Der Büchereulen-Adventskalender 2024

  • Der 1. Dezember von Tom


    Ohne Dich


    Als Tatjana an diesem Morgen im Oktober sehr früh und deshalb noch im Stockdunkeln erwacht, ist ihr sofort bewusst, dass etwas nicht stimmt. Sie spürt, dass Carlo zwar neben ihr liegt, aber als sie in diesem Augenblick instinktiv den Atem anhält und dann lauscht, ist es still - sehr viel stiller, als es sein sollte. Während einem Teil von ihr klar wird, was das bedeuten kann, und ein anderer Teil von ihr diesen Gedanken mit aller Macht zurückzudrängen versucht, wird sie von einer Gänsehaut geflutet, beginnt sie zu zittern, fühlt sie, wie ihre Kopfhaut spannt. Sie tastet hastig mit der linken Hand nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe und mit der rechten kurz darauf viel vorsichtiger nach ihrem Mann, ihrem geliebten Carlo, ihrem Ein und Alles, dem Kern und Zentrum ihres Daseins. Sie berührt seine Wange, dann seinen Hals.


    Er ist kalt.


    *


    „Carlo sitzt auf einer Wolke und schaut uns zu“, sagt Melanie. „Er passt auf dich auf und wartet dort

    auf dich.“

    Tatjana blickt kurz zu ihr und danach, wie Melanie auch, zu Carlos großformatigem, gerahmten Foto,

    das neben der Küchentür hängt und ihn zeigt, wie er in Badeshorts grinsend an einem Strand auf

    Kassandra steht und einen glitschigen Oktopus in die Höhe hält. Sie konzentriert sich sofort wieder

    darauf, den Teig gleichmäßig auszurollen. „Glaubst du das wirklich?“, fragt sie dabei leise.

    Ohne hinzusehen, weiß Tatjana, dass Melanie den Kopf schief gelegt hat. Das macht Mel immer,

    wenn sie sich unsicher ist oder ihr etwas Peinliches passiert ist oder sie sich nicht im Klaren darüber

    ist, ob sie vielleicht einen Fehler gemacht hat. Tatjana liebt ihre kleine Schwester sehr, aber diese

    Naivität nervt sie manchmal. Nein, sogar ziemlich oft.

    Sie greift nach der Plätzchenform für einen Flamingo, obwohl man den Teig irre schwer aus der Form

    bekommt. Da liegen neben den Klassikern wie Tannen, Sternen, Weihnachtsmännern und Rentieren

    außerdem Hasen, Rennautos, Ampelmännchen und solche Dinge, und sogar eine Form für Baby

    Yoda. Irgendwie ist ihr danach, heute Plätzchen in möglichst unweihnachtlichen Konturen

    auszustechen. Carlo hat Weihnachten geliebt, hat sich schon ab Anfang November auf das Fest

    gefreut, und er gehörte zu den wenigen, die nicht entrüstet waren, weil bereits im September

    Dominosteine und Spekulatius in den Supermarktauslagen zu finden waren; ganz im Gegenteil. Und

    er mochte Kekse am liebsten in den richtigen Formen.

    Verdammt. Sie denkt an ihn im Präteritum.


    Etwas tropft auf den Plätzchenteig.


    Mel und sie haben ihren kleinen Bruder verloren, das ist zwar viele Jahre her, blieb aber sehr lange

    präsent, ist es manchmal natürlich heute noch. Sie wusste also, wie hart es ist, wenn man auf

    jemanden verzichten muss, den man sehr geliebt hat und immer noch liebt. Doch sie hat nicht

    ansatzweise auch nur geahnt, wie hart es tatsächlich werden kann.

    Tatjana hebt ihre Hände in die Höhe und geht zur Spüle, um sich das Mehl und die Teigklümpchen

    abzuwaschen.

    „Ich brauche eine Zigarette“, sagt sie.


    Auf dem Balkon ist es feuchtkalt, und es nieselt ein bisschen, aber sie mag die kitzlige Nässe im

    Gesicht. Die neblige Bewölkung hängt tief über der Stadt, berührt beinahe die Dächer der

    fünfstöckigen Gründerzeithäuser, und selbst dort, wo kein Nebel ist, sieht es aus, als läge ein

    Weichzeichner über allem. Viele Fenster und Balkone sind mehr oder weniger festlich geschmückt.

    Ein paar Dutzend Meter weiter, wo die Wohnstraße die Hauptverkehrsstraße kreuzt und eine

    Handvoll Geschäfte den Online-Tsunami überstanden hat, hängen Lichterketten zwischen den

    Häusern, und auf der Fahrbahn spiegelt sich ihr Licht in der Nässe. Wenn Carlo jetzt neben ihr

    stünde, würde er sich vorbeugen, die Dekoration begutachten und kommentieren (er verachtete das

    Blinkibunti, wie er die Farbwechsel und hektischen Flackereien nannte) und er würde dabei glücklich

    lächeln. Hätte gelächelt.


    Sie spürt Melanies Hand auf der Schulter; die kleine Schwester ist ihr leise auf den Balkon gefolgt, das

    hat sie schon immer gemacht, ihr hinterherlaufen. Tatjana greift nach der Hand und drückt sie.

    „Rauchen ist scheiße“, sagt Mel.

    Tatjana nickt. Rauchen ist wirklich scheiße. Sie hatte vor zweieinhalb Jahrzehnten damit aufgehört,

    als Carlo in ihr Leben kam und es auf den Kopf stellte. Nein, er hat es nicht auf den Kopf gestellt,

    sondern auf die Füße, denn erst ab da fühlte sich Tatjanas Leben richtig an. Carlo half ihr, die Kraft

    und das Selbstbewusstsein zu entwickeln, um endlich das zu tun, was in ihr gesteckt hatte, um

    Herausforderungen anzunehmen und sich durchzusetzen, und er machte es sich anschließend zu

    seiner Dauer-Hauptaufgabe, sie bei allem zu unterstützen und zu fördern. Sein eigenes Fortkommen

    wurde bedeutungslos für ihn, ist es aber schon immer gewesen, wie er zu betonen niemals aufhörte.

