'Im wechselnden Licht der Jahre' - Seiten 187 - 249

  • Ich bin inzwischen überhaupt nicht mehr sicher, ob ich in der LR etwas schreiben sollte - oder ob ich das Buch überhaupt richtig verstanden habe.


    Maarten , ich bewundere Deine Interpretationen. Ich schätze, da würde ich auch mit viel Überlegen nicht drauf kommen. (Allerdings: ich habe schon in der Schule im Deutschunterricht Interpretationen vielleicht nicht gerade gehaßt, aber - oder, wenn ich recht nachdenke, ich habe sie gehaßt und sie haben mir sogar Bücher, die mir eigentlich gefallen hätten, verleidet).



    als hätte man einfach lieber einen Fitzek gelesen.

    Wenn auf dem Buchcover Fitzek (oder ein anderer "einschlägiger" Thrillerautor steht), fasse ich das Buch in der Regel nicht mal an, weil ich weiß, daß ich das nicht lesen will.



    dass es tatsächlich irritieren kann, wenn stattdessen hier darüber diskutiert wird, was nicht in diesem Roman steht.

    Ich hatte am Wochenende (offline) ein Post begonnen, das eigentlich im "Fragen-Thread" antworten sollte; ich hänge es jetzt hier an, weil es zu deiner zitierten Bemerkung paßt:

    Es spielt unterm Strich überhaupt keine Rolle, was Tabea während dieser zehn Jahre genau gemacht hat; (...) Es spielt dramaturgisch keine Rolle, es hat auch keine ausschlaggebende Persönlichkeitsveränderung gegeben, aber sie ist nach zehn Jahren zurückgekommen. Die drängende Frage nach den genauen Hintergründen entzaubert das.

    Es stimmt absolut, daß dieses „Loch“ von zehn Jahren dramaturgisch überhaupt keine Rolle spielt. Aber - so habe ich es empfunden - durch die Art, wie Tabea (mit verheultem Gesicht) wieder aufgetaucht ist, hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, daß mir irgendeine Information fehlt. Hätte Sie Alex mit einem Satz wie etwa „Habe ich dich endlich gefunden“ begrüßt, hätte das für mich impliziert, daß sie ihn schon länger gesucht hat, seit sie von ihren Eltern weg durfte, und ihn nun endlich gefunden hat. Da wären die zehn Jahre für mich kein Thema (kein „Loch“) mehr gewesen, aber so hatte ich das Gefühl, als ob diese zehn Jahre wie ein schwarzes Loch sind. Schwarze Löcher sind faszinierende Erscheinungen, ich lese da immer mal darüber. Allerdings beschäftigen sich diese Bücher dann entweder mit Astronomie oder werden der Science Fiction zugerechnet.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich bin inzwischen überhaupt nicht mehr sicher, ob ich in der LR etwas schreiben sollte - oder ob ich das Buch überhaupt richtig verstanden habe.


    Maarten , ich bewundere Deine Interpretationen. Ich schätze, da würde ich auch mit viel Überlegen nicht drauf kommen. (Allerdings: ich habe schon in der Schule im Deutschunterricht Interpretationen vielleicht nicht gerade gehaßt, aber - oder, wenn ich recht nachdenke, ich habe sie gehaßt und sie haben mir sogar Bücher, die mir eigentlich gefallen hätten, verleidet).

    Ich habe Deutschunterricht - insbesondere Interpretation - richtig gehasst, es geradezu als traumatisch empfunden. Ich weiß nicht ob das heutzutage noch so gemacht wird, aber mich hat insbesondere diese Behauptung irritiert, es gäbe ein 'richtig' beim Lesen eines Buches. Aus meiner Sicht ist das grober Unfug und ich habe mich wegen meinem damaligen Deutschunterricht und den Interpretationen dort, die ich als an den Haaren herbeigezogen empfunden habe, Jahrzehnte geweigert, überhaupt zu vermuten, dass in einem Text mehr stecken kann, als die vordergründige Handlung.


    Statt einem 'Richtig verstehen' scheint es mir eher ein unterschiedlich tiefes Eintauchen in ein Buch zu geben, was letzten Endes eine sehr persönliche Sache ist. Dieses Herauspressen von Interpretationen im Deutschunterricht scheint mir eigentlich nur destruktiv zu sein. Was ich oben geschrieben habe, sehe ich entsprechend auch nicht als ein 'Interpretieren' an, sondern eher eine Beschreibung, wie ich den Text beim erneuten Lesen erlebe.

