'Im wechselnden Licht der Jahre' - Seiten 316 - Ende

  • So sehe ich das auch.

    Hoffentlich gestatteter, fröhlicher Einwurf von der Seitenlinie:

    Das erinnert mich an meinen Vater, der sich stets ein diebisches Vergnügen daraus machte, am Ende eines spannenden eineinhalbstündigen Films, den wir gemeinsam im TV angesehen hatten, und in dem der Protagonist z. B. irgendwann auf dem Weg ins Büro im Kiosk eine Zeitung gekauft hatte, scheinbar erbost zu erklären, der Regisseur habe kläglich versagt, da die Zuschauer nun nie erfahren würden, was aus der alten Frau hinter dem Kiosktresen geworden sei. :lache

  • Eigentlich nicht, aber wenn Du meinst ...

    Nun, ich bin nachtragend, und ich trage Dir nach, dass Du mir im "Ist das Zensur?"-Thread unterstellt hast, ich würde Rassismus verniedlichen. Das habe ich dort ja auch zur Kenntnis gegeben, und das ist ein Umstand, der es mir ganz erheblich erschwert, auf Deine Äußerungen hier einzugehen.

  • Im letzten Abschnitt löst sich dann langsam Eines um das Andere. Und zwar ziemlich viel. Darauf bezog sich meine Bemerkung im vorigen Thread, da konnte ich darauf noch nicht eingehen. Ich bin ein „harter Happy End Fan“ für Bücher und für Filme. Ausnahmen bestätigen die Regel (das hängt vom Inhalt ab - und manchmal ist sogar der Tod das „Happy End“). Hier sind so viele „Lawinen“ (um dabei zu bleiben) abgegangen, die nun eine um die andere aufgelöst und unschädlich gemacht werden, daß es selbst mir fast zu viel, weil fast schon unglaubwürdig, wird.


    Auf S. 317 gibt es eine interessante Betrachtung über den Lauf der Zeit. Ich entsinne mich, vor vielen Jahren über das Thema mit einem Künstler diskutiert zu haben. Und bis heute ist mir dessen Erklärung, weshalb die Zeit im Leben anscheinend unterschiedlich langsam bzw. schnell verläuft, die Einleuchtendste geblieben. Wenn ein Baby, das einen Tag alt ist, den zweiten Tag gelebt hat, hat es seine Lebenszeit verdoppelt. Wenn ein einjähriges Kind ein weiteres Jahr lebt, hat es seine Lebenszeit verdoppelt. Wenn ein Mensch mit vierzig ein weiteres Jahr lebt, hat er seiner Lebenszeit nur ein vierzigstel hinzugefügt. In der Relation zum bisherigen Leben ist ein Jahr also deutlich weniger Lebenszeit als für ein Kleinkind. Mit sechzig entsprechend. Die verfließende Zeit entspricht also anteilmäßig immer weniger in Relation zur bisher gelebten Zeit - und scheint damit immer schneller zu verfliegen, obwohl ein Jahr objektiv immer gleich lang ist.


    Als Big G. wieder auftauchte und Alex sich daran erinnerte, daß er sich vor fast vierzig Jahren bei ihm beworben hatte, hatte ich das Gefühl, als ob ich diese vierzig Jahre selbst mit durchlebt hatte. Will sagen, aus eine fast schon unheimliche Art habe ich das Gefühl, als ob die erzählte Zeit der verflossenen entspricht.


    Sehr zutreffend seine Beschreibung der „Kellertreppe“, die man langsam, Stufe für Stufe, hinabschreitet (S. 329), ich könnte da auch das eine oder andere Beispiel beisteuern. Und ach ja. Fuchsberger, Kulenkampff, Rudi Carrell und natürlich Peter Alexander - die habe ich vor einer halben Ewigkeit auch immer im Fernsehen gesehen - live. Tempi passati.


