Wahrscheinlich hat jeder von uns schon mindestens einmal im Leben beherzt und unangemessen laut „You can dance, you can jive, having the time of your life“ mitgesungen, wenn auf irgendeiner Party „Dancing Queen“ lief. Die sieben Jahre alte Tochter unserer Nachbarn hört ausschließlich ABBA und ist sogar beim komplizierten „Take A Chance“ textsicher. Während meiner dreieinhalb Jahrzehnte als Discjockey habe ich das eine ums andere Mal nach Songs der schwedischen Band gegriffen, deren Name ein Akronym aus den Vornamen ihrer Mitglieder ist und deren Einfluss auf die Popgeschichte fast an den der Beatles hereinreicht. ABBA sind immer noch Gegenwartskultur, obwohl die Band nur für zehn Jahre bestand. Am 6. April 1974 – also vor ziemlich genau 50 Jahren – wurde sie weltbekannt, als sie mit „Waterloo“ den „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ gewann, der heute als „Eurovision Song Contest“ oder schlicht „ESC“ bekannt ist.
Weil sich die Gruppe so früh aufgelöst hat, sind alle erinnerten Bilder noch frisch und jugendlich; es ist nicht wie bei den Dinosaurierbands, deren Mitglieder seit über 50 Jahren auf der Bühne stehen (oder manchmal sogar sitzen) und in ein bemerkenswertes Faltenkostüm gewandet immer noch dasselbe wie damals tun. Und obwohl ABBA im Jahr 2021 nach vierzig Jahren Pause mit „Voyage“ dann doch noch ein neues Album veröffentlicht haben, hat dieses späte Comeback – alle Bandmitglieder sind inzwischen über siebzig – nichts von der Jugendlichkeit genommen, denn es blieb auch nach diesem Album dabei, dass die letzten Live-Auftritte vor über vier Dekaden stattgefunden haben. In London haben ABBA nach 1978 nie wieder gespielt (und von England gab es seinerzeit beim ESC null Punkte).
Meine Frau und ich verbrachten im Januar einen Abend an der Bar eines Hotels im Spreewald, und in dieser sich nach und nach füllenden, wirklich hübschen Hotelbar wurde die Stimmung immer eigenartiger, denn wie bei einem Flashmob, wie auf Absprache begannen die Leute in dieser Bar irgendwann damit, die Songs mitzusingen, die im Hintergrund liefen. Mal lauter, mal leiser, manchmal nur vereinzelt, dann wieder im Chor, manchmal wurde nur mitgesummt, aber bei „Alt wie ein Baum“ standen einige (überwiegend mehrgewichtige) Männer auf und grölten den Text mit. Und gleich im Anschluss lief „Dancing Queen“. Meine Frau und ich sahen uns etwas überrascht an, als wir bemerkten, dass wir beide den Refrain mitsangen, dann lachten wir. Und anschließend schlug ich vor, nach London zu fliegen und die „ABBA Voyage“-Show anzuschauen, diese 175 Millionen Dollar teure Produktion, die in einem Vorort der Stadt in einer eigens dafür errichteten Halle präsentiert wird, an fünf Tagen in der Woche und am Wochenende zweimal nacheinander. Wir waren beide begeistert von der Idee, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass eine Show, bei der man (vermeintlichen) Hologrammen zusieht, irgendwie gut sein könnte. Ich musste an das Flimmern beim Beamen auf der „Enterprise“ denken – und an Prinzessin Leia, die in einem flackernden, streifigen 3D-Bild um Hilfe bittet. Um es vorwegzunehmen: Damit hat das Erlebnis rein gar nichts zu tun.
Bei ungefähr 100 Pfund (120 Euro) beginnen die Ticketpreise, aber am Freitag- oder Samstagabend kosten gute Plätze fast 180 €, die übrigens jetzt schon für den Herbst kaum noch zu bekommen sind. Dreitausend Leute passen in die Halle, davon ein paar Hundert auf den „Dancefloor“ direkt vor der Bühne, an deren linkem Rand zehn echte, lebendige Musiker tatsächlich alles live spielen, das nicht von den vier Originalmusikern während einer fünfwöchigen Studiosession im Jahr 2022 noch einmal aufgenommen wurde. Das Event sollte eigentlich im April enden, weil der Grund, auf dem die transportable Halle steht – in Stratford, im Nordosten von London – mit Wohnungen bebaut werden soll, aber es geht noch bis mindestens November weiter. Die Produktionskosten wird „ABBA Voyage“ so oder so an diesem Ort nicht einspielen, obwohl die Einnahmen über zwei Millionen Euro pro Woche betragen, doch die Halle ist transportabel, und da die Live-Musiker austauschbar sind, lässt sich das Konzept theoretisch auch vervielfältigen. Ob das geschehen wird, steht aber noch nicht fest.
Bis dahin zieht das ununterbrochen zu fast 100 Prozent ausgelastete Event an fünf Tagen und für sieben Shows pro Woche Leute aus aller Welt an, und Menschen aus allen Altersgruppen, wobei die Besucherinnen in den Vierzigern leicht in der Mehrheit und etwas glitzernder gekleidet sind. Schon eine Dreiviertelstunde vor Beginn, im Foyer der Arena, ist die Stimmung gut, singen kleine Grüppchen bereits ihre ABBA-Lieblingssongs, während Drinks geschlürft und (abscheuliche) Hot Dogs gefuttert werden.
