Eshkol Nevo: Trügerische Anziehung. Roman, OT: Gever nichnas bapardes, aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch, München 2024, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN: 978-3-423-28401-1, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 401 Seiten, Format: 13 x 2,8 x 20,8 cm, Buch: EUR 24,00 (D), EUR 24,70 (A).
Eigentlich hatte ich erwartet, dass die drei Handlungsstränge, die im Klappentext angerissen werden, zu einem einzigen Roman verflochten sind, aber es sind drei voneinander unabhängige Geschichten, die nur lose zusammenhängen: Hauptfiguren des einen Teils tauchen als Randfiguren in einem anderen wieder auf.
Gemeinsam ist allen drei Geschichten, dass Menschen zu verstehen versuchen, was sie zu einem anderen hingezogen hat, warum sie getan haben, was sie getan haben – und was wirklich geschehen ist. Haben sie vielleicht etwas übersehen oder falsch interpretiert? Sind sie manipuliert worden und haben nur wahrgenommen, was sie sehen sollten und wollten? Auch Verlust und Trauer sind ein übergreifendes Thema.
DIE STRASSE DES TODES
Statt des üblichen „Trips-nach-der-Armee“ reist der israelische Musiker Omri erst im Alter von 39 Jahren durch die Welt. Er nennt das seinen „Trip-nach-der-Scheidung“. In La Paz/Bolivien trifft er auf zwei Landsleute, Mor und Ronen Amirov, beide Ende 20 und auf der Hochzeitsreise.
Zu der attraktiven Mor fühlt er sich spontan hingezogen. Ihr Mann dagegen ist unfreundlich und mundfaul.
Für Flitterwöchner wirken die beiden sehr verkrampft und angespannt, denkt Omri. Irgendwas stimmt mit denen nicht. Aber das ist zum Glück nicht sein Problem. – Noch nicht! Völlig überraschend taucht Mor mitten in der Nacht bei Omri im Hostel auf. Eine Stunde lang reden sie wie gute Freunde über das Leben, die Liebe und die Ehe. Zum Abschied küsst sie ihn. Mehr passiert zwischen ihnen nicht.
Wochen später – Omri ist längst wieder zuhause – liest er in der Zeitung, dass Ronen auf dem Camino de la Muertemit dem Mountainbike tödlich verunglückt ist. Spontan beschließt er, zur Schiw’a zu fahren, dem Trauerbesuch.
Erst ignoriert ihn Mor, dann brennt sie mit ihm durch.
Nach einem Zwischenstopp bei einer ihrer Freundinnen fragt sich Omri zum ersten Mal, ob wirklich alles stimmt, was sie ihm da auftischt. Trotz seiner Zweifel nimmt er sie mit zu sich nach Hause. Da wartet schon die Polizei, und zwar auf sie beide.
Was läuft hier? War Ronens Tod weder ein Unfall noch ein Suizid, sondern ein Mord? Hat Mor ihn beseitigt und versucht nun, Omri die Tat anzuhängen? Sie hätte Gründe gehabt, ihrem Mann etwas anzutun. So hat sie ihre Beziehung zumindest geschildert. Oder stimmt das auch nicht?
Ist wenigstens das wahr, was Omri uns die ganze Zeit erzählt …?
FAMILIÄR VORBELASTET
Oberarzt Ascher Cora (68) bildet auf der Inneren angehende Fachärzte aus. Seit kurzem ist er verwitwet, seine erwachsenen Kinder leben in London beziehungsweise Montreal, und so ist er ziemlich einsam. So steht es in seinen „Notizen für die Kommission“.
Dass die junge Assistenzärztin Liat Ben-Abu so vieles mit ihm gemeinsam hat, nimmt er hocherfreut zur Kenntnis. Er hilft ihr und beschützt sie, wo immer er kann, doch er beginnt auch, sie regelrecht zu stalken, um möglichst viel über sie zu erfahren. Dabei sei sein Interesse keinesfalls e r o t i s c h e r Natur, lässt er uns – beziehungsweise die Kommission, für die er seine Aufzeichnungen anfertigt – wissen. Er hege für die junge Liat ausschließlich väterliche Gefühle.
Als Liat sich mit Dr. Danker einlässt, der als „Womanizer“ berüchtigt ist, lässt Dr. Cora ihr eine anonyme Warnung zukommen, was sich noch bitter rächen wird. Natürlich kommt’s, wie es kommen muss: Danker serviert Liat auf fiese Weise ab. Sie fährt schnurstracks zu ihrem Mentor Cora und heult sich bei ihm aus. Dabei kommt’s zu einem folgenschweren Missverständnis.
