Der Büchereulen-Adventskalender 2024

  • Der 1. Dezember von Tom


    Ohne Dich


    Als Tatjana an diesem Morgen im Oktober sehr früh und deshalb noch im Stockdunkeln erwacht, ist ihr sofort bewusst, dass etwas nicht stimmt. Sie spürt, dass Carlo zwar neben ihr liegt, aber als sie in diesem Augenblick instinktiv den Atem anhält und dann lauscht, ist es still - sehr viel stiller, als es sein sollte. Während einem Teil von ihr klar wird, was das bedeuten kann, und ein anderer Teil von ihr diesen Gedanken mit aller Macht zurückzudrängen versucht, wird sie von einer Gänsehaut geflutet, beginnt sie zu zittern, fühlt sie, wie ihre Kopfhaut spannt. Sie tastet hastig mit der linken Hand nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe und mit der rechten kurz darauf viel vorsichtiger nach ihrem Mann, ihrem geliebten Carlo, ihrem Ein und Alles, dem Kern und Zentrum ihres Daseins. Sie berührt seine Wange, dann seinen Hals.


    Er ist kalt.


    *


    „Carlo sitzt auf einer Wolke und schaut uns zu“, sagt Melanie. „Er passt auf dich auf und wartet dort

    auf dich.“

    Tatjana blickt kurz zu ihr und danach, wie Melanie auch, zu Carlos großformatigem, gerahmten Foto,

    das neben der Küchentür hängt und ihn zeigt, wie er in Badeshorts grinsend an einem Strand auf

    Kassandra steht und einen glitschigen Oktopus in die Höhe hält. Sie konzentriert sich sofort wieder

    darauf, den Teig gleichmäßig auszurollen. „Glaubst du das wirklich?“, fragt sie dabei leise.

    Ohne hinzusehen, weiß Tatjana, dass Melanie den Kopf schief gelegt hat. Das macht Mel immer,

    wenn sie sich unsicher ist oder ihr etwas Peinliches passiert ist oder sie sich nicht im Klaren darüber

    ist, ob sie vielleicht einen Fehler gemacht hat. Tatjana liebt ihre kleine Schwester sehr, aber diese

    Naivität nervt sie manchmal. Nein, sogar ziemlich oft.

    Sie greift nach der Plätzchenform für einen Flamingo, obwohl man den Teig irre schwer aus der Form

    bekommt. Da liegen neben den Klassikern wie Tannen, Sternen, Weihnachtsmännern und Rentieren

    außerdem Hasen, Rennautos, Ampelmännchen und solche Dinge, und sogar eine Form für Baby

    Yoda. Irgendwie ist ihr danach, heute Plätzchen in möglichst unweihnachtlichen Konturen

    auszustechen. Carlo hat Weihnachten geliebt, hat sich schon ab Anfang November auf das Fest

    gefreut, und er gehörte zu den wenigen, die nicht entrüstet waren, weil bereits im September

    Dominosteine und Spekulatius in den Supermarktauslagen zu finden waren; ganz im Gegenteil. Und

    er mochte Kekse am liebsten in den richtigen Formen.

    Verdammt. Sie denkt an ihn im Präteritum.


    Etwas tropft auf den Plätzchenteig.


    Mel und sie haben ihren kleinen Bruder verloren, das ist zwar viele Jahre her, blieb aber sehr lange

    präsent, ist es manchmal natürlich heute noch. Sie wusste also, wie hart es ist, wenn man auf

    jemanden verzichten muss, den man sehr geliebt hat und immer noch liebt. Doch sie hat nicht

    ansatzweise auch nur geahnt, wie hart es tatsächlich werden kann.

    Tatjana hebt ihre Hände in die Höhe und geht zur Spüle, um sich das Mehl und die Teigklümpchen

    abzuwaschen.

    „Ich brauche eine Zigarette“, sagt sie.


    Auf dem Balkon ist es feuchtkalt, und es nieselt ein bisschen, aber sie mag die kitzlige Nässe im

    Gesicht. Die neblige Bewölkung hängt tief über der Stadt, berührt beinahe die Dächer der

    fünfstöckigen Gründerzeithäuser, und selbst dort, wo kein Nebel ist, sieht es aus, als läge ein

    Weichzeichner über allem. Viele Fenster und Balkone sind mehr oder weniger festlich geschmückt.