    Ihr Erfolg war sein Erfolg, ihr Glück war seines.

    Gewesen.


    Großer Gott, würde sie irgendwann aufhören, ihn so schmerzlich zu vermissen? Gibt es eine Zukunft,

    fragt sie sich, in der es nicht andauernd wie blöd wehtut, in der sie nicht in jeder Sekunde sein Fehlen

    spürt, diese Lücke und Leere und diese nicht endenwollende Traurigkeit, die sich genau dort

    befindet, wo er gerade noch war? Für einen Moment fühlt sie sich so, wie sie sich ziemlich oft

    während der vergangenen acht, neun Wochen gefühlt hat: als wäre sie irgendwie eingepackt, als

    hätte sie keinen Kontakt zur Welt um sie herum, obwohl sie in diesem Moment immer noch die Hand

    ihrer Schwester auf der Schulter festhält.

    Tatjana drückt die Zigarette aus und nickt in Richtung Himmel, diesem Einerlei aus Grautönen, hier

    und da von unten beleuchtet. „Meinst du, er sitzt auf so einer Wolke?“, fragt sie. Sie will es nett

    klingen lassen, aber es fällt ihr seit seinem Tod schwer, den Zynismus aus der Stimme zu halten.

    Melanie verzieht das Gesicht, legt den Kopf aber dieses Mal nicht schief. „Das ist doch nur eine

    Metapher“, sagt sie. „Und das weißt du.“

    „Und eine Metapher wofür?“, fragt Tatjana zurück, aber sie will keine Antwort hören, sondern geht

    wieder hinein. Sie muss sich fertigmachen.


    *


    Der Saal ist bis zum letzten Platz gefüllt, wie wahrscheinlich an jedem Abend bis zum zweiten

    Weihnachtsfeiertag, wenn sie das Stück zum letzten Mal in diesem Jahr spielen werden – also in vier

    Tagen. Tatjana wünscht sich, dass jede Inszenierung ständig ausverkauft wäre, aber dieser Wunsch

    ist genauso naiv wie Melanies Metapher mit der Wolke. Die Leute gehen in der Weihnachtszeit in

    Weihnachtsstücke (vor allem in Weihnachtsmusicals), und es gehen viel mehr Leute in

    Weihnachtsstücke als in das restliche Repertoire, so ist das einfach.


    Auf dem Weg ins Theater lief im Autoradio dieser Song aus den Neunzigern, „Ohne Dich“ von Selig,

    mit dieser Zeile „Ich nähte mir einen Bettbezug aus der Zeit, die wir hatten“, und mit diesem Refrain,

    „Es ist so oh-oh ohne Dich, ich will das nicht“, der sie so sehr gepackt hat, dass sie ihr Auto an den

    Straßenrand lenken und sich ordentlich ausheulen musste, obwohl es in dem Lied nur um eine ganz

    normale Trennung geht. Dann ist sie ausgestiegen und hat mit zitternden Fingern eine geraucht, und

    sie hat zum x-ten Mal darüber nachgedacht, ob das alles noch Sinn hat. Ob sie aufhören sollte.

    Mit allem.

    In diesem Moment rief Schleifer an, der Regisseur, und teilte ihr mit, dass Sofie heute ausfällt und

    dass Tatjana als Zweitbesetzung für die Schneekönigin zum Einsatz kommen wird. Ihre Rolle ist

    eigentlich die der Blumenfrau, und Sofie de Bruin hat die Hauptrolle nicht bekommen, weil sie besser

    als Tatjana ist (was nicht der Fall ist), sondern weil sie mit der Intendantin ins Bett geht, aber so ist das am Theater eben.


    Sie hat eine etwas schmalere Figur als Sofie, aber das Kostüm sitzt gut. Es sieht großartig aus und es

    fühlt sich großartig an. Während sie eingekleidet und geschminkt wird, denkt sie an etwas, das Carlo

    unermüdlich wiederholt hat. „Es geht nicht darum, dich so zu fühlen wie deine Figur. Es geht darum,

    das Publikum glauben zu lassen, dass es so ist.“ Ohne diese beiden Sätze hätte sie während der

    vergangen zwei Monate keinen Abend überstanden, obwohl sie keine bahnbrechende Weisheit

    enthalten, sondern etwas, das jeder gute Schauspieler verinnerlicht haben muss, aber sie sieht Carlo

    vor sich, während sie an diese Sätze denkt, sieht ihn sprechen und lächeln und leuchten und mit

    seiner gesamten Kraft an sie glauben. Und dann wird ihr mit einem Mal klar, dass die eigentliche

    Kraft natürlich nicht von ihm kam, sondern immer schon nur von ihr selbst. Sie begreift, dass sie ohne

    diese Unterstützung auskommen muss. Auskommen will. Auskommen wird.

    Weil sie das kann.


    Und dann geht sie auf die Bühne und haut das Publikum komplett aus den Socken.


    Zum ersten Mal seit der Premiere hat sie das Gläschen nach der Show mitgetrunken, hat sich feiern

    und umarmen lassen, sogar von Käthe, der Intendantin, die dabei ziemlich hin- und hergerissen

    dreingeschaut hat, mal ziemlich fröhlich und mal besorgt. Zum ersten Mal seit zwei Monaten waren

    ihre Gedanken nicht unaufhörlich bei ihm, bei dieser Lücke, diesem trichterförmigen Loch in ihrem

    Leben. Zum ersten Mal konnte sie sich über etwas freuen, und sogar auf etwas – zum ersten Mal

    kommt in diesem Moment, als sie aus dem Bühneneingang auf die Straße tritt, sogar ein ganz leicht

    weihnachtliches Gefühl auf, ein Hauch von Geborgenheit. Sie spürt außerdem die klirrende Kälte; die

    Temperatur muss während der vergangenen drei Stunden ganz schön gesunken sein. Tatjana sieht

    zum Himmel, der klar ist und an dem sie schon nach ein paar Sekunden ziemlich viele Sterne

    erkennen kann.