    Auf den restlichen Seiten des Buches löst sich dann (fast) alles mehr oder weniger in Wohlgefallen auf. Schön fand ich die Entwicklung mit seinen Waschbärbüchern. Er hat also gar nicht „geklaut“, sondern aus (um es so auszudrücken) zwei, drei Motiven eigene Geschichten entwickelt. Da kann der Film ja kommen!


    Tabea erwacht aus dem Koma und wird weitgehend wieder. Ich hatte zwar darauf gehofft, war mir bis zum Ende aber nicht sicher, da ich Tom in der Hinsicht als Autor nicht einschätzen konnte.


    Makabererweise wurden die ganzen Geschehnisse letztlich nur in Gang gesetzt, weil Tabea eine riesen Geburtstagsfeier für Alexander organisieren wollte. Ohne das kein Unfall - und wohl auch kein Buch. ;-)


    Mit ein paar Vermutungen lag ich deutlich falsch, manche Dinge, die mich interessiert hätten (etwa wo Tabea die zehn Jahre war und weshalb sie in diesem Zustand plötzlich aufgetaucht ist), wurden nie wieder erwähnt.


    Ob allerdings der Schlußsatz mit dem Hinweis auf das Aneurysma am Ende noch sein mußte, darüber kann man vermutlich streiten. Meiner Meinung nach hätte er nicht sein müssen, denn es wurde im Verlauf des Buches mehr als deutlich, daß die einzige Sicherheit im Leben die Unsicherheit ist. Und man immer der Tatsache gewärtig sein sollte, daß das Leben zu jeder Zeit zu Ende sein kann.



    PS. Was ich vergessen habe: ich wäre nicht so einfach auf die Forderung von Rafael eingegangen. Nicht nach der Art, wie der sie gestellt hat und durchsetzen wollte.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

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  • "Im wechselnden Licht der Jahre" ist kein Thriller oder Whodunnitkrimi, bei dem es im Kern darum geht, irgendeinen Mörder mit irgendeinem Motiv ausfindig zu machen oder irgendwelche Rätsel zu lösen, sondern eine Geschichte über jemanden, eine Erzählung über einen Mann, dessen Art, dem Leben zu begegnen, auf eine, wie ich finde, recht harte Probe gestellt wird. Es geht um Sorgen und Erwartungen und um Glück, um Werte und, vor allem anderen, die richtige Art, miteinander umzugehen.

    Und es geht darum, sich bewußt zu machen, daß sich das Leben, das man führt, von einem auf den anderen Tag, von einer Sekunde zur anderen, drastisch verändern - und dies sogar das Ende beinhalten kann. Für dieses Bewußtmachen, das ich etwas aus den Augen verloren hatte, bin ich dankbar.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Hallo, SiCollier.


    Als ich so ungefähr bei Seite 330 war, dachte ich eigentlich, dass ich Tabea sterben lassen müsste. Aber davon abgesehen, dass das Buch dann noch mindestens hundert Seiten länger hätte werden müssen, konnte ich den Aufschrei vom Moritzplatz in Kreuzberg, wo die Leute saßen, die das Manuskript bis zu diesem Zeitpunkt schon kannten, bis in den Südwesten Berlins hören (es gab eine Art Petition gegen Tabeas Tod). Eine andere Alternative bestand darin, sie stark verändert aus der Sache hervorgehen zu lassen. Auch das hätte noch weiterer Ausführungen bedurft. Und eigentlich ging es bei diesem Unfall ja in der Hauptsache um das Was-wäre-wenn - und um die Tatsache, dass viele (beispielsweise Alex) sich pausenlos Sorgen machen, und dann hauen einem ganz andere Katastrophen den Boden unter den Füßen weg. Es ging also nicht so sehr um die Katastrophe selbst, sondern um ihre Möglichkeit. Deshalb musste Tabea überleben, nahezu unbeschadet, wobei sie durchaus Monate braucht, um halbwegs wieder auf die Beine zu kommen (jemand merkte an, es wäre zu schnell gegangen, aber tatsächlich gibt es bei solchen Verletzungen keinen typischen Verlauf, und alles ist möglich), denn es sollte nur vor Augen geführt werden, dass es keine Sicherheit gibt, wirklich absolut keine, und dass man das Leben deshalb unaufhörlich umarmen sollte. Das Leben und das Glück und die Menschen, die einem wichtig sind, denn nichts sonst zählt. Auch eine "Karriere" nicht.