    Ein paar Dutzend Meter weiter, wo die Wohnstraße die Hauptverkehrsstraße kreuzt und eine

    Handvoll Geschäfte den Online-Tsunami überstanden hat, hängen Lichterketten zwischen den

    Häusern, und auf der Fahrbahn spiegelt sich ihr Licht in der Nässe. Wenn Carlo jetzt neben ihr

    stünde, würde er sich vorbeugen, die Dekoration begutachten und kommentieren (er verachtete das

    Blinkibunti, wie er die Farbwechsel und hektischen Flackereien nannte) und er würde dabei glücklich

    lächeln. Hätte gelächelt.


    Sie spürt Melanies Hand auf der Schulter; die kleine Schwester ist ihr leise auf den Balkon gefolgt, das

    hat sie schon immer gemacht, ihr hinterherlaufen. Tatjana greift nach der Hand und drückt sie.

    „Rauchen ist scheiße“, sagt Mel.

    Tatjana nickt. Rauchen ist wirklich scheiße. Sie hatte vor zweieinhalb Jahrzehnten damit aufgehört,

    als Carlo in ihr Leben kam und es auf den Kopf stellte. Nein, er hat es nicht auf den Kopf gestellt,

    sondern auf die Füße, denn erst ab da fühlte sich Tatjanas Leben richtig an. Carlo half ihr, die Kraft

    und das Selbstbewusstsein zu entwickeln, um endlich das zu tun, was in ihr gesteckt hatte, um

    Herausforderungen anzunehmen und sich durchzusetzen, und er machte es sich anschließend zu

    seiner Dauer-Hauptaufgabe, sie bei allem zu unterstützen und zu fördern. Sein eigenes Fortkommen

    wurde bedeutungslos für ihn, ist es aber schon immer gewesen, wie er zu betonen niemals aufhörte.

    Ihr Erfolg war sein Erfolg, ihr Glück war seines.

    Gewesen.


    Großer Gott, würde sie irgendwann aufhören, ihn so schmerzlich zu vermissen? Gibt es eine Zukunft,

    fragt sie sich, in der es nicht andauernd wie blöd wehtut, in der sie nicht in jeder Sekunde sein Fehlen

    spürt, diese Lücke und Leere und diese nicht endenwollende Traurigkeit, die sich genau dort

    befindet, wo er gerade noch war? Für einen Moment fühlt sie sich so, wie sie sich ziemlich oft

    während der vergangenen acht, neun Wochen gefühlt hat: als wäre sie irgendwie eingepackt, als

    hätte sie keinen Kontakt zur Welt um sie herum, obwohl sie in diesem Moment immer noch die Hand

    ihrer Schwester auf der Schulter festhält.

    Tatjana drückt die Zigarette aus und nickt in Richtung Himmel, diesem Einerlei aus Grautönen, hier

    und da von unten beleuchtet. „Meinst du, er sitzt auf so einer Wolke?“, fragt sie. Sie will es nett

    klingen lassen, aber es fällt ihr seit seinem Tod schwer, den Zynismus aus der Stimme zu halten.

    Melanie verzieht das Gesicht, legt den Kopf aber dieses Mal nicht schief. „Das ist doch nur eine

    Metapher“, sagt sie. „Und das weißt du.“

    „Und eine Metapher wofür?“, fragt Tatjana zurück, aber sie will keine Antwort hören, sondern geht

    wieder hinein. Sie muss sich fertigmachen.


    *


    Der Saal ist bis zum letzten Platz gefüllt, wie wahrscheinlich an jedem Abend bis zum zweiten

    Weihnachtsfeiertag, wenn sie das Stück zum letzten Mal in diesem Jahr spielen werden – also in vier

    Tagen. Tatjana wünscht sich, dass jede Inszenierung ständig ausverkauft wäre, aber dieser Wunsch

    ist genauso naiv wie Melanies Metapher mit der Wolke. Die Leute gehen in der Weihnachtszeit in

    Weihnachtsstücke (vor allem in Weihnachtsmusicals), und es gehen viel mehr Leute in

    Weihnachtsstücke als in das restliche Repertoire, so ist das einfach.


