Anette Huesmann: Geheimnisse, Hamburg-Krimi, Der erste Fall für die forensische Linguistin, Norderstedt 2024, BoD – Books on Demand, ISBN 978-3-7597-2011-5, 259 Seiten, Format: 12,7 x 1,5 x 20,32 cm, Buch: EUR 11,99, Kindle: EUR 3,99.
Fast glaubte sie, Luises Stimme zu hören: „Bauchgefühl ist eine gute Sache. Doch was wir brauchen, sind begründete Vermutungen.“ – Begründete Vermutungen also. Mal sehen, was sich machen ließ. (Seite 104)
Raus aus dem Büro …
Seit zehn Jahren arbeitet die forensische Linguistin Maggie Kofler beim BKA in Wiesbaden. Seit 5 Jahren kämpft sie dafür, nicht nur isoliert im Büro zu sitzen und Erpresserbriefe und ähnliches zu analysieren, sondern vor Ort Mitglied eines Ermittlungsteams zu sein, am besten zusammen mit dem forensischen Psychologen Karl Mandel. Gemeinsam haben sie sich in verschiedenen Fortbildungen für diese Art von Einsatz vorbereitet.
Jetzt endlich ist es so weit! Doch in den Hubschrauber, der sie nach Hamburg bringen soll, steigt nicht Karl Mandel ein – der liegt im Krankenhaus -, sondern der blutjunge Praktikant Cem Bayrak. Na, das fängt ja schon gut an!
… hinein in die SOKO
Es kommt noch besser: Die Leiterin der SOKO entpuppt sich als Maggies Ex-Lebensgefährtin Luise.
Vor dreizehn Jahren haben sie sich nach zehnjähriger Beziehung getrennt – und das nicht im Guten! Inzwischen trägt Luise den Nachnamen ihrer Ehefrau. Deswegen hat Maggie nicht geschaltet, als von „Kriminalhauptkommissarin Luise Becker“ die Rede war.
Die Stimmung im Team ist generell mies. Kriminaloberrat Engler, will Luise – Frau, Mutter, Lesbe – unbedingt scheitern sehen und Luise will Maggie und Cem nicht in ihrem Team haben. Wie die zwei BKA-Leute in Hamburg behandelt werden, grenzt schon an Mobbing. Doch sie haben nicht die Absicht, sich wegbeißen zu lassen. Es gibt einen Fall zu klären, und dazu wollen nach Kräften beitragen.
Wer hat den Drohbrief geschrieben?
Anton Behnke, Chef einer der größten Reedereien Deutschlands, ist in seinem Büro überwältigt, gefesselt und erschossen worden. Die Waffe ist verschwunden, aber am Tatort liegt ein blutbespritzter Drohbrief, ein Computerausdruck, der leider keine verwertbaren Spuren aufweist. An einzelnen Formulierungen und kleinen Fehlern erkennt Maggie, dass dieser Brief von jemandem mit einem englischsprachigen Hintergrund verfasst worden sein muss.
Jemand, der Englisch als Erstsprache hat und Deutsch erst in der Schule/beim Studium gelernt hat? Das ist im Moment die beste Erklärung, auch wenn sie nicht hundertprozentig zu passen scheint. Leider gibt es niemanden in Behnkes Umfeld, auf den diese Beschreibung passt und der auch ein Motiv hätte.
Maggie untersucht akribisch Behnkes beruflichen und privaten Schriftverkehr, findet dort aber nichts, was stilistisch dem Drohbrief ähnelt.
Und wer hat den Reeder erschossen?
Wer hätte denn ein Motiv, den Reeder zu töten? Sohn Markus, Mitte 30, der vom Vater kleingehalten wurde und endlich selbst auf den Chefsessel wollte? Tochter Julia, eine Anwältin, die angeblich enterbt werden sollte?
Die Haushälterin, die im Testament mit einer großzügigen Summe bedacht wird? Oder Behnkes langjährige Assistentin, die ebenfalls Gründe gehabt hätte? Und dann wären da noch Behnkes Geschäftspartner. Nicht die, die in den Büchern stehen.
Behnke hat nebenher noch allerlei illegale Geschäfte getätigt. Wenn da was schiefgegangen ist, sind die womöglich rabiat geworden. Aber schreiben solche Leute Drohbriefe?
