'Im Takt der Freiheit' - Seiten 142 - 221

  • Tatsächlich war das damals ein weit verbreitetes Phänomen - das adelige Landgüter, auch richtig große, hoch verschuldetet waren. Es gab sogar Stiftungen, die das auffingen. Viele lebten über ihre Verhältnisse, waren gleichzeitig unfähig, ein solches Gut zu führen beziehungsweise, das machte ja eh der Verwalter. Es war so verbreitet, dass gegenüber vom echten Palais Borsig (also dort, wo ich das fiktive Palais Louisburg angesiedelt habe) am Zietenplatz in Berlin-Mitte lag die "Ritterschaftsdirektion". Das war eine Darlehenskasse für verarmte, Land besitzende preußische Adlige.

    Dann gab es das also damals schon, dass man einfach auf Pump lebte. 8| Sehr interessant, was man hier so erfährt. :anbet

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Ninni Schulman - Den Tod belauscht man nicht

    Hanna Caspian - Im Takt der Freiheit


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • "...dass es Väter gab, die ..." bestreite ich nicht. Haben die aber auch ein riesiges Industrieunternehmen geleitet?

    Hugo Stinnes ;-) dessen Tochter Clairenore hatte doch einige Freiheiten, die ist im Auto um die Welt gefahren

  • Die wären zum Militär geschickt worden, um ihren Dienst für das Vaterland zu leisten. Zucht und Drill hatten auch die Söhne zu erstragen.

    Naja, ich denke das waren am Ende zwar nicht schöne aber doch andere Erfahrungen als die Mädels gemacht haben. Und Felicitas darf ja gefühlt überhaupt nichts……

  • Militär heißt auch, dass mit den Männern skrupellos umgegangen wurde. Bis 1871 war Preußen permanent im Krieg. Auf Einzelschicksale wurde da kaum Rücksicht genommen. "Nicht schöne Erfahrungen" konnten nur die machen, die lebend von den Schlachtfeldern zurückkamen.


    Zum Buch zurück: Welche Einstellung Egidius zum Militär hat, wissen wir nicht. Kaisertreu war er aber wohl.

  • Hugo Stinnes ;-) dessen Tochter Clairenore hatte doch einige Freiheiten, die ist im Auto um die Welt gefahren

    Ja und vielleicht auch noch zehn weitere Einzelbeispiele. Es bleibt dennoch beim false balancing. Das Kaiserreich wurde bestimmt nicht mit Toleranz und Liberalismus berühmt. Eher sind es Gehorsam, Obrigkeitshörigkeit, Militarismus und Männerdominanz usw.

  • Naja, so viele Großindustriellen hat es ja auch nicht gegeben …..Bei Krupps hat die Tochter geerbt und mit Sondergenehmigung auch ihren Nachnamen bei der Hochzeit behalten. Ja, natürlich hat es immer Ausnahmen gegeben und ich behaupte mal, Egidius ist eher die Ausnahme in die andere Richtung ;-)


    Und versuch dich mal in Felicitas Schuhe zu stellen ;-) Du darfst nichts lernen, den ganzen Tag nur zu Hause rumsitzen und nichts tun, was dir wichtig ist. und auch nur die Bücher lesen, die andere für dich raussuchen…..


    Ich denke hier wird einfach ein extremer Fall beschrieben. Der Standard wird irgendwo zwischen ganz modern wie wir es erwarten würden und Egidius Verhalten gelegen haben.

  • Bürgerliche Töchter haben mit 13 mitunter bereits das Elternhaus verlassen und wurden "in Stellung" in Haushalte gegeben. Deren Bildung hat sich dann auf sieben Volksschuljahre begrenzt und Freiheit... Freizeit waren Fremdworte. Gelegenheit die Eltern zu besuchen war sehr selten. Ich denke da an meine Urgrossmutter, 1880 geboren, die von Westfalen mit 13 Jahren nach Hannover zum Arbeiten kam.

    Manche Bücher müssen gekostet werden, manche verschlingt man, und nur einige wenige kaut man und verdaut sie ganz.
    (Tintenherz - Cornelia Funke)

  • Ich muss jetzt mal einen Gedanken loswerden, den ich schon länger habe.