    Auf dem Weg ins Theater lief im Autoradio dieser Song aus den Neunzigern, „Ohne Dich“ von Selig,

    mit dieser Zeile „Ich nähte mir einen Bettbezug aus der Zeit, die wir hatten“, und mit diesem Refrain,

    „Es ist so oh-oh ohne Dich, ich will das nicht“, der sie so sehr gepackt hat, dass sie ihr Auto an den

    Straßenrand lenken und sich ordentlich ausheulen musste, obwohl es in dem Lied nur um eine ganz

    normale Trennung geht. Dann ist sie ausgestiegen und hat mit zitternden Fingern eine geraucht, und

    sie hat zum x-ten Mal darüber nachgedacht, ob das alles noch Sinn hat. Ob sie aufhören sollte.

    Mit allem.

    In diesem Moment rief Schleifer an, der Regisseur, und teilte ihr mit, dass Sofie heute ausfällt und

    dass Tatjana als Zweitbesetzung für die Schneekönigin zum Einsatz kommen wird. Ihre Rolle ist

    eigentlich die der Blumenfrau, und Sofie de Bruin hat die Hauptrolle nicht bekommen, weil sie besser

    als Tatjana ist (was nicht der Fall ist), sondern weil sie mit der Intendantin ins Bett geht, aber so ist das am Theater eben.


    Sie hat eine etwas schmalere Figur als Sofie, aber das Kostüm sitzt gut. Es sieht großartig aus und es

    fühlt sich großartig an. Während sie eingekleidet und geschminkt wird, denkt sie an etwas, das Carlo

    unermüdlich wiederholt hat. „Es geht nicht darum, dich so zu fühlen wie deine Figur. Es geht darum,

    das Publikum glauben zu lassen, dass es so ist.“ Ohne diese beiden Sätze hätte sie während der

    vergangen zwei Monate keinen Abend überstanden, obwohl sie keine bahnbrechende Weisheit

    enthalten, sondern etwas, das jeder gute Schauspieler verinnerlicht haben muss, aber sie sieht Carlo

    vor sich, während sie an diese Sätze denkt, sieht ihn sprechen und lächeln und leuchten und mit

    seiner gesamten Kraft an sie glauben. Und dann wird ihr mit einem Mal klar, dass die eigentliche

    Kraft natürlich nicht von ihm kam, sondern immer schon nur von ihr selbst. Sie begreift, dass sie ohne

    diese Unterstützung auskommen muss. Auskommen will. Auskommen wird.

    Weil sie das kann.


    Und dann geht sie auf die Bühne und haut das Publikum komplett aus den Socken.


    Zum ersten Mal seit der Premiere hat sie das Gläschen nach der Show mitgetrunken, hat sich feiern

    und umarmen lassen, sogar von Käthe, der Intendantin, die dabei ziemlich hin- und hergerissen

    dreingeschaut hat, mal ziemlich fröhlich und mal besorgt. Zum ersten Mal seit zwei Monaten waren

    ihre Gedanken nicht unaufhörlich bei ihm, bei dieser Lücke, diesem trichterförmigen Loch in ihrem

    Leben. Zum ersten Mal konnte sie sich über etwas freuen, und sogar auf etwas – zum ersten Mal

    kommt in diesem Moment, als sie aus dem Bühneneingang auf die Straße tritt, sogar ein ganz leicht

    weihnachtliches Gefühl auf, ein Hauch von Geborgenheit. Sie spürt außerdem die klirrende Kälte; die

    Temperatur muss während der vergangenen drei Stunden ganz schön gesunken sein. Tatjana sieht

    zum Himmel, der klar ist und an dem sie schon nach ein paar Sekunden ziemlich viele Sterne

    erkennen kann.

    Und dann entdeckt sie etwas über sich, in großer Höhe zwar, aber es ist eindeutig da: Eine einzelne,

    kleine, ganz schneeweiße Wolke, die das Licht der Stadt zu reflektieren scheint. Im gleichen Moment

    wird sie von hinten umarmt. Natürlich ist ihr Melanie gefolgt, natürlich war sie heute wie an jedem

    Abend seit dieser Nacht mit ihr im Theater. Tatjana kann sehen, dass Melanie auch nach oben

    schaut, zu der kleinen, weißen Wolke.

    „Siehst du“, sagt Melanie.

    Tatjana lächelt, dreht sich etwas zur Seite und umarmt die kleine Schwester.