    Und wie gesagt: Ich denke nichts von dem oben beim Lesen... wollte lediglich verdeutlichen, dass dieses Buch viel mitbringt um tief eintauchen zu können.

    Und Deine Beiträge hier in der Leserunde finde ich sehr lesenswert.

  • Tom und Maarten Danke! So, wie die Diskussionen in den Threads gelaufen sind, war ich mir wirklich unsicher geworden.


    Ich habe Deutschunterricht - insbesondere Interpretation - richtig gehasst, es geradezu als traumatisch empfunden.

    :write Ich entsinne mich, daß wir von Alfred Andersch "Sansibar oder der letzte Grund lesen" mußten. Ans Buch habe ich keine Erinnerung mehr, an meine Reaktion schon: das Buch hätte mir eigentlich ganz gut gefallen, aber die dauernde "interpretiererei" hat mich dermaßen geärgert, daß mir jede Freude und jedes Interesse verleidet wurde. Noch krasser war es bei "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin. Da habe ich mich (als einziger in der Klasse) schlicht geweigert, das auszulesen. Meine Meinung zu dem Buch kann ich auch in einem öffentlichen Forum nicht kund tun. Jedenfalls habe ich seither eine Aversion gegen moderne Literatur. Wie ich es allerdings geschafft habe, im Jahreszeugnis in Deutsch eine "1" zu erhalten, weiß ich nicht mehr (ist auch schon über 45 Jahre her).



    Statt einem 'Richtig verstehen' scheint es mir eher ein unterschiedlich tiefes Eintauchen in ein Buch zu geben, was letzten Endes eine sehr persönliche Sache ist.

    :write Das habe ich schon öfters festgestellt, daß viele Bücher auf mich ganz anders wirken als auf die meisten anderen Leser.


    Theoretisch hätte auch dieses Gefühl beabsichtigt sein können.

    :grin Stimmt - dann hättest Du das Ziel mit voller Punktzahl erreich. ;-)

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich muss nun doch noch etwas zu dieser Zehn-Jahre-Lücke schreiben.


    Also. Wir erleben zwei fast erwachsene, sehr reife Jugendliche bei ihrer ersten großen Liebe, bei einer wirklich extrem großen ersten Liebe, die zugleich ein bewusst eingegangenes Risiko darstellt. Tabea weiß, dass sie gehen wird, dass sie gehen muss, aber sie fühlt sich Alex so zugetan, dass sie das in Kauf nimmt und also den ersten Schritt macht, während sie vorher auch die reizvollsten Offerten abgelehnt hat. Die folgenden Wochen werden für die beiden sensationell, einmalig, stellen alles Vergleichbare in den Schatten. Dann geht sie, und sie bricht den Kontakt ab, weil sie weiß, dass sie für Jahre fort sein wird (ihr Vater erklärt das Alex), und dass es wenig Sinn haben wird, eine Brief-Fernbeziehung zu führen. Dass das ein Martyrium wäre, das man keinem knapp Zwanzigjährigen abverlangen könnte, und sich selbst auch nicht.


    Alex bleibt zurück, und er versteht, dass es richtig so ist, wie Tabea das entschieden hat, kommt aber nicht darüber hinweg. Er lebt zwar nicht im Zölibat, aber er lässt auch niemanden wirklich nahe an sich heran. Er sucht Ablenkung, und er blüht im "katapult" auf, wo ihm sozusagen nicht die geringste Gefahr dabei droht, das Leben ein bisschen zu feiern. Doch das Gefühl, "Tabea und Alex" zu betrügen, diese Singularität zu hintergehen, das geht nicht weg. Es geht nie weg, eher im Gegenteil. Es ist wie Bleisohlen in den Schuhen. Alles, was kommen könnte, könnte höchstens das Zweitbeste sein, und das ist für ihn nicht reizvoll genug.


    Und dann kommt sie zurück. Sie steht heulend vor seiner Tür. Und sie nimmt ihm sofort das Versprechen ab, dass er sie nie wieder gehen lässt. Es ging ihr, Achtung, offenbar ganz genau wie ihm.