    Und das Aneurysma, nunwohl. Thomas Nicolai, "mein" Hörbuchsprecher, war fast ein bisschen stinkig deswegen (aber auf freundliche Art). Mir war das wichtig, noch einen Twist anzudeuten, um das Happy End etwas zu relativieren, und auch wenn das, was da steht, ein Todesurteil für Tabea ist, kann es noch sehr lange für sie weitergehen. Sie kann alle anderen überleben, theoretisch, weil allen anderen auch alles mögliche passieren kann. Und sie sterben sowieso, früher oder später (auch theoretisch; sie sind ja Romanfiguren). Aber da ist nun noch etwas, das sehr wahrscheinlich passieren wird, und über das sich Sorgen zu machen noch weniger Sinn hat. Es ist aber ein guter Grund dafür, das Jetzt noch intensiver zu leben. Möglicherweise sollte jeder Mensch immer so leben, als hätte er ein inoperables Aneurysma im Kopf, das jederzeit eine Ruptur bekommen kann (mit Ausnahme der egoistischen Arschlöcher).


    Deine Ausführungen zur Lebenszeit und -wahrnehmung fand ich spannend, aber ich muss sie noch einmal sacken lassen. Doch es ist unzweifelhaft so, dass unser Gefühl, dass das Leben immer schneller abläuft, in unserer Wahrnehmung verankert ist. Unser Leben wird mit zunehmendem Alter immer stärker von unspektakulärer Routine bestimmt, die nicht in unsere Erinnerungen eindringt, weshalb die Lücken zwischen den guten Erinnerungen immer größere Zeiträume umfassen.

  • .....denn es sollte nur vor Augen geführt werden, dass es keine Sicherheit gibt, wirklich absolut keine, und dass man das Leben deshalb unaufhörlich umarmen sollte. Das Leben und das Glück und die Menschen, die einem wichtig sind, denn nichts sonst zählt. Auch eine "Karriere" nicht....

    Das ist für mich die Kernbotschaft des Buches und dazu war meiner Meinung nach auch das Aneurysma am Ende noch mal wichtig, weil es die Wichtigkeit der Konzentration auf das Leben an sich und es zu genießen, unterstreicht. Ich möchte eigentlich nur noch hinzufügen, dass man denjenigen, die einem am Herzen liegen, nicht oft genug sagen kann, dass man sie liebt.


    Seit 14 Jahren bin ich ehrenamtlich in der Hospizbewegung unterwegs und begleite Menschen am Lebensende aber auch trauernde Angehörige. Seither hat sich meine Wahrnehmung etwas verschoben und zwar sehr deutlich in Richtung Achtsamkeit und das Bewusstsein, was im Leben wirklich wichtig ist, was man nicht versäumen sollte und worauf man nicht so viel Energie verschwenden sollte. Jeden Tag schaffe ich das immer noch nicht, aber ich übe. Wenn Zeit endlich wird, wird sie kostbar und je mehr wir versuchen, sie einzufangen, umso schneller entgleitet sie. Meiner Erfahrung nach hilft es dann, nicht all zu sehr darüber nachzugrübeln, was alles passieren könnte, sondern mehr im Moment zu leben, zu genießen, dass man morgens wach wird und nicht Montags damit zu hadern, dass eine ganze Woche Arbeit vor einem liegt und man nur für das kommende Wochenende lebt. Schwierig aber machbar mit dem richtigen Fokus. Und ich denke, in diesem Buch kommt am Ende genau das heraus.

  • In dem vorhergehenden Leseabschnitt und diesem stehen die vielen Katastrophen, die auf Alex hereinbrechen im Vordergrund. Einige davon sind selbst verschuldet, die schlimmste hingegen nicht.


