschreibe zu legen. Da war er schwer zu übersehen, auch bei Dunkelheit würden die Helferinnen und Helfer ihn entdecken. Die hatten sicherlich Taschenlampen dabei und würden ins Auto hineinleuchten, wenn sich dort nichts rührte.


    ***


    Zurück im Wohnmobil streckten Henry und Inga sich bäuchlings auf der breiten Matratze im Alkoven über dem Führerhaus aus. Normalerweise schliefen hier Henrys Eltern, aber auf Henrys Bett im Heck des Fahrzeugs hätten die Kinder sich schon sehr zusammenquetschen müssen.

    Die Erwachsenen saßen zusammen am Tisch und unterhielten sich. Sie tauschten sich darüber aus, wohin sie eigentlich unterwegs waren, und kamen dann auf die Schule zu sprechen. Das drängte sich einfach auf, weil man sich nur darüber flüchtig kannte. Genauer gesagt waren Henrys Vater und Ingas Mutter sich bei zwei Elternabenden begegnet, aber Henrys Mutter und Ingas Vater wussten auch, was da besprochen worden war. Unter anderem unterhielten sie sich über die Klassenfahrt, die es zum Ende des Schuljahres geben sollte, und Henry hörte heraus, dass Ingas Mutter deswegen unsicher war. Es hatte wohl in der Grundschule eine Klassenfahrt gegeben, die zumindest der Ansicht von Ingas Mutter nach nicht gut gelaufen war.

    Inga schien das Thema peinlich zu sein, und Henry war sich nicht sicher, wie er damit umgehen sollte. „War’s wirklich so schlimm?“, flüsterte er schließlich. Er war mit seiner Grundschulklasse auch weg gewesen, aber das war zwar aufregend gewesen, weil es die erste Fahrt ohne Eltern gewesen war, aber nicht wild. Ihm fiel nichts ein, worüber die Eltern sich Sorgen hätten machen müssen.

    Inga verdrehte die Augen. Leise, sodass die Eltern es nicht verstehen konnten, erzählte sie ihm, dass sie sich bei einer Nachtwanderung verirrt hatten und erst eine Stunde später als geplant wieder in der Jugendherberge gewesen waren. Keine große Sache, versicherte sie, ein Spaziergang mit der ganzen Klasse und den Lehrerinnen direkt nach Einbruch der Dunkelheit, bei dem sie einmal falsch abgebogen waren. Dadurch hatten sie einen großen Umweg gemacht, aber es war nie gefährlich gewesen, und geschlafen hatten sie anschließend auch noch genug. Trotzdem war ihre Mutter besorgt gewesen, als sie davon gehört hatte, und sah der nächsten Klassenfahrt mit einem mulmigen Gefühl entgegen.


    ***


    Für Henry und Inga war das Thema „Klassenfahrt“ ein Glücksfall. Auf diese Weise brauchten sie nicht krampfhaft zu überlegen, was sie reden sollten, es ergab sich einfach. Ausgehend von Ingas Erzählung kamen sie zu den beiden Klassenfahrten, die Henry mit seiner Grundschulklasse gemacht hatte, und der ersten, die sie in ein paar Monaten gemeinsam machen würden. Sie waren sich einig, dass es eine tolle Sache werden würde, und freuten sich darauf.

    Mit der Frage, was man auf der Klassenfahrt alles unternehmen konnte, waren sie auch ganz schnell bei ihren Hobbys im Allgemeinen, und Henry erfuhr in der kurzen Zeit viel, viel mehr über Inga als in den Monaten seit Beginn des Schuljahrs. Umgekehrt erzählte er ganz offen von sich, und er hatte keine Sekunde lang das Gefühl, dass sie ihn für irgendwas auslachen würde.

    Er merkte, dass er sich gründlich in Inga getäuscht hatte, sie war echt in Ordnung. Er hatte von Freda und Marisa auf sie geschlossen, aber das war ein Irrtum: Dass sie die Pausen mit ihnen verbrachte, ergab sich nur daraus, dass sie schon in der Grundschule in derselben Klasse gewesen waren, und dass die anderen Mädchen auch ihre Cliquen hatten, die sich von früher kannten. Ihre Mutter meinte, dass sich das im Lauf der Zeit neu ordnen würde, aber noch hatte sich in der Hinsicht kaum etwas getan. Inga fand das schade, konnte aber damit leben, weil sie ihre besten Freundinnen ohnehin im Tischtennisverein hatte.