Liat interpretiert eine – wie er sagt – unabsichtliche Berührung als se*uelle Belästigung und sie zeigt ihn bei der Klinikleitung an. Da kann er machen, was er will, die Maschinerie läuft …
Während Dr. Cora seine Notizen macht, denkt er an seine Jugend zurück und an die Zeit, als er seine Frau Niva gerade erst kennen gelernt hat. Da fällt ihm eine Begebenheit ein, die er völlig verdrängt hatte. Tatsächlich! Das könnte ihn entlasten! Aber es wäre eine Belastung für Liat Ben-Abu, und die will er ja um jeden Preis beschützen.
Was ist hier Wahrheit, was Wunsch und was Einbildung? Und wie kommt der Doc aus dieser Nummer wieder raus?
EIN MANN TRAT INS PARADIES
Das ist der Alptraum schlechthin: Chelli Raz, 42, spaziert mit ihrem Mann Ofer durch eine Obstplantage, wie sie es schon -zigmal getan haben. Er sagt, er müsse mal schnell austreten, verschwindet zwischen den Bäumen – und taucht nicht wieder auf!
Sie geht ihn suchen, bittet Passanten um Hilfe und alarmiert schließlich die Polizei. Da hat der alte Herr mit dem Fahrrad schon recht: „Meine Dame, wir sind hier in Israel, man muss immer auf der Hut sein.“ (Seite 223)
Die Polizei richtet nicht viel aus, der Mann bleibt verschwunden. Die Landarbeiter haben nichts gesehen und nichts gehört, und von der Rave-Party, deren Musik sie aus der Ferne gehört haben, ist keine Spur mehr.
Hat Ofer absichtlich alles hinter sich gelassen? Es wäre nicht das erste Mal. Seine Ex-Frau, eine Amerikanerin, hat er damals auf ähnliche Weise verlassen. Hätte er einen Grund gehabt? Na ja, gesundheitlich war er angeschlagen und in der Ehe mit Chelli lief es auch nicht mehr so super. Hat er sich gar etwas angetan? Aber dann hätte man ihn doch finden müssen!
Verzweifelt durchforsten Chelli und ihre (fast) erwachsenen Kinder Ofers Blog mit seinen Kurzgeschichten. Vielleicht finden sie dort ja einen Hinweis auf seinen Verbleib. Doch die Geschichten entpuppen sich als so rätselhaft wie sein Verschwinden.
Nach einem Jahr vergeblicher Suche wagt Chelli sich wieder in den Obstgarten …
Vielschichtig und geheimnisvoll
Ich habe die drei Teile als spannende Suche nach der Wahrheit, der Liebe und nach (verborgenen) Motiven gelesen. Ich bin aber ziemlich sicher, dass hinter den Geschichten noch mehr steckt, was sich mir jedoch nicht erschlossen hat. Angeblich vorhandene Anspielungen auf den Talmud, Bibelwissen, ja selbst Hinweise auf die israelische Popkultur habe ich schlicht nicht verstanden. Das war gewissermaßen Lesegenuss mit angezogener Handbremse. 😊
„Der Roman hat einen Soundtrack“, schreibt der Autor auf Seite 301 und listet die Lieder, die hier eine Rolle spielen, auch brav auf. Das nutzt nur nichts, wenn man kein einziges davon kennt. Wenn der Leser die erwähnte Musik im Ohr hat, erzeugt das eine Stimmung bei ihm. Wenn nicht, dann nicht. Das ist eben etwas, das über Ländergrenzen hinweg nur bedingt funktioniert. Es ist niemandes Schuld, es ist einfach so. Trotzdem bleibt noch jede Menge Faszination und Lesevergnügen übrig.
Der Autor
Eshkol Nevo, geboren 1971 in Jerusalem, zählt zu den wichtigsten Schriftsellern des Landes. Seine Bücher wurden international vielfach ausgezeichnet. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Ra’anana / Israel.
Die Übersetzerin
Ulrike Harnisch studierte Israelwissenschaften sowie Englische und Amerikanische Literatur. Neben zahlreichen israelischen Filmen übersetzte sie u.a. Asaf Schurr und Nir Baram. Sie lebt in Berlin.
ASIN/ISBN: 3423284013 |