    Und dann entdeckt sie etwas über sich, in großer Höhe zwar, aber es ist eindeutig da: Eine einzelne,

    kleine, ganz schneeweiße Wolke, die das Licht der Stadt zu reflektieren scheint. Im gleichen Moment

    wird sie von hinten umarmt. Natürlich ist ihr Melanie gefolgt, natürlich war sie heute wie an jedem

    Abend seit dieser Nacht mit ihr im Theater. Tatjana kann sehen, dass Melanie auch nach oben

    schaut, zu der kleinen, weißen Wolke.

    „Siehst du“, sagt Melanie.

    Tatjana lächelt, dreht sich etwas zur Seite und umarmt die kleine Schwester.

  • Der 2. Dezember von Breumel


    Himmelspost auf Umwegen


    Als Anne nach Hause kam, fiel ihr sofort das Paket auf: Mit Sternen aus Glitzerfolie beklebt und mit Schneemännern verziert, stach es aus den unpersönlichen Sendungen hervor, welche sonst unter den Briefkästen von unterbezahlten Paketboten deponiert wurden. Hoffentlich fand das keinen ungeplanten Empfänger! Sie warf einen Blick auf das Adressschild. Falls es einer ihrer Flurnachbarn war, könnte sie es mit hochnehmen. Aber Jan Rosenberg? Nie gehört. Ein Blick auf die Klingelschilder war auch nicht erhellend. Die Adresse stimmte, also hatte sich der Paketdienst wohl entschieden, es einfach abzustellen.


    Am nächsten Morgen stand das Paket immer noch da. Und auch am nächsten Abend. Einerseits freute sie sich, dass ihre Hausgemeinschaft ehrlich zu sein schien, aber es tat ihr auch leid um das liebevoll eingepackte Päckchen. Da hatte sich schließlich jemand wirklich Mühe gegeben! Ob die Adresse falsch war? Kurzerhand rief sie am Handy das Telefonbuch auf, aber dort war niemand mit dem Namen in ihrer Stadt verzeichnet. Was natürlich nichts zu sagen hatte – es gab inzwischen genug Leute ohne Festnetzanschluss, oder zumindest ohne Eintrag im Telefonbuch. Und er konnte ja auch fortgezogen sein. Der Absender war auch nicht hilfreich, da stand nur „Christkind“.

    Ob dieser Jan ein Konto auf Social Media hatte? Der Name war eher ungewöhnlich – dachte sie, aber sie fand eine ganze Reihe von Einträgen. Vielleicht hatte er früher hier im Haus gewohnt? Leider kannte sie ihre Nachbarn nur vom Sehen, mehr als ein freundlicher Gruß war nicht ausgetauscht worden. Zu klingeln wäre da eher aufdringlich. Und bei wem auch?

    Auf dem Weg in ihre Wohnung kam ihr der Zufall zu Hilfe: Eine ältere Frau kam ihr entgegen.

    Anne ergriff die Gelegenheit: „Schönen Tag! Können Sie mir vielleicht sagen, ob hier mal ein Jan Rosenberg gewohnt hat?“

    Die Nachbarin lächelte sie freundlich an. „Herr Rosenberg, ja, das war ein netter junger Mann, der mir manchmal die Einkäufe hochgetragen hat. Der ist vor zwei Monaten ausgezogen. Hat vor ihnen in ihrer Wohnung gewohnt.“

    „Wissen Sie, ob jemand seine neue Adresse hat? Es ist Post für ihn angekommen.“

    „Nein, aber das müsste die Hausverwaltung wissen.“

    „Vielen Dank, da frage ich mal nach. Einen schönen Abend noch!“

    „Ebenso.“

    Jetzt hatte sie eine Spur, der sie nachgehen konnte. Heute war es schon zu spät, aber morgen würde sie dort anrufen. Vorausgesetzt, dass das Paket noch im Flur stehen würde.


    Es stand noch im Flur.

    „Hallo, hier ist Frau Tump. Ich wohne in der Siegenstraße 35 und hätte eine Frage.“

    „Wie kann ich weiterhelfen? Ist mit ihrer Wohnung alles in Ordnung?“

    „Ja, danke, alles bestens. Aber können Sie mir sagen, wie ich meinen Vormieter Jan Rosenberg erreichen kann?“

    „Hat er etwas in der Wohnung vergessen?“

    „Nein, aber hier im Hausflur steht ein Paket für ihn.“

    Kurze Stille.

    „Das ist ungünstig. Das ist wohl vom Nachsendeauftrag nicht erfasst worden. Steht denn ein Absender drauf?“

    „Dummerweise nichts brauchbares.“

    „Ich darf ihnen leider auch nichts zur neuen Adresse sagen. Da können wir nur hoffen, dass sich der Absender bei Herrn Rosenberg meldet und dieser nachschaut.“

    „Könnten Sie ihn vielleicht anrufen und Bescheid geben?“

    „Ich versuche es.“

    „Danke! Dann noch einen schönen Tag!“

    „Ebenfalls!“

    Viel hatte Anne nicht erfahren, aber sie hoffte, dass die Benachrichtigung ankommen würde. Und wenn er nachschauen konnte, war er wohl auch nicht weit weggezogen. Sie hatte jedenfalls getan, was sie konnte, und die Frau von der Hausverwaltung würde ihm schon Bescheid geben.


    Oder auch nicht – das Paket stand drei Tage später immer noch im Hausflur. Entweder sie hatte ihn nicht erreicht, es vergessen, oder das Paket interessierte ihn nicht. Letzteres konnte sie sich allerdings nicht vorstellen. Ob sie nochmal anrufen sollte? Wirklich Lust darauf hatte sie nicht. Aber Moment – die Hausverwalterin hatte doch etwas von Nachsendeauftrag gesagt. Nachdem Anne erst seit zwei Monaten in der Wohnung wohnte, sollte der noch aktiv sein. Kurzerhand nahm sie einen Briefumschlag, adressierte ihn an Jan Rosenberg, Siegenstraße 35, und schrieb einen kurzen Brief:

    „Lieber Herr Rosenberg, im Hausflur ihrer alten Adresse wartet ein Paket auf sie. Wenn ich es in Verwahrung nehmen oder ihnen zuschicken soll, rufen Sie mich doch bitte an. Ihre Nachmieterin Anne Tump“

    Darunter schrieb sie ihre Handynummer. Der Kasten vorm Postamt wurde heute noch geleert, dann würde der Brief morgen, spätestens übermorgen bei Herrn Rosenberg sein.