    Ein wichtiges Thema in diesem und dem vorherigen Leseabschnitt scheint mir der Umgang mit Fehlern zu sein. Fehler haben diese unangenehme Eigenschaft, dass sie über die Zeit immer größer werden können und irgendwann sind sie so groß, dass sie nicht mehr eingefangen werden können. Es gibt vor allem 2 Fehler, die mit der Zeit größer geworden sind


    - Die abgekupferten Romane: Wir sind hier beim letzten Punkt, an dem Alex seinen Fehler noch eingestehen konnte.

    - Die Hetze gegen KK-Mann: Favel ist in der gleichen Situation wie Alex: Auch hier war es der letzte Punkt, an dem er seinen Fehler noch eingestehen konnte.


    Es geht aber auch um das Verzeihen von Fehlern. Monika Westhaus fällt es natürlich schwerer Alex zu verzeihen, als Alex seinem Sohn Favel bzgl KK-Mann. Was auch daran liegt, dass sich für Alex einiges wegen Tabeas Unfall stark relativiert.


    Alex prügelt sich kurz beim Einparken, es ist eine Situation, die typischerweise stark eskalieren kann. aber auch hier können sich beide verzeihen.


    Alex, kann auch sich selbst verzeihen, als er statt bei seinen Kindern oder bei Tabea im Krankenhaus zu sein, mit Big G und reichlich Herrengedecken die Nacht verbringt und sich am nächsten Tag auf die Suche nach alten, schlechten Erinnerungen macht. Und er kann diesen Fehler im Kontext der Situation auch richtig einordnen.


    Diese Fehler sind alle nichts gegen Tabeas Unfall, der aber nicht das Resultat eines Fehlers ist, sondern einer unglücklichen Ballung von Singularitäten. Wir wissen bereits aus dem Prolog was alles zusammenkam und das es ein Unfall ist, bei dem es ein Opfer gibt, aber keinen Schuldigen.


    Einen weiteren Fehler begeht Rafael, indem er nicht versucht das Erbe bei einem gemeinsamen Gespräch zu klären, sondern direkt die Anwaltskeule schwingt. Auch dieser Fehler wird verziehen.


    Wir bekommen auch die Auflösung bzgl. Tabeas angeblicher Misanthropie.
    Tom, da hast Du mich wirklich reingelegt. Ich habe an der Stelle als Tabea diesen Spruch bzgl. der Dummen bringt noch gedacht, was ist denn hier los: Die weiblichen Protagonisten sind bei Tom doch immer die weisen, klugen Menschen die ihre Männer an die Hand nehmen und ihnen zeigen, wie das so funktioniert mit dem Leben. Das kann hier nicht anders sein. Aber Alex hat an der Stelle die Introspektive, er scheint es zu glauben und später wird es immer wieder angedeutet, dieses Schauspieltalent von Tabea.

    Gerade die Stelle nochmal nachgelesen und tatsächlich

    'Du bist also genau genommen eine Misantropin", sagte ich und konnte das Lachen nicht unterdrücken. kann man auch so verstehen, dass Alex Tabea in dem Moment durchschaut hat. Ich habe mich jedenfalls gerne täuschen und hier aufklären lassen. Sehr gelungen...


    All das oben (und noch ein bisschen mehr) passiert in Relation zu Tabeas Unfall quasi nebenbei. All diese Geschehnisse spielen dabei kaum eine Rolle. Jedes dieser Ereignisse hätte ohne Tabeas Unfall ein großes Gewicht gehabt, jetzt passiert es alles gleichzeitig und ist trotzdem nahezu bedeutungslos. Gerade diese Phase in der Alex um Tabea Angst hat, fand ich sehr glaubhaft und packend geschrieben.


    Nach dem weitgehenden Happy-End (und wie viele andere hier, sehe ich das Aneurysma als ein Bewusstmachen der Kostbarkeit jedes Tages an. Tatsächlich ändert sich Tabeas Lebenserwartung dadurch ja nicht wirklich...) gibt es noch diese merkwürdige Currywurst-Szene. Eine Vegetarierein/Veganerin (vermute ich) bekommt einen unbezwingbaren Fressflash oder was ist das? Tom? Musstest Du mit dieser Szene eine verlorene Wette einlösen oder was?