    ***


    Allmählich wurde es dunkel, und noch immer gab es kein Zeichen dafür, dass der Stau sich bald auflösen würde. Adriana wurde unruhig, der Stau war nach mehreren Stunden kein Abenteuer mehr, dafür bekam sie Angst, dass Weihnachten ausfallen würde.

    Völlig unberechtigt war das nicht. Selbst wenn der Stau sich jetzt sofort aufgelöst hätte, wären sie erst zu einer Zeit bei Henrys Tante gewesen, die weit nach Adrianas Sandmännchen war. Sie hätten höchstens nach Hause fahren können, um dort zu viert zu feiern, aber das wäre irgendwie traurig gewesen. Auch Henry fand es schade, aber er war älter und konnte besser damit umgehen.

    Trotzdem freute er sich, als Inga vorschlug, zusammen ein paar Weihnachtslieder zu singen. Warum denn nicht? Dass sie nicht mehr rechtzeitig bei Henrys Tante sein würden, um mit ihr zu feiern, dass Inga und ihre Eltern nicht rechtzeitig am Ziel sein würden, hieß doch nicht, dass sie gar nicht feiern konnten! Immerhin hatten sie es nicht ungemütlich, die Eltern saßen am Tisch, Adriana bei ihrer Mutter auf dem Schoß, Henry und Inga lagen nach wie vor im Alkoven. Ihnen war nicht kalt, sie hatten Spaß, und zu essen und zu trinken war auch da.

    Die Eltern überlegten nicht lange. Ein paar Weihnachtslieder kannten alle auswendig, und die Begleitmusik konnten sie sich, wenn sie welche brauchten, aus dem Internet holen. Von den Weihnachtplätzchen, die Henrys Mutter am Morgen noch gebacken und schon lange auf den Tisch gestellt hatte, waren auch noch welche da, und Henrys Vater zauberte ein schnelles Abendessen. Eigentlich hätten sie ja bei Henrys Tante gegessen, aber ein paar Vorräte hatten sie trotzdem eingekauft. Nudeln, Pilze, Gemüse, Sahne und ein paar Gewürze ergaben vielleicht kein traditionelles Weihnachtsgericht, aber es schmeckte trotzdem gut.

    Henry und Inga aßen im Liegen. Sie waren gar nicht böse, dass am Tisch nur für vier Personen Platz war, es war urgemütlich im Alkoven. Auf seinem Handy ließ Henry leise Weihnachtsmusik laufen, unten erzählten die Eltern, wie in den jeweiligen Familien sonst Weihnachten gefeiert wurde.


    ***


    Nach dem Abendessen wurde beschert. Auch Inga und ihre Eltern waren unterwegs, um die Weihnachtsfeiertage auswärts zu verbringen, und hatten deshalb die Geschenke mitgenommen. Ingas Vater ging rasch zurück zum Auto, er brachte auch Ingas Rucksack mit, in dem sie ihre Geschenke für ihre Eltern verwahrt hatte.

    Zum Glück war unter den Geschenken nichts, was Strom benötigt hätte. Das Wohnmobil hatte zwar Steckdosen, aber die Kapazität der Batterie war begrenzt. Adriana, die schon ein ganz kleines bisschen lesen konnte, obwohl sie noch nicht in der Schule war, bekam eine Tafel mit magnetischen Buchstaben und begann sofort, alle möglichen Wörter zu legen.

    Inga betrachtete ihr Geschenk nur, packte es aber nicht aus. Sie puzzelte gerne, auch etwas, was Henry bis zu diesem Tag nicht gewusst hatte, und ihre Eltern hatten extra ein Foto als Puzzle drucken lassen. Dass es im Wohnmobil an einem Platz zum Puzzeln fehlte, nahm sie gefasst, sie würde in den nächsten Tagen noch genug Zeit dafür haben. Umso begeisterte baute sie mit Henry an seinem Geschenk, das in gewisser Weise auch ein Puzzle war: ein Bausatz von Lego Technik. Henry hatte sich erst ziemlich verlegen gefühlt, als er das Päckchen ausgepackt hatte, er hatte gedacht, Inga würde ihn für kindisch halten, wenn sie sah, dass er sich noch dafür interessierte. Aber sie fand das offensichtlich ganz und gar nicht lächerlich, und ihr Spaß daran, gemeinsam mit ihm das Modell zusammenzubauen, war nicht gespielt.


    ***


    Irgendwann wurde es Schlafenszeit, Henry und Inga packten den Bausatz weg, um zu schlafen, bis die Strecke wieder frei war. Die Polizei hatte es geschafft, einen Teil der Autos von der Autobahn zu leiten, und die Arbeiten, die verkeilten LKW zu befreien, waren im Gange, aber es konnte trotzdem noch bis weit in die Nacht dauern, ehe für sie weiterging. Was das betraf, hatten es die beiden Familien schlecht getroffen, die Ersten, die hatten umdrehen und zur letzten Ausfahrt hatten zurückfahren dürfen, waren wahrscheinlich längst zu Hause.

    Doch Henry fand das gar nicht schlimm, denn ohne den Stau hätte er nicht gemerkt, dass Inga ganz anders war, als er sie eingeschätzt hatte. Gemeinsam hatten sie die wohl merkwürdigsten Weihnachten ihres Lebens verbracht, aber trotz allem waren es fröhliche Weihnachten.

    Er wechselte einen Blick mit Inga und sah, dass sie dasselbe dachte wie er: Sie waren Freunde, und sie würden es auch bleiben, wenn diese denkwürdige Nacht zu Ende war.

  • Der 18. Dezember von Tilia Salix


    Eine Frage des Glaubens


    „Thomas, schön dich zu sehen! Komm herein, setz dich. Eine wunderbare Überraschung! Was führt dich in die Gegend? Wirst du länger bleiben? Was lachst du?“

    „Gesprächiger als eine italienische Mama!“

    „Was soll ich machen? Die Worte drängen mit Macht hinaus … nun nimm doch endlich Platz. Leg die Bücher einfach auf den Fußboden, das macht ihnen nichts aus. Sie kennen es nicht anders. Oder verbietet es dir die Autorenehre, das geschriebene Wort in den Staub zu werfen?“

    „Dein Boden ist wie immer sauberer als mein Frühstückstisch, und Schriftsteller kennen keine Ehre, wusstest du das nicht?“

    Lin Philippe wischte meinen Einwand mit einer Handbewegung fort.

    „Nun erzähl – was hat dich hier her verschlagen? Und wie geht es Nina?“

    „Ganz gut. Sie besucht eine Freundin, die für ein Jahr nach Grasse gegangen ist. Ich dachte mir, ich könnte vielleicht etwas über die Geschichte der Parfümerien schreiben, aber der Funke ist noch nicht übergesprungen.“

    „Oh. Und da dachtest du, ein Besuch bei einem einfältigen Narren wie mir könnte dir auf die Sprünge helfen?“

    „Ich bin ganz ohne Hintergedanken hier“ log ich.

    Lin Philippe durchschaute mich. Er lachte. Dann legte den Zeigefinger an die Nase und schaute mich verschmitzt an.

    „Ich habe da tatsächlich etwas, das dich interessieren könnte.“

    Er stellte eine leere Cola-Flasche zwischen uns auf den Tisch.

    „Was siehst du?“

    „Eine leere Glasflasche?“ Meine offensichtliche Verwirrung amüsierte ihn.

    „Ganz genau! Und gleichzeitig grundverkehrt! Denn dies, mein lieber Thomas, ist das Zeugnis eines echten Wunders!“

    „Tatsächlich?“ Ich nahm die Flasche in die Hand und besah sie mir von genauer. „Ich kann daran nichts Wunderbares erkennen. Es ist eine ganz und gar gewöhnliche Limonadenflasche, wie man sie in jedem Restaurant bekommt.“

    Lin Philippe klatschte in die Hände. „Aber natürlich ist sie das! Im Grunde geht es auch gar nicht um die Flasche, sondern um das, was sich darin befunden hat.“

    „Koffeinhaltige Limonade?“

    „Ach, Thomas! Du bist unmöglich! Willst du nun hören, was es mit der Flasche auf sich hat oder nicht?“

    „Wie könnte ich mich jemals einer deiner Geschichten verweigern, Lin Philippe!“

    Mit einem kleinen Lachen lehnte sich Lin Philippe in seinem Stuhl zurück und begann zu erzählen.