    Zwei Tage später klingelte ihr Smartphone, und es wurde „Unbekannte Nummer“ angezeigt. Erwartungsvoll nahm sie den Anruf an.

    „Anne Tump“

    „Hallo Frau Tump, hier ist Jan Rosenberg. Sie hatten mir einen Brief geschrieben. Wegen eines Pakets.“

    „Ja, schön dass Sie zurückrufen. Hier steht ein weihnachtlich verziertes Päckchen für sie im Flur. Seit ungefähr einer Woche. Leider hatte niemand ihre Kontaktdaten, und es ist auch kein Absender drauf.“

    Ein kurzes Stocken. „Das muss von meinem Onkel sein. Vielen herzlichen Dank, dass sie mir Bescheid gegeben haben. Können sie es in Verwahrung nehmen, bis ich es abholen kann?“

    Anne freute sich. „Kein Problem. Wie weit wohnen Sie denn weg? Ich kann es Ihnen auch zuschicken lassen.“

    „Nicht nötig, ich bin nicht wirklich weggezogen. Nur in eine eigene Wohnung. Könnte ich Samstagvormittag vorbeikommen?“

    „Wie wäre es gegen 11 Uhr?“ Anne war keine Frühaufsteherin.

    „Gerne!“

    „Dann bis Samstag!“


    Anne war aufgeregt. Sie wusste, dass Jan ein junger Mann war, und die Nachbarin hatte ihn als nett bezeichnet, also hatte sie keine Bedenken. Aber sie war neugierig. Wer war der Mensch, den sie eine Woche lang gesucht hatte? Als es klingelte, eilte sie zur Haustür und drückte den Summer, der die Eingangstür freigab. Türspion? Oder gleich öffnen? Sie entschied sich für letzteres.

    Ein gepflegt aussehender junger Mann kam die Treppe hinauf und lächelte sie an. „Frau Tump?“

    „Sagen Sie Anne, sonst komme ich mir alt vor.“

    „Dann müssen Sie Jan zu mir sagen!“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

    Sie schüttelte sie. Warmer, kräftiger Händedruck – passt! „Möchten Sie auf einen Kaffee hereinkommen?“

    „Ich möchte keine Umstände machen.“

    „Macht keine, ich habe gerade eine Kanne aufgesetzt.“

    „Dann gerne!“

    Sie gingen ins Wohnzimmer. Anne holte zwei Tassen und dann das Paket.

    Als Jan es sah, schluckte er und hatte Tränen in den Augen.

    „Alles in Ordnung?“, fragte sie.

    „Ja. Es ist nur – das Päckchen ist von meinem Onkel, bei dem ich aufgewachsen bin. Er war schon leicht dement und hat wohl die falsche Adresse erwischt. Und vor nicht ganz zwei Wochen ist er verstorben. Er muss es kurz vorher aufgegeben haben.“

    „Das tut mir sehr leid. Aber dann ist es sowas wie ein Weihnachtsgruß vom Himmel?“

    Mit feuchten Augen sah er sie an und lächelte. „So ungefähr! Und es bedeutet mir wirklich sehr viel, dass sie sich die Mühe gemacht haben, mich zu erreichen.“

    Sie lächelte auch, froh über ihre eigene Hartnäckigkeit. „Das war so liebevoll geschmückt, es musste einfach zu seinem Empfänger! Jetzt können sie es an Weihnachten unterm Baum öffnen.“

    Er wirkte wieder etwas bedrückt. „Ein Baum lohnt sich für mich nicht. Mein Onkel war mein letzter lebender Verwandter. Aber sein Paket bringt mir nochmal Weihnachten ins Haus.“

    Anne überlegte. Sie fand Jan ziemlich sympathisch. „Meine Eltern sind an Weihnachten auf Kreuzfahrt, ich bin also auch allein. Und habe keine große Lust, den ganzen Abend Plätzchen essend vorm Fernseher zu sitzen. Vielleicht könnten wir ja gemeinsam essen gehen, oder ins Kino.“

    Leicht ungläubig sah er sie an.

    Jetzt war Anne ihre Direktheit peinlich. „Natürlich nur, wenn sie noch nichts vorhaben.“

    „Das wäre schön.“ Freude erhellte sein Gesicht.

    „Dann müssen wir aber auch Du sagen!“

    „Gerne!“ Er strahlte. Offenbar gefiel sie ihm auch.

    So unterhielten sie sich noch eine ganze Stunde. Und an Heiligabend verstanden sie sich blendend.


    Im nächsten Jahr gab es kein Weihnachtspäckchen vom Onkel, dafür erhielt Jan ein Geschenk von Anne. Und sie eines von Jan. Allein waren sie auch nicht, denn Jan feierte mit Annes Familie, die bald zu seiner geworden war. Geschenke können eben doch glücklich machen …


    Frohe Weihnachten!

  • Der 3. Dezember von kerlie


    Weihnachtszeitwende


    Erster Advent! Klaus-Hermann riss das Kalenderblatt ab und seufzte. Es war mal wieder so weit. Heute galt es, einen klaren Kopf zu behalten. Wenn alles gut ging, dann würden sie heute einen großen Schritt in Richtung Moderne machen und sich zukunftsfähig aufstellen. Der Himmel wusste, wie viele Veränderungen er schon auf den Weg gebracht hatte, aber in letzter Zeit schien ihn das Leben endgültig zu überholen. Hoffentlich ist es nicht zuviel auf einmal, dachte er, während er den letzten Schluck seines nur noch lauwarmen Kaffees herunterkippte. Und dass er langsam zu alt für sowas war, ging ihm auch noch durch den Kopf. Dann machte er sich auf den Weg.