  • Und noch einen:
    Das Gürsel stirbt, spielt eine erstaunlich geringe Rolle bei diesem HappyEnd. Das liegt natürlich auch daran, dass er in der Geschichte kaum auftaucht.

    Aber es ist auch ein Teil des Alterungsprozess:
    Wir verlieren Freunde aus den Augen, das macht nichts, es sind gute Freunde, man kann das jederzeit wieder auffrischen, man trifft sich und es ist wie in alten Zeiten. Bis man Freunde nicht nur aus den Augen verliert.

  • Unser Leben wird mit zunehmendem Alter immer stärker von unspektakulärer Routine bestimmt, die nicht in unsere Erinnerungen eindringt, weshalb die Lücken zwischen den guten Erinnerungen immer größere Zeiträume umfassen.

    Es kommt ein weiterer Effekt hinzu: Wir haben immer mehr bereits erlebt und dieses zum ersten Mal etwas machen und erleben und etwas dazulernen und zum ersten Mal schaffen, wird immer seltener. Das sind ja häufig die guten Erinnerungen.

    (Mal davon abgesehen, dass es sich auch umdreht: Zum ersten Mal etwas nicht mehr schaffen...)

    Edit: Ok, nicht hinzu, wie ich jetzt merke, es ist Teil des Mechanismus, den Du bereits beschrieben hast.

  • Hallo Tom,


    wie gesagt, war ich mir bis zum Ende nicht sicher, wie die Geschichte mit Tabea ausgehen würde. Im Hinblick auf die Grundthematik des Buches wäre ihr Tod mMn aber eigentlich unnötig gewesen. Denn der nötige Denk- und Veränderungsprozeß wurde durch den Unfall angestoßen. Ihr Tod hätte sogar zur völligen Katastrophe führen können - indem Alex „abstürzt“ und die Kinder nicht nur Halbwaisen, sondern am Ende sogar Vollwaisen geworden wären. Das hätte die eigentliche Idee des Buches konterkarieren können, denn dann wäre ja kein Lernprozeß eingetreten.


    Mir fällt da ein vor vielen Jahren gelesenes Buch von Marion Zimmer-Bradley aus der Darkover-Serie ein, in der eine der Figuren stirbt und es darob einen gewaltigen Aufschrei der Leserschaft gab. Die Autorin hat später selbst sinngemäß gesagt, daß sie diesen Tod bereut hat, weil er dramaturgisch nicht notwendig und eigentlich sinnlos war (aus dem Gedächtnis zitiert). So ähnlich hätte ich das hier auch empfunden.


    Aneurysma. Kenne ich aus dem ganz normalen Leben, kam im Bekanntenkreis und in der Verwandtschaft vor. Vermutlich ist mein Schwiegervater an einem geplatzten Aneurysma, ähnlich wie das hier im Buch beschriebene, verstorben. Das würde jedenfalls die plötzlich eingetretene riesige Gehirnblutung, die zu seinem Tod geführt hat, erklären. Und seine Mutter ist einige Jahrzehnte früher vermutlich auch an einem solchen verstorben. Übrigens sind beide über 80 Jahre alt geworden.


    Die Kernaussage des Buches hast Du sehr schön zusammengefaßt:


    Möglicherweise sollte jeder Mensch immer so leben, als hätte er ein inoperables Aneurysma im Kopf, das jederzeit eine Ruptur bekommen kann


    Genau dieses „Mensch, bedenke dein Ende“ hat mir das Buch wieder bewußt gemacht. Und den vor rund fünf Jahren gefaßten Vorsatz, so zu leben, der im Laufe der Jahre bzw. des täglichen Trotts etwas in Vergessenheit geraten ist, wieder ins Gedächtnis gerufen. Denn ich habe ja schon einmal miterlebt, wie schnell sich alles ändern kann. Umfallen - ein paar Stunden Koma - tot.


