Neige Sinno wurde 1977 in der Region Hautes-Alpes in Frankreich geboren, sie verbrachte viele Jahre in Mexiko und lebt heute im französischen Baskenland. Sie studierte amerikanische Literatur, die sie an der Universität lehrte, und arbeitete als Übersetzerin. Sie hat Kurzgeschichten und den kurzen Roman ›Le Camion‹ sowie mehrere Essays veröffentlicht. ›Trauriger Tiger‹ war ein Bestseller in Frankreich. Ausgezeichnet mit dem Prix Femina, Prix littéraire Le Monde, Prix Goncourt des lycéens, Prix Jean-Marc Roberts, Prix littéraire Les Inrockuptibles, sowie dem Premio Strega Europeo 2024.
"Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat." (Jean Paul Sartre)
Mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester und den Hippie-Eltern wächst Neige Sinno in einem kleinen Ort in den französischen Alpen auf. Als die Mutter einen anderen Mann kennenlernt, lässt sie sich scheiden, um mit dem attraktiven Bergführer und den beiden Kindern, so wie zwei weitere kommen bald hinzu, auf einem heruntergekommenen Bauernhof zusammenzuleben. Sieben Jahre lang wird Neige Sinno während dieser Zeit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. Ihr Martyrium beginnt, als sie ungefähr sieben Jahre alt ist. Genau jedoch kann sie sich nicht mehr erinnern. Erst mit 21 Jahren zeigt sie ihren Peiniger an und geht vor Gericht. In ihrem Buch nähert sich die Autorin jener Vergangenheit, in der sie Parallelen und Ähnlichkeiten aus der Literatur wie z. B. "Lolita" von Vladimir Nabokov sucht. Ausgezeichnet mit einigen Literaturpreisen hat dieses Buch zahlreiche Herzen in Frankreich berührt.
Meine Meinung:
Ich will ehrlich sein, mich hat dieses Buch leider viel zu wenig berührt. Der beschwerliche Schreibstil und die vielen Passagen zu literarischen Werken überfordern mich leicht. Ebenso wenig gefällt mir, dass sie doch recht knapp und gefühlskalt über ihre eigene Vergangenheit und das eigentliche Anliegen berichtet. In diesem Buch werden eher die Familie, die Tat im Allgemeinen und der Täter durchleuchtet als das eigentliche Opfer. Gestört haben mich außerdem die zahlreichen Wiederholungen von einzelnen Passagen. Natürlich kann ich verstehen, warum die Autorin in diesem Buch nur wenige Details über ihren eigenen Missbrauch eingeht. Doch warum dann dieses Buch, frage ich mich, wenn sie im Grunde nicht groß auf sich selbst eingeht? Hätte ich zuvor gewusst, dass die Autorin eine studierte Literaturwissenschaftlerin ist, hätte ich sehr wahrscheinlich Abstand davon genommen. Allerdings muss ich dem Satz zustimmen: "Dieses Buch macht Angst, bevor man es gelesen hat; wenn man es dann liest, verliert man die Angst sofort." Natürlich überlegt man, wenn es um das Thema Kindesmissbrauch geht, werde ich das wohl verkraften. Doch in diesem Buch ist es definitiv der Fall, denn die Autorin geht nur gering auf detaillierte Beschreibungen von damals ein. Im Gegenteil, sie versucht auf eine ganz andere Art und Weise als sonst, sich diesem Thema zu nähern. Für Neige Sinno jedoch steht fest: Kindesmissbrauch ist keine Prüfung, kein Zwischenfall im Leben, sondern eine Erniedrigung, die die Grundfesten eines selbst zerstören. Wer einmal Opfer war, der ist immer Opfer. Selbst wenn es einem irgendwann gut geht, wird man diesen Makel nie wieder ganz loswerden. Sie fragt sich: Wer sind diese Täter, die so etwas ihren Opfern antun? Schade finde ich allerdings, dass sie viel zu sehr verallgemeinert, statt wirklich über ihre eigenen Gefühlswelt zu berichten. Wahrscheinlich ist dies genau der Grund, warum ich zu Buch und Autorin nie einen richtigen Zugang finde. Fassungslos macht mich außerdem, wieso ihre eigene Mutter nichts davon gewusst haben soll und warum sie nach der Anzeige ihrer Tochter noch ein Jahr lang bei ihm geblieben ist. Natürlich sind ihre beiden jüngsten Kinder noch zu jung und sie mitten in der Ausbildung, trotzdem bleibt es für mich unbegreiflich. Während der Täter dann nach 9 Jahren Haft wieder freikommt und eine neue Familie gründet, wird sein Opfer die Taten lebenslang nicht vergessen. Überrascht haben mich allerdings die vielen Beispiele aus der Literatur zum Thema Missbrauch. Einiges finden wir im oben erwähnten Werk „Lolitas“ Nabokov, Virginia Woolf, Christine Angot oder Emmanuel Carrère. Immer wieder zieht sie aus diesen Werken Schlüsse und stellt sich selbst die Frage, wie sie überhaupt über ihre eigenen Erfahrungen erzählen soll. Andererseits widert es sie an, überhaupt über diese Vergangenheit zu berichten. Wahrscheinlich sind ihre Gefühle deshalb im Buch so knapp bemessen. Mich hat es leider nicht vollständig überzeugt, weshalb ich nur 3 Sterne vergebe.
ASIN/ISBN: 3423284226 |