    Um 15.00 Uhr trudelten die ersten Teilnehmenden ein und gegen kurz vor halb vier stellte Klaus-Hermann zufrieden fest, dass der Raum bis zum letzten Platz gefüllt war. Er atmete noch einmal tief durch und trat dann ans Mikrofon. „Liebe Weihnachtsmänner, liebe Weihnachtsfrauen, ich begrüße euch zu unserer diesjährigen Hauptversammlung, diesmal mit dem Schwerpunkt BNE – also Bescherung in Zeiten nachhaltiger Entwicklungen. Zunächst einmal geht mein herzlicher Dank an Klaus-Rudolf, auf dessen Rentier-Zuchtstation wir in diesem Jahr zu Gast sein dürfen.“ Er wies auf den Gastgeber und es wurde kräftig applaudiert. „Gibt es Anträge auf Änderung der Tagesordnung?“ Eine Weihnachtsfrau aus der zweiten Stuhlreihe machte lautstark auf sich aufmerksam. „Ja, hier! Ich stelle den Antrag, dass der Tagesordnungspunkt vier nach vorne gesetzt wird.“

    Klaus-Hermann schaute auf den Zettel in seiner Hand und stellte fest, dass es sich bei Punkt vier um den Antrag handelte, Bescherungen oben ohne durchführen zu dürfen - also ohne künstlichen Bart. Das konnte ja heiter werden. „Die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte richtet sich nach der Reihenfolge der eingegangenen Anträge,“ erklärte er.

    „Das ist mir egal,“ entgegnete die Antragstellerin. „Und wer legt denn eigentlich fest, dass sich die Tagesordnung nach der Reihenfolge der Anträge richtet, hä?“ Noch bevor Klaus-Hermann antworten konnte, schrie die Kollegin Klaudia-Alice aus der vorletzten Reihe „Alte weiße Männer!“ und erhielt tosenden Applaus von allen anwesenden Frauen. Klaus-Hermann spürte die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn. Ein Tumult, noch bevor es ans Eingemachte ging, war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Er bimmelte energisch mit einer goldenen Glocke und erbat sich Ruhe. „Ich danke für Ihren Einwand. Da wir ohnehin alle TOPs bearbeiten müssen, ist die Reihenfolge tatsächlich ohne Belang. Wenn Sie, liebe Weihnachtsfrauen, sich damit wohler fühlen, können wir die Agenda gerne dahingehend ändern.“ Die Frauen im Raum applaudierten, die männlichen Anwesenden tuschelten oder schüttelten die Köpfe.


    Es folgte eine kurze Debatte über die Notwendigkeit des Tragens eines weißen Rauschebartes zur gelingenden Ausgestaltung einer Bescherung, und am Ende war es vermutlich einem jungen Kollegen zuzuschreiben, dass die Frauen mit einer Stimme Mehrheit ihr Recht bekamen. Klaus-Hermann erinnerte sich gut - dieser junge Mann hatte bei seiner Einstellung im letzten Jahr im Personalbogen kein Kreuzchen bei der Geschlechtsangabe setzen wollen. Das hatte einen Aufruhr gegeben! Wie ist die Welt doch bunt geworden, dachte er.


    „Kommen wir zu Punkt zwei der Tagesordnung,“ führte Klaus-Hermann weiter im Programm, „es geht um die klimaneutrale Logistik. Der Kollege Klaus-Robert hat dazu ein Themenportfolio zusammengestellt. Klaus-Robert – du hast das Wort.“

    Der Angesprochene trat ans Mikrofon. „Wir werden in Zukunft nicht mehr umhinkommen, für unsere Rentiere Biofutter anzuschaffen. Es muss darum gehen, die Ernährung unserer Haupttransporteure saisonal und regional auszugestalten.“ „Und wer soll das bezahlen?“ rief ein Weihnachtsmann alter Schule aus der Menge. Scheinbar zu Recht hatte Klaus-Hermann ihn schon im Vorfeld als einen der Rädelsführer im Widerstand gegen die nachhaltige Entwicklung eingeschätzt.

    „Dazu gibt es einen vielversprechenden Lösungsansatz. Ich weiß, dass es insbesondere für die traditionsbewussten Kolleginnen und Kollegen schwer vorstellbar ist, aber ich halte es für dringend notwendig, unsere Rentierflotte um einige E-Schlitten zu erweitern. Das brächte uns nach etwa vier Jahren wieder auf eine schwarze Null. Der Kollege Klaus-Elon entwickelt dazu gerade einen Businessplan, der euch dann nach dem Fest zugehen wird.“ Das Gemurmel schwoll an, scheinbar gab es wilde Diskussionen. Klaus-Hermann bat um Ruhe.


    „Gut, das ist jetzt noch nicht abstimmungsfähig, aber der nächste Punkt ist ebenfalls brisant. TOP 3: Der veränderte Verpackungsanspruch. Unsere Kundschaft besteht immer vehementer auf nachhaltigen Verpackungsmaterialien, zum Teil soll sogar gänzlich darauf verzichtet werden. Da werden Geschenke in Zeitungspapier verlangt, oder gar in Trockentüchern oder Stoffresten. Dazu eine Anmerkung, Klaudia-Eva?“ Die Angesprochene erhob sich. „Ja, das stimmt. Ich habe gesehen, dass es auf zahlreichen Wunschzetteln den Zusatz gibt: Bitte mit wiederverwendbarer oder ganz ohne Verpackung! Das darf nicht sein! Wir sind doch kein Versandhandel!“ Auch um diesen Punkt der Tagesordnung wurde lange gerungen. Letzten Endes stimmte man für den nachhaltigen Verpackungsmodus, allerdings unter der Bedingung, dass die in der Verpackungsbranche tätigen Elfen und Engel eine entsprechende Fortbildung erhalten sollten, um auf die veränderten Bedingungen vorbereitet zu werden. Klaus-Hermann atmete auf – das war aus seiner Sicht das dickste Brett gewesen.