    Ich denke, daß das Buch genau diese Reaktion beim Leser hervorrufen und das Bewußtsein dafür schärfen kann, daß die einzige Sicherheit im Leben die Unsicherheit ist, so daß man darob das wirklich Wichtige nicht aus den Augen verliert und die Prioritäten richtig setzt.


    Ich hoffe, daß ich auch daran denke, wenn bei mir die „7“ in der Zehnerstelle ansteht, denn die 70 könnte für mich das sein, was die 60 für Alexander war.


    Das für jetzt. Gute Nacht.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Musstest Du mit dieser Szene eine verlorene Wette einlösen oder was?

    8)


    Diese Szene - und das ist die schlimmste Ausrede/Erklärung, die denkbar ist, denn eigentlich erklärt das im Hinblick auf den Text nichts - habe ich in fast identischer Dramaturgie selbst erlebt. Als mir das (indirekt, als Zeuge des Geschehens) passiert ist, stand ich eine ganze Weile ziemlich erschüttert da, während sich der Imbissbudenmensch schon wieder anderen Kunden gewidmet hat, und konnte den Anblick dieser Frau nicht loswerden, das knautschige Gesicht mit Ketchup beschmiert, aber auch ihren wütend-verzweifelten Blick, als sie mit der Pappe nach dem Imbissmenschen geworfen hat. Scheiße, habe ich da gedacht, nicht dass Dir sowas auch passiert, wenn Du über das Bisschen organische Material in Deinem Schädel allmählich die Kontrolle verlierst. Und deshalb ist es im Buch gelandet. Ich fand die Episode einfach sehr bemerkenswert, und brauchbar, weil sie einen Aspekt des Älterwerdens beleuchtet.

  • Tom ach du Sch.... :huh:
    Man kann mit vielen Dingen des Altwerdens eigentlich ganz gut umzugehen lernen. Schlechtes Sehen und Hören, Laufen, nach Wechselgeld an der Kasse kramen und anderen Dingen, die man mal konnte aber im Alter immer weniger gut kann. Dement werden und das selbst nicht mehr mitkriegen, wie man sich benimmt und seine Umwelt mit Ausfallerscheinungen erschreckt, ist eins der wenigen Dinge, wovor ich ernsthaft Angst habe, wenn ich ans Altwerden denke. Alles andere hoffe ich, wenn es auftritt, irgendwie kompensieren zu können.

  • Idgie Ich will Deine Erwartungen nicht enttäuschen, aber es wird Dir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gelingen, "alles andere" irgendwie zu kompensieren. Gegen die Verlangsamung der Reaktionen etwa ist überhaupt kein Kraut gewachsen, gegen den Abbau von Muskelmasse, Knochenstabilität u.v.a.m., und selbst die Dinge, denen man mit Hilfsmitteln begegnen kann, wie das allmähliche Nachlassen primärer Sinne, lassen sich nicht vollständig und nicht immer ausgleichen, und irgendwann überhaupt nicht mehr. Es ist, wie es ist, nämlich die Kellertreppe, von der Guido im neuen "katapult" spricht. Die Zeitspanne, in der das stattfindet, ist natürlich bei jedem anders, und manch eine oder einer stirbt vorher an irgendwas, ohne überhaupt in sie einzutreten. Aber wer recht alt wird, muss damit rechnen, dass die Welt täglich kleiner, leiser, unschärfer, schwerer, kühler und dunkler wird, in möglicherweise nicht allzu großen, aber definitiv irreversiblen Schritten. Isso.


    Das aber heißt nicht, dass man nicht noch eine Menge Spaß am Leben haben kann.

  • Tom , mit Kompensieren meine ich ja nicht, dass ich das aufhalten oder ausgleichen kann und so weiterlebe, als ob ich noch 20, 30 oder 40 wäre. Aber ich hoffe, dass ich damit leben lerne und manchen Dingen nicht so viel Raum einräume, dass sie mein Leben total bestimmen. Das wäre ziemlich deprimierend und vermutlich lebensverkürzend, wenn ich meinen Alltag im Fokus darauf verbringe, was ich nicht mehr kann. Es ist zumindest zum Teil eine Frage der inneren Einstellung. Ich kann heulen und hadern über Fähigkeiten, die mir abhanden gekommen sind oder ich kann mich darauf konzentrieren, was mein Leben schön und lebenswert für mich macht und einfach beschließen, vordringlich glücklich zu sein. Denn sicher ist, dass es keinen Deut ändert, dass ich bestimmte Dinge nicht mehr kann, wenn ich nur darauf blicke.

    Das ist meiner Meinung nach nicht mal allein so ein Alt-werden-Ding, es betrifft viele auch junge Menschen, die zum Beispiel sehr krank werden, oder nach einem Unfall im Rollstuhl landen. Da entscheidet sich auch irgendwann, welchen Weg man gehen möchte. Manch einer hat keinen Lebensmut mehr, aber andere schauen, wie ihr Alltag mit Einschränkungen trotzdem erfüllend werden kann. Darauf hoffe ich, aber das klappt nur, wenn ich noch in diese Richtung zu denken und zu entscheiden in der Lage bin. Deshalb wäre es für mich sehr schwer, wenn ich an einer Demenz erkranken würde. Irgendwann in fortgeschrittenem Stadium wäre ich natürlich auch dann nicht mehr in der Lage das zu reflektieren, aber das geht nicht von heute auf morgen. Mitzukriegen, dass mein Geist und alles was mich ausmacht sich verabschiedet, stelle ich mir sehr grausam vor.

  • Deshalb wäre es für mich sehr schwer, wenn ich an einer Demenz erkranken würde. Irgendwann in fortgeschrittenem Stadium wäre ich natürlich auch dann nicht mehr in der Lage das zu reflektieren, aber das geht nicht von heute auf morgen. Mitzukriegen, dass mein Geist und alles was mich ausmacht sich verabschiedet, stelle ich mir sehr grausam vor.

    Das Problem daran ist, dass man es ja selbst kaum merkt, dass man vieles vergisst und nicht mehr weiß. Manchmal ist es auch ganz normal, ein Zeichen von Überlastung, dass man schusslig ist, vergessen hat wo der Hausschlüssel oder das Portemonnaie ist. Schlimm wird es erst, wenn man seine Kinder nicht mehr erkennt, seinen Weg nach Hause nicht mehr findet und ähnliches mehr.

    Das Alt werden an sich ist ja eine spannende Sache. Man wir entweder schneller ungeduldig mit seinen Mitmenschen, weil einen ihr Unvermögen nervt, andere Sachen wiederum kann man altersweise belächeln oder entspannt abwarten.

    So lange man eben keine sehr schlimmen Erkrankungen oder Einschränkungen hat, lässt es sich, zwar nicht mehr auf der Überholspur, aber doch auf dem Mittelstreifen ganz gut fahren.

    Gut, mein Augenarzt hat zwar gemeint, ich hätte einen beginnenden Grauen Star, aber das lässt sich operativ gut behandeln, also sehe ich meiner Lesetätigkeit noch gelassen entgegen.

  • Das Problem daran ist, dass man es ja selbst kaum merkt, dass man vieles vergisst und nicht mehr weiß.

    Kann passieren, aber es kommt bei bestimmten Demenzerkrankungen auch vor, dass man zu Beginn merkt, was mit einem passiert. Ich habe in meinem Umfeld einen sehr traurigen Fall gehabt, bei dem der Patient sich der Tatsache bewusst war und auch die niederschmetternde Diagnose verstanden hat. Das nicht mehr Erkennen von Familienmitgliedern kam Jahre später und dazwischen war es für die Familie sehr schwer auszuhalten. Verallgemeinern kann man den Verlauf aber sicher nicht.

    Grauer Star ist sehr gut behandelbar. ;-)