Im Saal verhüllen drei große Leinwände die Bühne; es ist ein Wald zu sehen, in dem Schnee fällt, dazu läuft sphärische Musik, deren Lautstärke in Richtung Konzertbeginn immer mehr zunimmt. Um dreiviertel acht wird angesagt, dass es jetzt losgeht, und dass des Saals verwiesen wird, wer versucht, Bildaufnahmen zu machen (das werden wir im letzten Drittel bei einer Frau auf dem „Dancefloor“ tatsächlich miterleben). Und dann beginnt die Show mit „The Visitors“. Die vier Bandmitglieder steigen aus dem Boden der dreistufigen, breiten Bühne empor, und da ist kein Lichtstreifen, kein Flackern, kein Garnichts. Sie funkeln, sie bewegen sich, sie werfen Schatten, sie unterbrechen das Licht, das von hinten auf sie fällt. Sie sind echt. Und sie sehen aus wie damals. Da scheinen wirklich vier aus der Zeit gefallene Menschen auf der Bühne zu stehen und für uns zu singen und zu spielen.
Hundert Minuten dauert die aufwendige Show, bei der die dreidimensionale Projektion auf der Bühne (tatsächlich ist die Bühne selbst auch eine Projektion – da vorne ist fast nichts von dem, was man sieht, wirklich vorhanden, aber der Effekt ist unglaublich) von atemberaubenden Lichteffekten in der gesamten Halle unterstützt wird. Die verjüngten Bandmitglieder singen, tanzen, sprechen, umarmen sich, wechseln die Kostüme in Rekordzeit und liefern eine Show ab, die mit nichts vergleichbar ist, das ich bislang gesehen habe, und das ist eigentlich eine ganze Menge. Aber es ist nicht nur das. Dieses Gefühl, etwas zu sehen, das es seit fast 40 Jahren eigentlich nicht mehr gibt, ist bewegend und mitreißend, und es geht um mehr als „nur“ um eine technisch perfekt vorgetäuschte Zeitreise. Verblüfft beklatscht man Auftritte, die überhaupt nicht stattfinden, weil die, die man da sieht, einfach nicht da sind, einem aber das Gefühl geben, das dennoch zu sein. Im Gegensatz zu den Fans von anderen Bands, die vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren mal erfolgreich waren und jetzt in immer kleiner werdenden Hallen vor immer weniger alten Menschen spielen, die darauf warten, als Zugabe den einen Megahit von damals von mindestens ebenso alten Leuten vorgespielt zu bekommen, sehen wir etwas, das es nicht mehr gibt und dann doch, und obwohl wir wissen, dass es nicht echt ist, lassen wir das Gefühl zu, es in echt zu erleben. Und das gelingt viel leichter als ich erwartet hatte.
Diese hundert Minuten, die mit „Waterloo“, „Thank You For The Music“, „Dancing Queen” und als vermeintlicher Zugabe „The Winner Takes It All“ enden, sind perfekt inszeniert, wobei der zehnköpfigen, ziemlich großartigen Liveband ein nicht zu unterschätzender Anteil am Gelingen der Illusion zukommt. Und dem Licht – es ist nicht weniger als ein Bombardement aus Licht – und den beweglichen, wirklich schön ausgedachten Effekten, die aus der gesamten Halle eine Bühne machen. Irgendwann steht das Publikum ausnahmslos und feiert frenetisch, und als nach der Zugabe die echten, gealterten (aber natürlich auch nicht anwesenden) Bandmitglieder auf die Bühne kommen und sich bedanken, weinen die beiden Frauen rechts von mir (und sie sind vermutlich nicht die einzigen). Draußen, im Foyer, werden beim Rausgehen oder beim Abschiedsprosecco die Lieder angestimmt, die fehlten, etwa „Super Trouper“ und „Take A Chance“. Ich scrolle durch ein paar Rezensionen, die es nach der Premiere im Februar 2023 gab. Klar, die Setlist hätte man anders gestalten können, das ist etwas, das immer möglich ist (und nie alle befriedigt), und obwohl er mir gefiel, verstehe ich die Leute, die der Animationsfilm in der Konzertmitte irritiert hat, oder die Tatsache, dass bei einem Song „nur“ Videoprojektionen zu sehen waren (dabei war alles nur eine Projektion), aber ich kann dem „Rolling Stone“-Rezensenten nicht zustimmen, der das „Uncanny Valley“-Problem bei den Augen bemängelt, wenn die „Abbatare“ in Vergrößerung zu sehen sind (was aus Spielbergs als Weihnachtsfilm gedachtem „Polar Express“ seinerzeit aus Versehen einen Gruselfilm gemacht hat). Aber Kritik hin oder her – ich fand es nicht weniger als fantastisch, und obwohl ich kein Fan der Band bin oder war (okay, als kleiner Junge war ich ein bisschen in Agnetha verschossen), überlege ich tatsächlich, mir das noch einmal anzuschauen.
(Weil man keine Fotos machen durfte: Das Foto eines Plakats in der Londoner U-Bahn.)