    „Nun zu Punkt vier der Tagesordnung. Und auch da ist der geschätzte Kollege Klaus-Robert wieder der richtige Ansprechpartner.“ Dieser ergriff erneut das Wort. „Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vielleicht nicht allen bewusst, aber das, was wir bei der Bescherung bislang immer als die „warme Stube“ erlebt haben, gibt es nicht mehr. Wir müssen uns dieser Realität stellen und uns in Zukunft wärmer anziehen. Ich bitte daher um die Zustimmung zur Anschaffung von Thermo-Unterwäsche für die Abteilung Auslieferung, finanziert über den Etat `extreme Herausforderungen´. Aus dem Stimmengewirr war vielfach das Wort `arschkalt´ zu hören und folgerichtig gab es hier eine breite Zustimmung. Klaus-Hermann übernahm wieder. „Dann wünsche ich allen Anwesenden jetzt noch viel Spaß beim abschließenden Get-together mit Glühwein und Plätzchen. Der letzte Tagesordnungspunkt wird nun im open-space-Verfahren durchgeführt. Die Kollegin Klaudia-Annina hat einen Markt-der-Möglichkeiten mit zahlreichen Ständen zum Thema nachhaltiges Schenken vorbereitet. Ich kann von hier aus die Angebote mehrerer Umweltkaufhäuser sehen, das wird bestimmt spannend. Der Kollege Klaus-Fabian steht euch für alle Fragen zu den einschlägigen Online-Second-Hand-Verkaufsplattformen zur Verfügung, ich denke, da ist für jeden was dabei. Euch allen einen schönen Ausklang noch und gutes Gelingen für die kommende Zeit! Schöne Bescherungen!“ Sein erleichtertes Seufzen ging im allgemeinen Stühlerücken unter. Puh! Er war durch! Den Mist sollte nächstes Jahr gefälligst jemand Jüngeres machen, fand er. Vielleicht mal eine Frau. Jetzt wollte er nur noch Glühwein. Mit Schuss!

  • Der4. Dezember von Paradise Lost


    Weihnachtliches Stricken im Winterchalet am kleinen Schottischen Strandberg mit Tee-Buch-Handlung


    Angela war sehr aufgeregt. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie bereits in der Ferne das Ziel ihrer Reise sehen, glaubte sie zumindest. Vor einigen Tagen hatte sie ein Brief eines Anwaltes erreicht, in dem ihr mitgeteilt worden war, dass ein ihr unbekannter gewisser Mr. Veryrich kürzlich verstorben sei, und sie, weil er ganz alleinstehend war, in seinem Testament bedacht hatte.

    „Liebe Angela, ich bin ganz alleinstehend und möchte daher dich in meinem Testament bedenken. Da ich seinerzeit deines Vaters, deines Bruders, deines Neffen, deiner Großmutter ehemaliger Zimmerkumpel war, fühle ich dir gegenüber innigste Verbundenheit und hinterlasse dir mein Chalet im Norden von Schottland. Ich war dort immer gerne im Winter und im unteren Stockwerk hatte eine ältere Dame früher eine Tee-Buch-Handlung, die aber nun auch schon seit ein paar Jahren leer steht. Vielleicht kannst du ja etwas daraus machen...?“

    Nachdem Angela diese Zeilen noch einmal überflogen hatte, steckte sie den Brief wieder ein und bewunderte die schön verschneite schottische Landschaft vor dem Fenster. Die Ortschaft, die sie erreichen wollte, hieß Cosy Snurrftn und lag auf einem kleinen Berg am Meer, nicht weit entfernt von dem Touristenörtchen Loch McNochnLoch.

    Aus dem Radio ertönten plötzlich bekannte Klänge und sie rief dem Taxifahrer zu: „Könnten sie das Radio vielleicht etwas lauter drehen?“ Er tat ihr den Gefallen und obwohl seine Miene fast unbewegt schien, erkannte Angela doch durch den Rückspiegel an seinen gefurchten buschigen Brauen und den heimlich weggekniffenen Tränen in den Augenwinkeln, dass es ihn tief berühren musste, wie sie mit George Michael gemeinsam die traurige Ballade vom „Last Christmas“ sang.


    Angela war von Beruf Modejournalistin in New York und dort sehr erfolgreich gewesen. Doch da ihre Jugendliebe Bob sie wegen einer älteren Frau verlassen hatte, hielt sie dort nichts mehr. Sie würde nun in die urige schottische Natur gehen um eine andere, zufriedenere Frau zu werden. Nicht mehr getrieben von Ehrgeiz und Geld. Sie freute sich und brummte manchmal schon leise zufrieden vor sich hin, wenn sie daran dachte. Nur so zur Übung.


    Als sie schließlich in Cosy Snurrftn angekommen war, sah es dort aus, als ob alles mit Zuckerguss überzogen wäre. Die Häuser und Autos, die Bäume und ein paar Schafe. Alles wirkte wie verzaubert. Während sie sich noch umsah und versuchte sich zu orientieren, hörte sie hinter sich ein lautes POFF. Sie drehte sich überrascht um und sah einen attraktiven rothaarigen Mann im Schnee liegen. Er war offenbar über einen ihrer Koffer gestolpert, die der Taxifahrer ausgeladen hatte, bevor er verschwunden war. „Oh du meine Güte, das tut mir aber leid, haben sie sich verletzt?“

    Er richtete sich wieder auf und schüttelte sich Schnee von den Kleidern und aus seinen wirklich erstaunlich roten Haaren. „Nah Lassie, alles okay bei mir.“ Er betrachtete sie von oben bis unten. „Sie sind doch bestimmt die Erbin vom alten Veryrich, oder?“ Angela bejahte überrascht und lies sich von dem überaus attraktiven und rothaarigen Mann die Koffer abnehmen. „Ich bin Ewan. Mir gehört hier der "Kleine Bauladenmarkt und Werkzeugbedarf um die Ecke", zwinkerte er ihr zu. Angela war sehr froh, dass sie sich doch in ihrer Sprachapp den Kurs „Argggh ChChCh Haggis – Schottland verstehen und lieben“ gebucht hatte, sonst wäre sie vermutlich verloren gewesen, doch so verstand sie jedes Wort des charmanten Ewan perfekt. Er zeigte ihr den Weg zu dem verschneiten Chalet, das von nun an ihr zu Hause werden sollte. Es wirkte ein wenig einsam und verlassen, ein Stück oberhalb des Dorfes auf dem verschneiten LowerthanHigh.