    So, und wo genau ist jetzt die dramaturgische Lücke? :gruebel

  • Als schon 20 hatte ich die beiden nicht empfunden. Mir war nicht einmal klar, ob Tabea bis zum Abi in Alexanders Schule geblieben war.

    Ich habe hier einen fast 20jährigen Teenager im Haus, und weder mein Kind noch der Großteil der Klassenkameraden kommt mir erwachsen vor. Die Beziehungen in dem Alter wirken für mich immer noch schwärmerisch und nicht so ernst, schließlich trennen sich für viele die Wege durch Ausbildung, Studium o.ä. In der Zeit zwischen 20 und 30 machen die meisten noch eine riesige Entwicklung durch, so dass in meinen Augen die frischgebackenen Abiturienten noch Kinder sind. Für mich ist so eine Schülerliebe, die eine zehnjährige kontaktlose Trennung überdauert, unrealistisch. Die Erinnerungen werden da gerne verklärt.


    Und wie SiCollier schon angemerkt hat: Eine weinende Frau nach zehn Jahren vor der Tür ist meistens eher der Ausgangspunkt einer Geschichte, nicht etwas, über das kommentarlos hinweggegangen wird.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Für mich ist so eine Schülerliebe, die eine zehnjährige kontaktlose Trennung überdauert, unrealistisch. Die Erinnerungen werden da gerne verklärt.

    Das mag ja sein, aber es spielt für diese Geschichte keine Rolle. Statistisch gesehen mag es sehr unwahrscheinlich sein, dass es das gibt. In dieser Geschichte ist es aber so.
    Die beiden sind 10 Jahre auseinander, es kommt der Punkt, dass sie nach den 10 Jahren wieder zusammen sind, wir wechseln in die Gegenwart und sie sind immer noch zusammen und glücklich.

    Und wie SiCollier schon angemerkt hat: Eine weinende Frau nach zehn Jahren vor der Tür ist meistens eher der Ausgangspunkt einer Geschichte, nicht etwas, über das kommentarlos hinweggegangen wird.

    Das darüber hinweggegangen wird, ist der Kommentar.


    Edit:

    Diese Geschichte ist in dieser Hinsicht ja der Gegenentwurf zu 'Freitags bei Paolo':
    Dort die junge große Liebe ab dem ersten Moment und dadurch später die - aus meiner Sicht falsche - Einsicht, dass es trotz aller Harmonie wegen nachlassender Leidenschaft Zeit ist sich zu trennen.


    Hier hingegen die junge große Liebe mit anschließend 10 Jahren Trennung, die für beide Seiten sehr deutlich macht, dass sich das nicht mit anderen wiederholt

    I never predict anything, and I never will. (Paul Gascoigne)

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  • Für mich ist so eine Schülerliebe, die eine zehnjährige kontaktlose Trennung überdauert, unrealistisch. Die Erinnerungen werden da gerne verklärt.

    Für Dich. Das ist okay.


    Für mich nicht. Das ist natürlich nicht evident, weil persönliche Erfahrungen nie evident sind, aber ich hab's gesehen und erlebt.


    Und ich möchte gegenfragen, warum Du meinst, dass das unrealistisch ist. Sind die Gefühle von Heranwachsenden oder noch nicht ausgewachsenen Menschen grundsätzlich weniger nachhaltig? Ist das wirklich auszuschließen, dass es Leute gibt, die schon mit achtzehn oder so derjenigen Person begegnen, die ihr Leben ausfüllen könnte wie niemand sonst?


    Und, mit Verlaub - die "Schülerliebe" überdauert da nicht. ;)

  • ;) Wäre nur noch zu klären, warum Tabea geweint hat. War ihre Angst so groß, dass er sie nicht mehr will? :/


    Im Grunde wollen wir doch nur dieser Persönlichkeit näher kommen, die für Alex am Rande seines befürchteten Greisenalters die fundamental wichtigste Person ist.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • ;) Wäre nur noch zu klären, warum Tabea geweint hat. War ihre Angst so groß, dass er sie nicht mehr will? :/


    Im Grunde wollen wir doch nur dieser Persönlichkeit näher kommen, die für Alex am Rande seines befürchteten Greisenalters die fundamental wichtigste Person ist.