Mobbing und Manipulation
Während KHK Luise Becker und ihre Leute die Linguistin ausbremsen, wo es nur geht, genießt der charmante junge Psychologe Cem anscheinend Welpenschutz. Er gibt sich naiv-freundlich und kommunikativ und kriegt auf diese Weise ziemlich viel mit. Die Hamburger Kollegen scheinen ihn nicht ernst zu nehmen.
Ein Fehler, wie sich zeigen wird. Der „Welpe“ hat einen messerscharfen Verstand und anscheinend sowas wie einen „eingebauten Lügendetektor“: Er durchschaut und manipuliert sie alle.
Ein Interessenkonflikt?
Luise lässt den jungen Psychologen Behnkes Haushälterin befragen. Und es ist erstaunlich, welche Informationen er der alten Dame entlockt.
Dass Luise es stets zu verhindern weiß, dass Behnkes Kinder befragt werden, entgeht weder ihm noch Maggie. Die beiden forschen nach, und siehe da, da gibt’s private Querverbindungen! Bedeuten Luises heimliche Telefonate etwa, dass sie Außenstehende über die Ermittlungsfortschritte informiert?
Maggie bekommt derweil weitere handschriftliche Aufzeichnungen des Mordopfers in die Finger. Die lassen noch andere Schlüsse zu als Erbhändel und Stress mit zwielichtigen Geschäftspartnern …
Kleine Hinweise, wichtige Erkenntnisse
Krachende Action gibt’s hier nicht. Ich fand es aber spannend und faszinierend, welche Schlüsse Maggie aus winzigen sprachlichen Hinweisen ziehen kann. Wie sie das herleitet und begründet, ist jederzeit einleuchtend und nachvollziehbar. Auch für jemanden wir mich, der in Sachen Linguistik bestenfalls ein angelesenes Halbwissen hat und ein wenig Erfahrung mit Mehrsprachigkeit.
Als routinierte Krimileserin hätte ich die Ermittlungsbeamten am liebsten angestupst: „He, prüft doch mal die Familiengeschichte von XY. Da muss es doch auch eine Mutter geben! Oder vielleicht haben die mal im Ausland gelebt?“ – „Und was ist mit Person NN? Die hat ihren Geburtsnamen auch nicht in der Lotterie gewonnen!“ – „Da sagt die Haushälterin was Wichtiges! Der Sache würde ich unbedingt nachgehen!“ – Hinweise gibt’s viele, aber manche führen uns in die Irre. Was tatsächlich geschehen ist, ist zwar überraschend, aber plausibel.
Ein Familiengeheimnis
Was mir dagegen nicht restlos klar war – und das liegt in der Absicht der Autorin –, ist, was vor dreizehn Jahren zwischen Maggie und Luise vorgefallen ist, dass sie heute so miteinander umgehen.
Es hat auf jeden Fall mit einem Jungen zu tun, der als Sohn bei Luise und ihrer Frau aufwächst.
Irgendwas ist da merkwürdig, doch die Vorgeschichte wird hier nur angedeutet. Die Aufklärung ist sicher für später vorgesehen. Schließlich ist das Band 1 einer geplanten Reihe.
Dieses noch zu enthüllende Familiengeheimnis hätte ich als „Appetithäppchen“ nicht mal gebraucht. Ich wäre allein wegen der Linguistik und der Psychologie sehr gerne bei weiteren Fällen des BKA-Duos dabei. Und sollte es sich irgendwann herumsprechen, dass Cem Bayraks naiver Welpen-Charme nur eine Masche ist, wär’s vielleicht auch mal interessant zu sehen, wie Maggie mit ihrem ursprünglich vorgesehenen Partner, dem forensischen Psychologen Karl Mandel, ermittelt.
Die Autorin
Anette Huesmann ist Linguistin und Sprachwissenschaftlerin. In ihrer Krimireihe um die forensische Linguistin Maggie Kofler schreibt sie über erstaunliche, unterhaltsame und interessante Erkenntnisse der Sprachwissenschaft. Huesmann studierte in Heidelberg Germanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft und promovierte in Soziolinguistik. Lange Zeit arbeitete sie als freie Wissenschaftsjournalistin.
In ihren Büchern rund um die forensische Linguistin greift Huesmann aktuelle, gesellschaftlich wichtige Themen auf. Als Schreibtrainerin lehrt Anette Huesmann das Schreiben von Romanen und Kinderbüchern. Mit Begeisterung gibt sie in ihren Seminaren ihr Wissen weiter.