Im „Spengelhof“ gab es keine Bibliothek für die Kleinen, sondern eine Bücherkiste. Es war eine roh zusammengenagelte, schwere Holzkiste, in der Comics und Bücher herumfuhren, mehr oder weniger zerfleddert, an den Ecken abgestoßen, fettfleckig.
Wenn die anderen nach Hause durften und die Räume leer wurden und langweilig, wie an Ostern oder an Weihnachten, dann stand nur noch diese Kiste da, zu der man kommen konnte, wenn man übrig geblieben war und wenn man ein Gefühl hatte. Gefühle waren nicht gefragt, in diesem Heim. Sie blieben unbemerkt und unbenannt.
Es gab Micky-Maus-Hefte in dieser Kiste, ein paar Bände „Durch die Weite Welt“, ein Sammelalbum „Australien und Neuseeland“ und ein paar Bücher, von denen die Einbände und die Rücken fehlten. In einem davon standen Kinderverse.
Und es gab das Buch „Peterchens Mondfahrt“. Es war heil geblieben, oder es war noch nicht so lange in der Kiste, jedenfalls aber war auf seinem Einbanddeckel unter der gelben Sütterlinschrift auf nachtblauem Grund noch ein runder Vollmond zu erkennen, in dem, wie Krater und Unebenheiten, der Rücken einer Gestalt zu erraten war, die ein Bündel Reisig auf dem Rücken trug. Unter diesem Mond stand ein Maikäfer auf Blattgewächsen, deren Blüten geschlossen waren, und spielte auf einer silbernen Geige, während weit draußen am Horizont ein riesiger, eisblauer Bär über die nächtlichen Wolken tappte, von den sechs Sternen begrenzt. Er hatte kleine, gelbe Augen, und ich war mir nie sicher, wen er ansah: Den Maikäfer, der nur fünf Beine hatte, oder mich.
Es war kein böser Blick. Ich hatte damals noch keine Namen für die im Heim verpönten Gefühle, wusste den Unterschied zwischen Sehnsucht und Einsamkeit nicht und auch nicht, dass Leere etwas anderes ist als Müdigkeit. Der Blick des Bären tat mir gut, und ich hab manchmal nach ihm gesucht. Er war so stark und so groß, dieser Bär, und er hatte doch diesen Blick.
Einmal hab ich nicht aufgepasst und hab mir die rostige Nagelspitze, die aus dem Eck der Bücherkiste hervorragte, ganz tief in die innere Seite des Oberschenkels gestochen, dort, wo die kurze Hose nicht mehr hinreichte. Es hat stark geblutet, aber ich hab es keinem gezeigt. Ein paar Tage später hatte sich die die Wunde infiziert, und ich musste mit einer Blutvergiftung ins Haunersche Kinderspital.
Als ich zurückkam, war die Kiste fort und das Buch auch.
Wenn ich danach wieder so ein Gefühl hatte, dessen Namen ich noch nicht kannte, bin ich zu dem kleinen Bach gegangen, der über das Grundstück lief, hinter dem Heim, wo der Auwald begann. Da standen eine Menge Vergissmeinnicht. Ihr Blau war fast wie das des Bären, und die kleine gelbe Mitte ihrer Blüten war wie sein Auge, von dem man nicht wusste, wohin es genau blickte.
Die Narbe von der Kiste habe ich heute noch. Sie bleibt immer weiß, auch wenn mich die Sonne dunkelbraun brennt, auf meinen Reisen. Und das Buch hab ich wiedergefunden. Nicht das gleiche, das ist für immer verloren. Aber eines, das ist wie sein Bruder. Ich nehme es manchmal aus dem Regal und schau auf den Bären, im Winter, wenn die Bachufer gefroren sind.