Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 07.06.2024)

  • Montag, 7. April


    Der Wind zerrte an meinen dunklen Haaren, und der Sprühregen sorgte dafür, dass eine Strähne an meinem nassen Gesicht kleben blieb. So früh am Morgen waren meistens wenig Menschen unterwegs, doch an diesem Tag wirkte es, als wäre ich die Einzige, die es wagte, durch die Main Street zu gehen. Die Straße verlief direkt am Wasser entlang und der Wind war hier stärker als im Landesinneren.


  • Where did life go?

    Every day I find myself asking this one same question of the mirror, yet the answer always eludes me. All I see is a stranger staring back.

    Wo ist das Leben geblieben?

    Jeden Tag ertappe ich mich dabei, dass ich dem Spiegel die immer gleiche Frage stelle, und doch bleibt mir die Antwort stets versagt. Ich sehe bloss einen Fremden, der mir entgegenstarrt.

  • Hafermilch, Mandelmilch, Cashewmus, tiefgefrorene Himbeeren, Hummus, Kölln Haferflocken, Chiasamen, Bananen, Dinkelnudeln, Avocado, Avocado, Avocado. Ich spiele: Ich darf nicht hochschauen. Circa 30, männlich, schlaksig, rahmenlose Brille, Levi's-Shirt, rate ich, sage "30,72 Euro", schaue endlich hoch, und als ich den Levi's-Schriftzug sehe, ist das ziemlich cool und vielleicht sogar der bisherige Höhepunkt meines Tages.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Der Himmel über den Baumkronen leuchtete orange und rosarot, als Aden Karn in den Schuppen ging, die Lunchbox in den Lenkerkorb seines Fahrrad warf und es hinaus auf die Straße schob. Dort schwang er das Bein über den Sattel und trat kräftig in die Pedale. Die Fahrt zum Treffpunkt, wo er von seinen englischen Arbeitskollegen eingesammelt wurde, dauerte normalerweise zwanzig Minuten, und heute war er ausnahmsweise früh dran.

  • Der kleine Soldat gehörte zur Schnullerkohorte, der Truppe

    von Kindern, die man rekrutiert hatte, als keine jungen und

    keine alten Männer mehr übrig waren für den Krieg.

    Víctor Dalmau nahm ihn zusammen mit anderen Verwundeten in

    Empfang, die wegen der Eile wenig behutsam aus den Güter-

    waggons geschafft und wie Baumstämme auf die Strohmatten

    am Bahnsteig im Nordbahnhof abgeladen wurden, um dort

    auf weitere Transporte zu warten, mit denen sie auf die La-

    zarette der Ostarmee verteilt werden konnten. Reglos lag der

    Junge da, mit dem ruhigen Ausdruck von einem, der die Engel

    gesehen hat und sich vor nichts mehr fürchtet.


  • London,1911

    Gertie Bingham stand in der Warteschleife bei Piddocks Fleischerei und ließ den Blick von der Auslage zum Schaufenster hinaus und zu dem Laden auf der anderen Straßenseite schweifen als sie urplötzlich ein heftiges Sehnen überkam. Sie hatte das "Zu vermieten"-Schild entdeckt, das dort im Fenster hing. Es war wie Liebe auf den ersten Blick.


  • Die Pausen zwischen den einzelnen Schlägen wurden immer länger, doch der Mann, der gefesselt am hölzernen Stützbalken der alten Scheune hing, nahm es kaum noch wahr. Sein ganzer Körper brannte vor Schmerzen, als würde er in Flammen stehen, und er hatte längst aufgehört, seine Verletzungen zu zählen. Er ahnte, dass er mehrere gebrochene Rippen hatte, vielleicht einen gebrochenen Kiefer und ein gebrochenes Jochbein.


  • Es sah wie ein riesiger Fisch aus, nur daß es in dem Luftmeer über ihm schwamm. Silbergrau schob es sich durch die Wolkenströmung. Grau in Grau strudelte es dort oben, aber der Fisch trieb ganz ruhig hindurch.

    "Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder!" (Dante Alighieri)

  • In ländlichen Teilen von Mallorca findet man immer noch Johannisbrotbäume, zwischen denen große Netze gespannt sind, zum Himmel hin offen. Das sind trampes, Singvogelfallen. Wilderer bestreichen auch Baumäste mit Leim; wenn Drosseln und andere kleine Zugvögel darauf landen, bleiben sie kleben.


  • Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens. Falls er an Herbst- und Wintertagen eine Mütze trägt , bedeckt sie keinesfalls die Ohren. Handschuhe trägt er nie.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Jacob Stevenson hatte den höchsten irokesen in der Geschichte der Hood River Valley Highschool. Davon war er bereits überzeugt, noch bevor der Rekord offiziell ins Jahrbuch der Schule aufgenommen wurde. Auf seinem Abschlussfoto war ein blau-schwarzes, zu einer Höhe von vierzig Zentimetern aufgetürmtes Kunstwerk zu sehen.


  • Im südlichen Niedersachsen liegt ein Wald, der Deister, darin stand ein Haus aus Sandstein, in dem früher der Förster gewohnt hatte, und das durch eine Reihe von Zufällen und den Kredit einer Bank in den Besitz eines Ehepaares kam, das dort einzog, damit die Frau in Ruhe sterben konnte.

    Sie hatte Krebs, Dutzende kleine Karzinome, die in ihrer Lunge saßen, als hätte jemand mit einer Schrotflinte hineingeschossen. Der Krebs war inoperabel, und die Ärzte sagten, sie wüssten nicht, wie viel Zeit der Frau bliebe, deshalb quittierte der Mann seine Arbeit als Architekt und blieb bei ihr.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • In den Fieberträumen im Urwald gehen Schatten um, die sich dann aber in Dinge verwandeln, sich zu einer Wirklichkeit verdichten. Caruso nimmt Gestalt an, er singt in einem Opernhaus, mitten im Amazonas-Dschungel zur Zeit des Kautschukbooms errichtet, Arien aus einer italienischen Oper. Sarah Bernardt, die damals schon ein Holzbein trägt und gar nicht singen kann, kommt eine Treppe hinunter aus dem Nichts auf die Bühne.

  • Am Ende kehrte Jack Burdette doch wieder nach Holt zurück. Keiner von uns hatte mehr damit gerechnet. Er war acht Jahre fort gewesen, und in dieser Zeit hatte niemand in Holt etwas von ihm gehört.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin