Lisa Graf: Dallmayr. Das Erbe einer Dynastie. Roman (Band 3), München 2023, Penguin Verlag / Random House Verlagsgruppe, ISBN 978-3-328-60224-8, Klappenbroschur, 494 Seiten, Format: 13,6 x 4,3 x 20,6 cm, Buch: EUR 16,00 (D), EUR 16,50 (A), Kindle: EUR 12,99, auch als Hörbuch verfügbar.
„Mensch, Gregor, mach doch die Augen auf! Erst die Juden, dann die Linken, und wer kommt als Nächstes? Die Linkshänder vielleicht oder die Kurzsichtigen? Alle Brillenträger?“ (Seite 150)
Teil 3 der Dallmayr-Saga rund um die Familie Randlkofer schildert die Jahre von 1933 bis 1945.
- Therese, die umtriebige Dallmayr-Chefin, die wir Leser:innen aus den vorangegangenen Bänden kennen, ist vor ein paar Jahren verstorben. Jetzt ist ihr jüngster Sohn Paul am Ruder. Der hat eine tüchtige Ehefrau, Lotte, die’s gut mit den Kunden kann und den Laden im Griff hat. Das passt schon. Wenn nur Sohn GregorInteresse am Kaufmännischen hätte! Aber der tendiert eher in Richtung Pilot oder Flugzeugingenieur.
- Hermann Randlkofer, Pauls älterer Bruder, lebt mit seiner spanischen Frau Sonia und der erwachsenen Tochter Johanna, einer Tierärztin, auf dem Goldachhof. Sohn Johann ist Priester geworden, was der Familie nicht gefällt. Aber er ist erwachsen. – Auch Hermann Randlkofers Lebensentwurf passt. In seiner zögerlichen Art wäre er als Dallmayr-Chef kein guter Nachfolger für die Mutter geworden. Sie war eine mutige Visionärin, was er nie nachvollziehen konnte.
- +Elsa, Pauls und Hermanns Schwester, die wir als verwöhntes Prinzesschen kennengelernt haben, ist mit ihrem russisch-jüdischen Ehemann Alexej nach Palästina ausgewandert, wo sie als hoch angesehene Anwältin, Lehrerin und Organisatorin im Kibbuz Degania herumwirbelt.
- Randlkofer-Halbschwester Balbina lebt immer noch am Bodensee und betreibt mit ihrem Mann ein Hotel. Tochter Marie, ein rastloser Geist, reist als Journalistin durch die Welt.
- Auch die Nebenfiguren aus Band 1 und 2 spielen eine Rolle: Ex-Dallmayr-Lehrling Ludwig Loibl ist ein erfolgreicher Chocolatier und lebt mit seiner französischen Frau in der Schweiz. Seine Schwester Lilly hat den Münchner Gastronomen Julius Krug geheiratet. Beide sind engagierte Sozialisten, genau wie ihre Tochter Ursula, genannt „die rote Ursi“. Warum sie in Band 3 als Ursula Loibl geführt wird, ist mir ein Rätsel. Sie müsste eigentlich den Nachnamen ihres Vaters tragen: Krug. Aber gut.
Dallmayr-Kaffee: eine geniale Idee!
Auch Paul hat für sein Geschäft Visionen. Er will eine eigene Kaffeerösterei. Dallmayr-Kaffee, das wär’s! Also fährt er mit Lotte nach Bremen und wirbt dort den erst 19jährigen Kaffeeröster Fiete „Fritz“ Wünsche an.
Das mit dem Kaffee wird der Hit, nur das Timing ist suboptimal. Die Nazis mit ihren Schikanen für Nicht-Parteimitglieder wie Paul, Krieg und Rationierung … das alles hatten die Randlkofers nicht auf dem Schirm. Und dann bringt Sohn Gregor auch noch die Anwaltstochter Selma Böhm als Freundin daher, die in diesem Land bald ihres Lebens nicht mehr sicher ist. Aus Gründen.
Was der Krieg mit Zivilisten macht
Jetzt erfahren wir, was die einzelnen Familien und Gruppierungen von 1933 bis 1945 erleben. Es dreht sich schon auch um das Delikatessengeschäft Dallmayr, aber noch ein bisschen mehr darum, was der Krieg für Zivilisten bedeutet.