    Warum sie weint? Ich wüsste da verschiedene Gründe. Manchmal weint man aus Freude und Glück, das trifft vermutlich zu dem Zeitpunkt nicht zu. Die Angst, Alex will nichts mehr von ihr wissen, ist glücklich verheiratet, alles mögliche. Dazu die evtl. anstrengende Reise und Erschöpfung, die Befürchtung alles was sie gewagt hat um zurück zu kommen war umsonst?

    Man muss es nicht erzählt bekommen,für mich hat das sehr plausibel geklungen dass sie weint.

  • Ich habe tatsächlich im Freundeskreis mehrere Paare, die sich schon zu Pfadfinderzeiten kennengelernt, dann geheiratet und eine Familie gegründet haben. Teilweise sind sie noch zusammen, teilweise nicht.


    Aber niemand davon hat eine zehnjährige Trennung erlebt, und das ist der Punkt, den ich für unrealistisch halte. Weil sich die allermeisten Menschen weiterentwickeln, und der damals geliebte Mensch nicht mehr der selbe ist. Ich hab aus Neugier schon mal Verflossene gegoogelt, aber - meiner Meinung nach zum Glück - war ich nie derart verliebt, dass ich noch romantische Gefühle für sie hegen würde.


    Und ja, für mich sind die Gefühle von Teenagern tatsächlich weniger nachhaltig. Dafür ist mein Bild von Teenagern in meinem Umfeld zu sehr von Unselbstständigkeit, Wankelmut und manchmal auch jugendlichem Leichtsinn (manchmal könnte man es auch Dämlichkeit nennen) geprägt.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Breumel Wenn man jetzt genau von dieser großen Liebe schreiben möchte, die meinetwegen eine Anomalie ist.

    Wenn man jetzt genau diese vor Augen hat, sie aber nur der Ausgangspunkt für die Geschichte ist, die dann in der Gegenwart stattfindet.

    Dann ist das doch so genau richtig gemacht, oder?

  • Breumel Wenn man jetzt genau von dieser großen Liebe schreiben möchte, die meinetwegen eine Anomalie ist.

    Wenn man jetzt genau diese vor Augen hat, sie aber nur der Ausgangspunkt für die Geschichte ist, die dann in der Gegenwart stattfindet.

    Dann ist das doch so genau richtig gemacht, oder?

    Kann man so sehen, funktioniert aber halt nicht für jeden. Muss es aber auch nicht.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Ich finde es schade, dass die völlig normale Frage "warum weint sie" hier so ins lächerliche gezogen wird. Klar, es tut nichts zur Geschichte, aber das war an der Stelle auch mein erster Gedanke. Wie vermutlich der meisten Menschen.

    Der Autor hat sich entschieden, darauf nicht einzugehen, aber das heißt doch nicht, dass die Frage nicht von Lesern gestellt werden darf!

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • So, und wo genau ist jetzt die dramaturgische Lücke?

    Tja, so gesehen klingt das logisch. Mein Problem ist, ich wiederhole mich, ist schlicht und einfach der Begriff "heulend". Der impliziert für mich, daß konkret etwas Schlimmes passiert ist (dirket vor ihrer Ankunft, vor dem sie eventuell wegläuft?). Wie früher geschrieben, hätte sie beim Öffnen der Tür einen Satz wie "Habe ich dich endlich gefunden!" gesagt, wäre ich über die Stelle überhaupt nicht gestolpert.



    Ist das wirklich auszuschließen, dass es Leute gibt, die schon mit achtzehn oder so derjenigen Person begegnen, die ihr Leben ausfüllen könnte wie niemand sonst?

    Ähm, wenn es auszuschließen wäre, gäbe es mich nicht. Meine Mutter war 14, als sie meinen Vater kennenlernte; mein Vater starb kurz nach der Goldenen Hochzeit.




    Wenn man jetzt genau von dieser großen Liebe schreiben möchte, die meinetwegen eine Anomalie ist.

    Von mir aus darf es in fiktionalen Romanen (also nicht unbedingt in historischen Romanen) Anomalien und Ungewöhnliches geben, solange es innerhalb der erzählten Geschichte folgerichtig und stimmig ist. Oder anders: für mich muß eine erzählte Geschichte in sich stimmig sein ohne Rücksicht darauf, ob das in Realiter auch so sein könnte - wenn es eben in der Welt des Buches zusammen paßt.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")