    Der Schlüssel, den Angela erhalten hatte, passte zum Glück und sie betrat mit ihrem sehr attraktiven Begleiter die hölzerne Hütte. Sie erkannte gleich den abgetrennten Bereich, in dem wohl früher die Tee-Buch-Handlung gewesen war. „Hier war früher eine Tee-Buch-Handlung.“, erklärte Ewan. Angela nickte und pustete sich auf die kalten Hände. „Oh, ihnen ist kalt? Warten sie einen Moment.“ Ewan verschwand und Angela hatte Zeit, sich weiter im Haus umzusehen und ging in den ersten Stock. Abgesehen von der Kälte war es sehr gemütlich eingerichtet, kuschlige Kissen und Deckchen überall, Karomuster in allen Formen und Farben. Sie würde nur ein wenig staubwischen müssen, dann war es der perfekte kleine Rückzugsort, von dem sie immer geträumt hatte. Es waren vielleicht 5 Minuten vergangen, da hörte sie unten Schritte. „Ewan, sind sie das?“ „Aye, ich habe ihnen schnell ein bisschen Holz gehackt“. Als sie wieder unten bei ihm war, lagen ungefähr 50 Holzscheite aufgestapelt neben einem großen Kamin in dem Ewan eben ein lauschiges Feuerchen entzündete. Als er damit fertig war, trat er kurz nahe an sie heran. „Willkommen in Cosy Snurrftn“, raunte er und seine tiefe Stimme klang wie Karamell mit Salz in einer Marshmallow Whiskey Fusion.

    Sie wollte ihm noch ein „Danke“ hinterherhauchen, doch da war er bereits draußen im Schnee verschwunden.


    Für die ersten paar Tage war Angela sehr damit beschäftigt ihre Hütte zu beziehen und bei den Einkäufen im Ort die Einheimischen kennenzulernen. All die Menschen hier waren so freundlich und hilfsbereit und waren rührend um ihr Wohlergehen besorgt. Am besten verstand sie sich mit Bonnie, der netten dicken Verkäuferin aus dem „Kleinen Gemüsetempel am Stückchen Land kurz vor der Klippe“. Sie war herzensgut, aber auch eine ziemliche Klatschbase. Sie hatte Angela sofort unter ihre Fittiche genommen und ihr nach Abklärung ihres Familienstandes die besten Junggesellen des Ortes vorgestellt. Ewan war natürlich darunter. Aber es gab auch noch Robert, den Besitzer des „Kleinen Klemmbausteinladens hinter dem Besucherparkplatz“. Er war ein wenig zurückgezogen und grummelig, aber auch ehrenwert, da er das Geschäft nur so lange führen wollte, bis der Sohn seines verstorbenen Bruders zum Manne herangewachsen war und dessen Erbe antreten würde.

    Rory, der starke, hochgewachsene, schweigsame Bauer einer großen „Kleinen Hühnerfarm am Strandweg“ war Angela inzwischen auch schon über den Weg gelaufen. Sie hatte ihn angelächelt, aber er hatte nur den Blick zum Boden abgewandt und heiser etwas vor sich hingeflucht.

    Theoretisch gäbe es noch einen vierten Kandidaten, Jack Jackington, aber von dem riet Bonnie ihr dringlich ab. Er stammte zwar ursprünglich aus diesem Dorf, aber war später nach London gegangen, wo er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden war. Nun war er wieder da, aber Bonnie warnte Angela. Sie hatte von der Nichte der Wäschefrau seiner Mutter erfahren, dass er bereits viel Bauland in der Gegend erworben hatte und dem nun auch seinen Heimatort hinzufügen wollte. „Und das riecht für mich wie eine Muschel, die schon seit 4 Wochen tot offen am Strand liegt und in die ein paar Möwen reingemacht haben!“, ereiferte sich Bonnie, während sie einem Kind einen Spinatlollie reichte. Angela versuchte sie zu beruhigen „Solange ihr nicht verkaufen wollt, kann doch gar nichts passieren.“ Aber Bonnie blieb skeptisch.


    Als Angela mit dem bewohnbaren Teil des Hauses fertig war, widmete sie sich der Tee-Buch-Handlung. Eine sehr schöne und gemütliche Idee. Man konnte dort Tee trinken und in einem Buch lesen. Oder man kaufte Tee und las ein Buch. Oder man kaufte ein Buch und las im Tee. Die Zukunft schien wieder voller Möglichkeiten und Angela war bereit dafür. In ihrer Freizeit hatte sie sich auf ein altes Hobby ihrer Kindheit besonnen und wieder mit dem Stricken begonnen. Die Wolle der Schafe im Ort hatte eine vorzügliche Qualität und so hatte sie sich mit mehreren Knäueln aus dem „Kleinen Wollladen in der Mitte zwischen Berg und Strand“ eingedeckt. Im Haus hatte sie beim Aufräumen ein Paar Stricknadeln entdeckt, die manchmal mysteriös glitzerten, wenn sie sie in die Hand nahm. So verbrachte sie ihre Abende inzwischen oft vor einem gemütlichen Feuerchen mit hochgelegten Füßen und strickte glücklich vor sich hin. Einzig in der Gesellschaft ihres neuen Freundes Ernie, einer Schildkröte, die ihr bei einem Strandspaziergang nachgelaufen war und der sie nun ein Zuhause geschenkt hatte.

    Es war nicht mehr lange bis Weihnachten und daher bereitete es Angela auch großes Vergnügen das Haus vom Dach bis zum Untergeschoss festlich zu dekorieren mit Tannengrün, Kerzen, glänzenden Kugeln, Spitzkohlblättern und rot-weißen Zuckerstangen. Ewan war sogar vorbeigekommen und hatte ihr ein kleines Weihnachtsbäumchen vorbeigebracht, welches nun wohlig-duftend auf einem kleinen Tischchen stand. Dieser Ort war einfach perfekt für ein glückliches Bilderbuch-Weihnachten, dachte Angela, als sie fertig mit dem Schmücken des Bäumchens war. Ernie kaute zustimmend an einem Stück Spitzkohl.