    Ich denke, die Gegenwartsliteratur verzerrt den Blick auf die Vergangenheit. Wenn ich so auf den Buchmarkt der letzten 20 Jahre gucke, dann gibt es z.B. gefühlt hunderte, in denen eine junge Frau von zuhause ausreißt und sich in Männerklamotten durchschlägt. Und die Väter in den Histos sind oft furchtbare Tyrannen und schlimmeres. Und alle jungen Frauen fühlen sich unterdrückt und wollen mehr Freiheiten. Und noch ganz viele andere Stereotypen lauern in den Geschichten. Man bekommt als Leserin den Eindruck, das wäre alles damals ganz und gäbe. Ich sehe es wie Streifi. Das sind alles Extreme. Und in Büchern sind natürlich Extreme spannender als die goldene Mitte. Aber die gab es auch. Und sicherlich war das die Mehrheit. Und wenn ich über einen Charakter und seine extrem negativen Charakterzüge "mosere" dann immer mit der Idee im Hinterkopf, dass z.B. die meisten Väter sicherlich strenger waren und weniger liebevoll als heute. Aber ebenso sicher haben sie ihre Kinder geliebt und wollten das Beste für sie. Und ebenso sicher gab es viele junge gutsituierte Frauen, die ganz zufrieden mit ihrer Stellung waren und sich nicht danach sehnten, alleine auf der Straße rumzurennen und Radfahren zu lernen. Der Wunsch nach mehr Selbstständigkeit, den gab es natürlich auch. Aber nicht so ausgeprägt wie bei Franzi hier, denke ich.


    Das ist ungefähr so, wie die letzten 100 - 200 Jahre alle Geschichtsgelehrten behaupteten , dass der Bruder von Richard Löwenherz ein grausamer, blutrünstiger, Menschen verachtender Tyrann gewesen sei. Aber in den letzten Jahren ist heraus gekommen, dass er wohl bei genauerer Betrachtung doch um einiges differenzierter zu sehen ist. Aber die Masse der Leute denkt jetzt nur an den Disney-Film über Robin Hood oder den realen mit Kevin Costner (deren Story gar nichts mit dem realen König Löwenherz zu tun haben, ich weiß) und da ist der Bruder ja wahlweise ein Idiot oder ein Irrer. Solche Filme und Bücher prägen unsere Idee von der damaligen Welt und den Menschen schon sehr.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Ninni Schulman - Den Tod belauscht man nicht

    Hanna Caspian - Im Takt der Freiheit


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Hugo Stinnes ;-) dessen Tochter Clairenore hatte doch einige Freiheiten, die ist im Auto um die Welt gefahren

    Das war dann aber schon in den späten 1920ern. Vater Stinnes, der in der Hyperinflation ein riesiges Vermögen angehäuft hatte (Gut Greifenau Goldsturm) war schon tot. Genau wie die Monarchie, die ein paar Jahre früher dahingeschieden ist. Es herrschte "offiziell" Demokratie und auf dem Papier und in einigen Gesetzen auch schon etwas mehr Freiheiten für die Frauen. Ist nicht zu vergleichen mit 1888. Da ist noch alles fest in Männer- und Adelshand.

  • Wenn ich so auf den Buchmarkt der letzten 20 Jahre gucke, dann gibt es z.B. gefühlt hunderte, in denen eine junge Frau von zuhause ausreißt und sich in Männerklamotten durchschlägt.

    Tja, und oftmals war es genau so. Frauen verkleidet in Männerkleidung hieß nicht nu, dass sie sich ohne sexuelle Übergriffe durchs Land bewegen konnten. Es war auch oft die einzige Möglichkeit, überhaupt eine Arbeit zu finden. Viele schnitten sich die Haare kurz, denn damals ließen die Frauen ihre Haare einfach wachsen. Eine Kurzhaarfrisur bedeutete automatisch - es ist ein Mann.

    Zitat

    Und ebenso sicher gab es viele junge gutsituierte Frauen, die ganz zufrieden mit ihrer Stellung waren und sich nicht danach sehnten, alleine auf der Straße rumzurennen und Radfahren zu lernen.So wie viele auch heute nicht aufbegehren, so werden sich damals auch viele einfach mit der Welt abgefunden haben, in die sie reingeboren wurden. Ob sie damit aber wirklich zufrieden waren, glaube ich eher nicht. Und die meisten Frauen werden das Radfahren nicht gelernt haben, weil sie sich emanzipieren wollten, sondern weil es einfach ungemein praktisch war. Eine preiswerte Fortbewegungsmöglichkeit für alle. Aber eben auch endlich mal eine für die Frauen.