- Paul Randlkofer bekommt Probleme, weil er sich weigert, in die Partei einzutreten. Ihm wird praktisch die Geschäftsgrundlage entzogen. Wenn er keine Ware mehr importieren kann und mit Bürokratie zugeschüttet wird, ist es mit dem Delikatessengeschäft bald vorbei.
- Sein Sohn Gregor versucht, der Familie seiner Freundin Selma beizustehen und sie zum Verlassen des Landes zu bewegen. Selma würde ja, aber ihr Vater ist ein sturer Hund.
- Johann Randlkofer, der Priester, erlebt die Kriegsjahre an der Seite von Pfarrer Rupert Mayer im katholischen Widerstand.
- Die Journalistin Marie Krüger (?), Balbinas Tochter, verzweifelt an ihrer Arbeit, die mit Pressefreiheit rein gar nichts mehr zu tun hat.
- Anhand der Familie Krug (Ursi, Lilly, Julius), sehen wir, wie sich die Lage für die (sozialistische) Arbeiterschaft verschlechtert.
- Und in Palästina versuchen Alexej und Elsa so viele Jüdinnen und Juden aus Deutschland herauszubekommen wie irgend möglich. Dazu braucht’s nicht nur Mut und gute Kontakte, sondern auch eine Menge Geld …
Viele Personen, viele Schicksale
Das ist ein buntes Schicksals-Kaleidoskop, und wenn es schon eine Weile her ist, dass man die Vorgängerbände gelesen hat, braucht’s ein bisschen, bis man wieder weiß, wer wer ist und wer welche Agenda oder Probleme hat. Da wäre ein Personenverzeichnis hilfreich gewesen.
Immer wieder habe ich mich dabei ertappt, nach historischen Persönlichkeiten und Ereignissen zu googeln. Nach dem Leben und Wirken von Pfarrer Rupert Mayer, zum Beispiel, und nach Fritz, dem Kaffee-Experten. Der wollte ja immer reisen. Und ich wollte wissen, ob er tatsächlich mal nach Äthiopien gekommen ist. Das ist interessant, aber wenn man das Buch auf diese Weise liest, dauert’s natürlich länger.
Ungefähr nach der Hälfte des Bandes hatte ich langsam genug von den Kriegsgeschichten, jetzt hätte mich der Wiederaufbau mehr interessiert. Während das Kapitel „1933“ rund 200 Seiten umfasst, ging’s ab 1934 im Zeitraffer durch die Kriegsjahre. Mir war das sehr recht, sonst wär’s vermutlich zäh geworden. Gregors Fliegerg’schichten habe ich, pardon, nur so überflogen. Gegen Schluss ist auch wieder verstärkt vom Kaffee und dem Delikatessengeschäft die Rede und die Story bekommt mehr Tempo.
Bohnenkaffee als Politikum
Bohnenkaffee als Politikum … so hatte ich das noch nie gesehen. Und ich habe auch noch nie zuvor einen Dallmayr-Kaffee daheim gehabt. Jetzt schon. Es bleibt ein bisschen was hängen, wenn man so eine Familiensaga gelesen hat. Auf einmal fühle ich mich dem Unternehmen, das ich bisher hauptsächlich aus dem Werbefernsehen kannte, auf seltsame Weise verbunden.
Mir war von Anfang an klar, dass das keine Biographie ist, sondern ein Roman. Was ich trotzdem gerne gewusst hätte: Was real und was fiktional ist. Dass Balbina und ihre Familie fiktive Figuren sind, war von Band 1 an klar. Elsa Randlkofer gab’s anscheinend wirklich – da war ich anfangs nicht sicher –, aber ob sie tatsächlich Anwältin war und in Palästina gelebt hat? Darüber schweigt sich Google aus.
Im Gedächtnis bleiben wird mir vermutlich die rote Ursi mit ihrem Aufbegehren gegen die (politische) Gleichmacherei. Wir sind und wir leben alle unterschiedlich, warum also sollten wir alle dasselbe denken müssen? Mit Recht sieht diese einfache Gastwirtstochter das als Anfang vom Ende – und vertritt mit dieser vernünftigen Ansicht auf einmal eine lebensgefährliche Außenseitermeinung. Und das ist erschreckend.
Die Autorin
Lisa Graf ist in Passau geboren. Nach Stationen in München und Südspanien schlägt sie gerade Wurzeln im Berchtesgadener Land. Als Hobbybäckerin hat sie eine Schwäche für Trüffelpralinen und liebt Zitronensorbet mit Champagner.
ASIN/ISBN: 3328602240 |