Bücher haben ihre Schicksale und manche schon eines, während sie erst entstehen. „Auf beiden Seiten der Front“ von Patrik Baab ist so ein Fall. Als der Autor für ein Buch-Projekt im Herbst 2021 in die Westukraine reiste und dort vor allem am Karpatenrand recherchierte, zeichnete sich der ein halbes Jahr später einsetzende heiße Krieg noch nicht ab. Baab flog im Herbst darauf erneut nach Osten und kam diesmal über Moskau in den umkämpften Donbass und auf die Krim. Während seines Aufenthalts brachte ein Nachrichtenportal die Falschmeldung, Baab sei als internationaler Wahlbeobachter bei den Referenden im Donbass aufgetreten. Baab hatte das zuvor bei einer telefonischen Rückfrage ausdrücklich dementiert – es half nichts, er wurde öffentlich als kremlnaher Unterstützer der Abstimmungen wie der Annexionspolitik gebrandmarkt. Tatsächlich hatte der Journalist Baab dort weiter für sein geplantes Buch recherchiert und in diesem Zusammenhang lediglich an zwei Pressekonferenzen teilgenommen. Bald darauf entzog ihm die Universität Kiel einen bestehenden Lehrauftrag für Journalistenausbildung und bezog sich dabei auf die Fehldarstellung jenes Nachrichtenportals. Baab klagte und bekam vor dem Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein Recht, die Universität legte kein Rechtsmittel ein, so dass das Urteil vom 25.4.23 rechtskräftig wurde. In ihm lautet die Schlüsselstelle:
Der umfassende Schutz der Pressefreiheit beinhaltet ... alle Verhaltensweisen, die der Gewinnung, Aufbereitung und Verbreitung von Meinungen und Tatsachen für die Öffentlichkeit dienen. Trägern der Pressefreiheit steht zudem ein subjektives Abwehrrecht auch gegen mittelbare Beeinträchtigungen zu. Das Verhalten des Klägers fällt in diesen Schutzbereich, weil er während der Zeit der Referenden in die Ostukraine reiste, als Journalist für ein Buchprojekt recherchierte und - zumindest auch - als Journalist auftrat.
Das Buch erschien 2023 und erreichte im Frühjahr 2024 bereits seine 4. Auflage. Es enthält neben den Impressionen von zwei Reisen vor allem viel Material über Geschichte und Ökonomie der Ukraine, über Staat und Gesellschaft. Dieser Anteil überwiegt sogar, nicht nur quantitativ. Zusammen mit den Quellenangaben – Zugriff auf insgesamt 618 Anmerkungen über eine Verlags-Internetadresse – stellt er geradezu ein Archiv dar, das man auch nach Abschluss der Lektüre immer wieder benutzen kann. Unter den Quellen befindet sich ein hoher Anteil aus englischsprachigen Publikationen. Die Perspektive des Autors als Berichterstatter wechselt häufig vom Beobachteten zum Hintergrundmaterial und umgekehrt. So versucht er, jeweils eine Gesamtschau zu vermitteln.
Der Autor sieht sich in der Nachfolge von Journalisten, die vor ihm andere Schlachtfelder bereist und darüber berichtet hatten: Peter Scholl-Latour, Egon Erwin Kisch, Martha Gellhorn. Er beruft sich auch auf Gerd Ruge, der 1991 vor Ort zum Putsch in Moskau damals recherchierte. Baab hat es wie sie gehalten, er ist im Krisen- und Kriegsgebiet und im Hinterland gereist, hat Eindrücke notiert, Gespräche mit Soldaten und Zivilisten geführt – und sich sehr gründlich über Vorgeschichte und Hintergründe informiert. So kann er ein viel vollständigeres Bild liefern als das, das uns gewöhnlich zur Verfügung steht. Er übt gewiss auch scharfe Kritik an Politik und Strategie aller Beteiligter und seine Prognosen sind desillusionierend, zum Teil düster. Doch durchgehend vermischt er dabei nicht die Nachricht, die Information mit der Meinung, der Schlussfolgerung – guter Journalismus alter Schule.
Dies ist eines der seltenen Bücher, bei dem der Verfasser dieser Zeilen sich außerstande sieht, eine regelrechte Rezension abzuliefern. Zu dicht ist das Gewebe des Textes wie Stoffes, zu aktuell und noch zu sehr in unabsehbarer Entwicklung begriffen sein Gegenstand, der Krieg. Dass er unser aller beherrschendes Thema jetzt ist, wir sollten es an keinem Tag verdrängen.
(ISBN: 978-3-946778-41-7)