    „Ich muss dich vorwarnen, Thomas, dies ist eine wunderbare, aber auch traurige Geschichte. Es geht darin um ein sehr krankes, kleines Mädchen und seinen großen Bruder. Um Streit und Kummer, aber auch um Versöhnung. Und wie alle guten Geschichten beruht sie auf einer wahren Begebenheit! Ich will dir erzählen, wie ich an die Flasche gekommen bin. Ich habe sie geschenkt bekommen, von Raphaël Dubois, einem kleinen Jungen aus einem Ort ein Stückchen weiter nördlich von Saint-Martin. Raphaël ist letztes Jahr im Herbst 9 Jahre alt geworden, aber er konnte seinen Geburtstag nicht feiern, weil seine kleine Schwester Manon sehr krank geworden ist. Sie war sehr oft im Krankenhaus und seine Mutter verbringt sehr viel Zeit dort bei ihr. Raphaël versteht das, er ist ein vernünftiger Junge, aber es ist hart für ihn. Der Vater hat die Familie verlassen, als Manon knapp zwei Jahre alt und Raphaël gerade in die Schule gekommen war. Die Kinder kennen es nicht anders, sie waren die meiste Zeit nur zu dritt. Die Mutter arbeitet viel und lang, damit das Geld reicht, aber nun, wo die Kleine so krank ist, wird es oft eng. Und natürlich versteht Raphaël, dass es nur ein kleines Geschenk gibt, weil das Geld so knapp ist, und zum Feiern ist eh keinem zu Mute, denn Manon ist krank und stirbt, wenn kein geeigneter Knochenmarkspender für sie gefunden werden kann. Immer wieder steckt Raphaël zurück, verzichtet, versteht, denn er liebt seine kleine Schwester. Aber manchmal, da ist er so wütend auf sie, wütend darauf, dass sie krank ist und sich immer nur alles um Manon dreht – und nun steht Weihnachten vor der Tür, und Manon ist sterbenskrank – aber sie stirbt nicht! – und die kleine Familie Dubois hat nicht einmal einen Tannenbaum und Weihnachten wird Raphaël bei der Tante verbringen, denn die Mutter wird bei Manon im Krankenhaus bleiben. Raphaël ist so wütend, als er davon erfährt, aber er sagt nichts, denn er möchte nicht, dass seine Mutter noch trauriger wird. Aber innerlich, da sagt er es ganz laut und voller Inbrunst: ‚Ich wünschte, sie wäre endlich tot!‘

    Zwei Tage später ruft das Krankenhaus mit schlechten Nachrichten an. Manon geht es schlechter, sie wird den Jahreswechsel vielleicht nicht mehr erleben. Raphaël ist zu Tode erschrocken und fühlt sich so schuldig, als hätte er der kleinen Schwester ein Messer ins Herz gerammt. Im Krankenhaus möchte er seine Mutter nicht begleiten, als sie Manon auf der Kinder-Station besuchen. Er sagt, es geht ihm nicht gut, er möchte lieber unten warten und die Mama, die versteht, dass es schwer ist für Raphaël, aber nicht weiß, wie schwer es wirklich ist, sie drückt ihm etwas Kleingeld in die Hand und sagt, er soll sich etwas zu trinken holen am Automaten. Raphael zieht sich eine Coca-Cola und setzt sich dann hin, um zu warten. Eigentlich müsste er sich freuen, denn es kommt selten vor, dass seine Mutter etwas Geld übrig hat und noch seltener kommt er in den Genuss von Cola, aber die Limonade, sie schmeckt ihm nicht. Immer wieder denkt er daran, wie er sich gewünscht hat, seine kleine Schwester möge endlich tot sein und nun wird sie sterben. Es ist seine Schuld! Und ohne dass er etwas dagegen tun kann, fangen die Tränen an zu fließen, und so sitzt er da, im Warteraum, mit seiner Cola in der Hand und der Kloß in seinem Hals droht, ihn zu ersticken.

    ‚Hier, nimm.‘ Als Raphaël aufsieht, sitzt neben ihm auf dem Stuhl ein alter Mann in Hut und Mantel und reicht ihm ein Papiertaschentuch. ‚Ist es sehr schlimm?‘ fragt der Mann leise. Raphaël nickt.

    ‚Manchmal hilft es zu erzählen. Wenn du möchtest, höre ich dir zu.‘

    ‚Ich weiß nicht.‘

    ‚Ich heiße Rul.‘ Der Mann hält ihm die Hand hin. Zögernd schüttelt Raphaël sie. ‚Raphaël‘, murmelt er.

    Rul nimmt seinen Hut ab, und schaut freundlich auf Raphaël. Er trägt eine kleine runde Brille mit Goldrand, die ein wenig auf seiner Nase heruntergerutscht ist. Raphaël findet, dass Rul aussieht wie ein freundlicher und lustiger Großvater, trotzdem will er eigentlich nicht darüber reden, was er sich Schreckliches gewünscht hat, aber dann platzt es doch aus ihm raus. ‚Manon, meine Schwester, sie ist sehr krank und stirbt. Und das ist meine Schuld!‘

    Halb rechnet er damit, dass Rul ihm beschwichtigend die Schulter tätschelt und ‚Na, so schlimm wird es schon nicht sein‘ antwortet, aber Rul sieht ihn nur freundlich an. Und da erzählt er ihm die ganze Geschichte. Rul unterbricht ihn kein einziges Mal. Als er fertig ist, braucht er noch ein Taschentuch.