    Doch bereits am nächsten Tag sollte sie bei einer Bürgerversammlung des Ortes eines Besseren belehrt werden. Jack Jackington hatte diese einberufen lassen, um den Bewohnern von Cosy Snurrftn die Pistole auf die Brust zu setzen. Keiner hatte an ihn verkaufen wollen, damit bedrohten sie den großen Deal, den er mit einem reichen exzentrischen Amerikaner am Laufen hatte, der hier in der Gegend einen Themen-Park eröffnen wollte, in dem genetisch veränderte Highlander von Besuchern bestaunt und gefüttert werden konnten. Der Amerikaner wollte nicht länger warten und drohte Jack auszusteigen. So holte Jack schließlich zum großen Schlag aus:

    „Wenn ihr mir eure Grundstücke nicht verkauft, dann lege ich die Fernwärme-Zuleitungen zu eurem Dorf lahm. Dann könnt ihr schöne Weihnachten feiern, ich habe gehört es soll -20 Grad werden. Da könnt ihr euch ein paar warme Gedanken machen!“ Er lachte unangenehm und ging rückwärts zur Tür hinaus, um so lange wie möglich Blickkontakt zu halten.

    Alle waren ratlos und fürchteten sich sehr. Sie trauten Jack zu, dass er diese Drohung wahr machen konnte. Er hatte die entsprechenden Beziehungen. „Wir müssen etwas tun!“, rief Ewan heroisch. „Aber was?!“, antworteten die Anderen verzweifelt. „Jemand sollte den Hammel ordentlich verprügeln!“, rief Bonnie. „Hmmm... ich glaube ich habe eine Idee.“, murmelte Angela leise vor sich hin.

    Sie hatte schon öfter beim Stricken mit diesen eigentümlichen glitzernden Nadeln das Gefühl gehabt, als würde es leicht und wie von Zauberhand gehen. Es galt diese Theorie auf die Probe zu stellen ...


    Wenige Tage später, es war der 24. Dezember, erschien Jack, um auf dem Dorfplatz zu verkünden, dass das Ultimatum abgelaufen sei und da weiterhin niemand verkaufen wollte, sie sich nun alles Folgende selbst zuzuschreiben hätten. Bereits auf dem Weg zum Dorfplatz, in seinem sehr teuren Auto, wunderte er sich, dass er hie und da Leute sah, die auf den Dächern ihrer Häuser standen.

    Auf dem Platz empfing ihn eine kleine Abordnung von Einwohnern des Dorfes, die ihm trotzig das Kinn entgegenstreckten. „Tja, ihr habt es nicht anders gewollt. Ihr werdet in den nächsten Tagen und Nächten wohl eng zusammenrücken müssen.“, verkündete er arrogant.

    Angela, die ebenfalls Teil der Abordnung war, trat einen Schritt nach vorne. „Das hätten sie wohl gern, sie schrecklicher Unmensch! Aber wir lassen uns von jemandem wie Ihnen hier nicht erpressen.“ Sie hob einen Arm und wedelte damit, als Zeichen für die anderen. Jack sah sich überrascht und verwirrt um. Plötzlich schienen überall auf den Dächern Leute zu stehen. Sie hantierten jeder an etwas herum und schließlich rollten sich, wie eine Welle aus Flausch, vom Dach eines jeden Hauses riesige Wollmützen herab, so warm und kuschelig, wie man sie nie zuvor sah. Sie hüllten die Häuser ein und sorgten dafür, dass es im Inneren warm blieb. Mit der Macht der magischen Stricknadeln hatte Angela es geschafft, innerhalb weniger Tage, für jedes bewohnte Haus des Dorfes eine solche riesige, gestreifte Mütze zu stricken.

    „Es ist vorbei Jack, ihr Plan ist gescheitert!“, rief Ewan ihm zu und legte einen Arm um Angelas Schultern, so dass ihr ebenfalls so warm wurde wie unter einem gigantischen Wollüberzieher. „Diese wunderbare Frau hat uns alle gerettet, und du verziehst dich jetzt besser!“

    Jack wich zurück, als hätte man ihn geschlagen. „Mein Plan hätte funktioniert, wenn diese nervige Amerikanerin nicht gewesen wäre, verdammt soll sie sein.“ und damit stieg er hastig in sein Auto und fuhr so schnell davon, dass die Reifen quietschten.


    Alle freuten sich sehr, dass der gemeine Fiesling ihnen nichts mehr anhaben konnte und das Dorf gerettet war. Sie veranstalteten eine große Feier mit viel Essen, Trinken und Süßigkeiten. Eben allem, was so zu Weihnachten gehörte. Angela wurde als die große Heldin und Retterin gefeiert und von jedem herzhaft gedrückt und beschenkt.

    Später am Abend, in der Heiligen Nacht, spazierten Angela und Ewan gemeinsam im Schnee und blickten verträumt nach oben, in die sternenklare Nacht. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und Ewan hatte wieder seinen Arm um sie gelegt.

    „Oh Ewan, hast du das eigentlich ernst gemeint, was du vorhin gesagt hast, findet du mich wirklich wunderbar?“ Er nickte und das kleine Grübchen in seinem schottischen Kinn nickte mit. Angela fühlte wieder diese Wärme in sich aufsteigen, und als Ewan sich schließlich über sie beugte und sie zärtlich küsste, da war es ihr, als hörte sie die himmlischen Engelschöre.

    Doch dazu mischte sich plötzlich auch der Klang von kleinen Glöckchen. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. „Ewan, sieh nur!“ Er tat wie ihm geheißen, ließ sie dabei aber nicht aus seinen starken, männlichen Armen.

    „Jetzt ist wirklich Weihnachten.“, flüsterte er.


    Über ihnen flog ein Schlitten am Himmel vorbei, gezogen von Rentieren, die geschmückt waren mit silbernen Glöckchen. Im Schlitten stand eine hohe, kräftige Gestalt. Er winkte herunter und der Wind wehte durch sein langes blondes Haar und ließ seine gefütterte lederne Jacke flattern, so dass man seine makellose, breite, nackte Brust im Mondlicht schimmern sehen konnte. Auf dem Kopf thronte ein gehörnter Helm.

    Es war der Weihnachtswikinger.

    Er lachte laut und tief und mit einem fröhlichen „GOD JUL!“ verschwand er mitsamt seinem Schlitten in die Weihnachtsnacht.


    - THE END -