    ‚Mit Wünschen ist das so eine Sache‘, sagt Rul, während sich Raphaël die Nase putzt. ‚Manchmal sagt man das eine und meint doch etwas ganz Anderes. Du magst ja deine Schwester sehr, nicht wahr?‘

    Raphaël nickt.

    ‚Und du möchtest nicht, dass sie stirbt?‘

    Hastig schüttelt Raphaël den Kopf. ‚Nein!‘ schnieft er. ‚Eigentlich … eigentlich möchte ich, dass Mama nicht mehr immer so traurig ist. Dass wir Weihnachten zusammen zu Hause feiern, mit einem Baum, und Manon und ich, wir schmücken ihn, denn wir machen den weltbesten und schönsten Weihnachtsbaum der Welt, und Mama muss nicht arbeiten, wir essen zusammen und singen und spielen!‘

    Raphaël senkt den Kopf. ‚Eigentlich … Manon soll wieder gesund werden, eigentlich …‘, flüstert er.

    Rul klopft bedächtig mit dem Finger an seine Nase ‚Ja, das ist dein Wunsch …‘, murmelt er vor sich hin. Auf einmal klatscht er leise in die Hände.

    ‚Ich hab’s! Wir machen eine Wunschkorrektur!‘

    Raphaël sieht ihn zweifelnd an. ‚Eine was?‘

    ‚Eine Wunschkorrektur! Wie bei der Schreibmaschine! Wir wunsch-exen deinen Wunsch aus und du schickst deinen richtigen Wunsch auf den Weg!‘

    Raphaël versteht kein Wort.

    ‚Du brauchst nur etwas Wunsch-Ex!‘ Rul strahlt ihn an.

    „Wunsch-Ex“, fragt Raphaël zweifelnd.

    Rul nickt ihm ernst zu. ‚Ja, Wunsch-Ex. Weißt du, es ist sehr gut, dass wir zwei uns gefunden haben. Ich bin nämlich ein großer Wunsch-Experte und ich habe immer ein wenig Wunsch-Ex dabei, falls ein Wunsch dringend korrigiert werden muss. Ich gebe dir gern ein wenig davon ab.‘

    Und mit diesen Worten zieht der alte Mann eine kleine, dunkelgrüne Flasche aus seiner Manteltasche, schraubt sie auf und gießt ein wenig klare Flüssigkeit in Raphaëls leere Cola-Flasche. Er hält sie ihm hin. ‚Du schließt die Augen, zählst bis 18, denkst ganz fest an deinen richtigen Wunsch und trinkst dabei dieses Wunsch-Ex aus. So wird dein falscher Wunsch ausgetauscht!‘

    Raphaël schaut zweifelnd auf seine Flasche und dann auf Rul. ‚Und dann wird mein echter Wunsch wahr?‘

    ‚Nun, Raphaël, das weiß man bei Wünschen nie so genau. Manche werden wahr und andere nicht. Aber dein erster Wunsch, der ist damit auf jeden Fall verschwunden – so, als hättest du ihn nie gesagt!‘

    Und das reicht Raphaël. Er schließt die Augen, zählt bis 18 und trinkt, während er sich so fest er kann wünschte, dass Manon wieder gesund würde. Als er die Augen wieder öffnet, ist der Warteraum leer. Draußen hat es angefangen zu schneien.“

    Lin Philippe sah mich verschmitzt an.

    „Alte Männer, die Kindern unbekannte Substanzen zu trinken geben – das einzige Wunder, dass ich bisher zu erkennen vermag, ist, dass offenbar nichts Schlimmeres passiert ist.“

    „Ach, Thomas, du alter Zyniker!“ wehrte Lin Philippe ab. „In der Flasche war natürlich Leitungswasser!“

    „Und was wurde aus der kleinen Manon?“ wollte ich nun doch wissen.

    „Vier Tage später, am 22. Dezember, bekam Madame Dubois einen Anruf. Ein passender Spender war gefunden – gerade noch rechtzeitig!“

    „Also ein verfrühtes Weihnachtswunder?“

    „Wer weiß das schon, mein lieber Thomas? Es ist – wie immer – alles eine Frage des Glaubens.“